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[718] Nach einer Fahrt von kaum zwei Stunden im Bummelzug waren sie an ihrem Bestimmungsort angelangt. Die Bäuerin, Frau Leutner, erwartete sie an der Station, und zwischen freundlichen, meist noch unbewohnten kleinen Villen wanderten sie langsam durch den Ort, bis ein schmalerer Seitenweg gelinde aufwärts zu einem von blühenden Obstbäumen umstandenen, nicht unansehnlichen Gehöft führte, von dem aus, trotz der geringen Hohe, sich eine ausgebreitete Rundsicht bot. Das Dorf, zugleich eine bescheidene Sommerfrische, lag ihnen zu Füßen, das Bahngeleise lief ins Weite; die Landstraße verlor sich zwischen Hügeln in den Wald. Hinter dem Gehöft zog sich die Wiese bis an einen nahen Steinbruch, dessen oberer Rand von Sträuchern überwachsen war. In einem reinlich gehaltenen, etwas muffig riechenden niederen Raum setzte die Bäuerin ihren Besuchern Milch, Brot und Butter vor, fing gleich an, sich mit Theresens Kind zu beschäftigen, erklärte weitläufig, wie sie es mit der Ernährung und Pflege halten wolle; dann, während Frau Nebling bei dem Kleinen blieb, wies sie Theresen das Haus in allen seinen Räumen, den Garten, den Hühnerhof, die Scheune. Der Bauer, hochaufgeschossen, gebeugten Ganges, mit hängen dem Schnurrbart, kam vom Felde heim, machte nicht viel Worte, betrachtete das Kind mit glasigen Augen, nickte ein paarmal, schüttelte Theresen die Hand und ging wieder. – Agnes, die Achtjährige, kam aus der Schule, schien erfreut,[718] daß wieder ein Kleines im Hause war, nahm es in die Arme, und ihr ganzes Verhalten zeigte, daß auch sie es schon vortrefflich verstand, mit kleinen Kindern umzugehen. Frau Nebling lag indessen auf ihrem Regenmantel unter einem Ahornbaum, der vereinzelt etwas abseits vom Hause stand und an dessen Stamm unter Glas und Rahmen, von einem welken Kranz umgeben, ein Marienbild befestigt war.

Die Stunden flogen dahin; erst als der Augenblick des Scheidens nahte, kam es Theresen zu Bewußtsein, daß sie nun von ihrem Kind fort sollte, fort mußte und daß ein merkwürdiger und bei allen Sorgen schöner Abschnitt ihres Lebens ein für allemal abgeschlossen war. Auf der Heimfahrt sprach sie kein Wort mit Frau Nebling, und als sie ihr Zimmer wieder betrat, in dem sie noch alles an den Buben erinnerte, war ihr kaum anders zumute, als käme sie von einem Begräbnis nach Hause.

Das Erwachen am nächsten Morgen war so traurig, daß sie am liebsten gleich wieder nach Enzbach hinausgefahren wäre. Ein plötzlich einbrechender Regenguß hinderte sie daran; auch am nächsten Tage regnete und stürmte es, und am übernächsten erst konnte sie wieder bei ihrem Kinde sein. Es war mildes Frühlingswetter, man saß im Freien unter einem stillen blaßblauen Himmel, der sich in den Augen des Kindes widerspiegelte. Frau Leutner sprach viel mit Therese, über allerlei häusliche und ländliche Angelegenheiten und allerlei Erfahrungen, die sie im Laufe der Jahre mit ihren Pflegekindern gemacht hatte; der Bauer gesellte sich diesmal für etwas länger zu ihnen, im übrigen verhielt er sich so schweigsam wie das erstemal. Agnes ließ sich nur beim Mittagessen sehen, kümmerte sich heute wenig um das Kind und tollte gleich wieder davon. Therese nahm beruhigter und minder traurig Abschied als das vorige Mal.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 718-719.
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