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[716] Als Frau Nebling eintrat, zeigte sie sich über das Vorgefallene nicht im geringsten erstaunt. Sofort, ohne sich mit Bemerkungen oder Fragen aufzuhalten, mit der Geschicklichkeit einer gelernten Hebamme, sorgte sie für alles, was der Augenblick erforderte, und es erwies sich nun, daß sie in jeder Hinsicht auch trefflich vorgesorgt hatte. Ein Arzt erschien, ein freundlicher älterer Herr, auch etwas altmodisch gekleidet, setzte sich an Theresens Bett, nahm, soweit es nötig, seine Untersuchungen vor, gab Verordnungen und Ratschläge und tätschelte beim Abschied Theresens Wangen väterlich und zerstreut.

An diesem ersten Tage und an den nächstfolgenden befand sich Therese in so guter Hut und Pflege, daß es auch einer glücklichen jungen Ehefrau im Wochenbett eines wohlgeordneten Heims nicht besser hätte ergehen können. Frau Nebling selbst aber schien seit der Geburt des Kindes geradezu eine andere geworden. Die früher so schweigsam gewesen, plauderte mit Therese wie eine alte Freundin, und ohne auch nur fragen zu müssen, erfuhr Therese allerlei aus ihrem Leben, unter anderm, daß sie an einer Operettenbühne für ältere Rollen engagiert sei, wo sie zufällig gerade in diesen Wochen unbeschäftigt sei, daß sie dreimal Mutter[716] gewesen war und alle ihre Kinder sich am Leben, jedoch in der Fremde befanden. Ob sie jemals verheiratet gewesen, ob die Kinder alle von demselben Vater stammten, davon sprach sie nichts, so wenig es Theresen einfiel, von dem Vater ihres eigenen Kindes und den Begleitumständen ihres traurigen Abenteuers zu erzählen; und soviel auch von Mutterschaft und Mutterglück die Rede war, von Liebesglück und -leid hatten die beiden Frauen einander so wenig mitzuteilen, als hätten diese Dinge mit Mutterleid und Mutterglück überhaupt nicht das geringste zu tun. Der Arzt erschien noch etliche Male zu eher freundschaftlichen Besuchen; es stellte sich heraus, daß er Theaterarzt war und mit Frau Nebling auf gutem Fuße stand; gelegentlich erzählte er mit einem gewissen trockenen Humor spaßhafte Geschichten aus seiner Welt, Anekdoten, auch Zweideutigkeiten, die ihm Therese nicht übel nahm. Ein anderer Besuch stellte sich gleichfalls öfters ein: der einer jungen Frau, die im gleichen Hause wohnte; die kinderlose Gattin eines kleinen Angestellten, der den ganzen Tag auswärts im Amte war. Sie saß am Bette Theresens und starrte mit feuchten Augen auf den Buben, den die Wöchnerin an der Brust liegen hatte.

Nach einer Woche besann sich Therese, daß es nun wohl an der Zeit sei, sich um die Zukunft zu kümmern, und es zeigte sich, daß Frau Nebling auch in dieser Hinsicht nicht untätig gewesen war. Eines Tages meldete sich eine wohlgenährte ländlich gekleidete Frau, die sich bereit erklärte, das Kind gegen einen verhältnismäßig geringen Monatsbetrag in Pflege zu nehmen. Ihr eigenes Kind, ein achtjähriges Mädchen, Agnes, hatte sie mitgebracht, das vertrauenerweckend rotbäckig aussah und unmerklich schielte. Sie hatte schon öfters Kinder in Pflege gehabt, erzählte sie. Das letzte sei erst kürzlich aus ihrem Hause geschieden, da die Eltern geheiratet und das Kleine zu sich genommen hätten. Dies erwähnte sie freundlich lächelnd, als müßte es auch für Therese als gute Vorbedeutung gelten. Und ein paar Tage darauf saß Therese, ihren Kleinen im Arm, mit Frau Nebling in einem Einspänner, der sie zum Bahnhof führte. Bald, nachdem sie das Haus verlassen, an einer Straßenecke, überquerte ein Fußgänger die Fahrbahn und warf einen zufälligen Blick in den Wagen. Therese hatte sich schon früher vorsichtshalber unter das aufgespannte Dach gelehnt, doch ein Aufleuchten in dem Blick des Fußgängers verriet ihr, daß er sie gesehen und erkannt hatte, gerade so wie sie ihn. Es war Alfred, dem nach so langer Zeit zum[717] erstenmal und unter solchen Umständen zu begegnen, Therese im tiefsten berührte. Ein Zufall, der ihr nicht unangenehm war, hatte es gefugt, daß in der Sekunde vorher Frau Nebling das Kind für eine Weile aus Theresens Armen in die ihren genommen hatte. »Das war er«, sagte Therese, wie vor sich hin, mit einem glücklichen Lächeln. Frau Nebling beugte sich aus dem Wagen, sah nach rückwärts, wandte sich zurück zu Therese: »Der junge Mensch mit dem grauen Hut?« Therese nickte. »Er steht noch immer da«, sagte Frau Nebling bedeutungsvoll. Und jetzt erst war es Theresen klar, daß nach ihrem Ausruf Frau Nebling den jungen Menschen mit dem grauen Hut wohl für den Vater des Kindes halten mußte. Therese klärte sie nicht auf. Es war ihr eigentlich ganz recht so, und in lächelndem Schweigen verharrte sie bis zum Bahnhof.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 716-718.
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