Zweiter Theil

[1] Vorwärts, nur immer vorwärts! trieb Iwan unaufhörlich, abwechselnd bittend und fluchend, in fieberhafter Rastlosigkeit. Große Staubwolken wirbelten zum Himmel auf, die kleinen zottigen Pferde keuchten in fliegendem Galopp, unter fortwährendem Peitschenknallen der durch unerhörte Trinkgelder zu unerhörten Thaten begeisterten Postillione, vor der leichten Kibitka. So ging es, bei Sonnen- und Mondenschein, bergauf bergab, die langen heißen Tage, die wundervollen lauen Nächte hindurch, bis endlich Moskau erreicht war.

Nur wenn glücklicher Weise einmal am Wagen etwas brach, ein Pferd stürzte, oder die[1] Räder bei der übergroßen Eile in Brand geriethen, nur durch solch einen willkommnen Zufall war es Richard einigemal gelungen, eine kurze Zeit zum Ausruhen zu gewinnen. Doch durfte diese erzwungene Ruhe nie zu lange währen, wenn Iwans krankhafte Ungeduld nicht bis zum Unerträglichen sich steigern sollte. Der Unglückliche glaubte dann in jedem auf ihn zuschreitenden Reisenden den Boten zu sehen, der gesandt sei ihn gewaltsam zurück nach Petersburg zu führen, und brach in so ängstliche herzzerreißende Klagen aus, daß Richard der eigenen Ermüdung darüber gern vergaß, und die Fortsetzung der Reise auf jede Weise zu beschleunigen suchte, aus Furcht, Iwan könne bei längerem Verweilen zurück in seinen vorigen trostlosen Zustand, oder wohl gar in unheilbaren Wahnsinn verfallen.

In unglaublich kurzer Zeit hatten die Reisenden auf diese Weise den weiten Weg bis Moskau[2] zurückgelegt, ohne einen bedeutenden Unfall zu erleiden. Der Anblick der ihm wohlbekannten Plätze und Straßen, der Häuser und Paläste, wirkte beruhigend auf den sonst rastlosen Iwan. Er rief jene genußreiche Zeit ihm zurück, die er bald nach der Trennung vom Vaterlande hier verlebte; hierher war er mit frischen Sinnen, ein mit dem ernsteren Gange des Lebens noch unbekannter Neuling in der Welt, zuerst gekommen; warum, dachte er, sollte er von hier aus, wo er schon auf halbem Wege sich befand, nicht wieder in sein Vaterland zurückgelangen können? Ein wunderlicher Schluß, wie er wohl in einem so tief und so schmerzlich zerrütteten Geiste nur entstehen konnte; aber er besänftigte doch die bis aufs höchste getriebene Spannung seiner Nerven. Iwan fing an sich ermüdet zu fühlen; zum erstenmal seit Petersburg erblickte er im Spiegel seine bis zum Unkenntlichen veränderte Gestalt, und verlangte[3] jetzt selbst sich hier einige Tage zu erholen.

Nein, sprach er: so darf meine Mutter ihren Sohn nicht wieder finden, sie könnte den Tod davon haben! ich halte es hier wohl einige Zeit aus; sehe ich doch schon einzelne Gestalten in der Tracht meines Landes an meinem Fenster vorüber ziehen, schallen doch schon zuweilen einige Töne aus meiner Muttersprache erquicklich zu mir herauf, auch wehen heimathliche Lüfte mich schon an, und ermuthigen mir zum schönsten Hoffen das gesunkene Herz.

Richard trachtete vor allem den Freund in dieser heilsamen Stimmung zu bestärken; er führte, freilich mit großer Auswahl, einige seiner früheren Bekannten ihm zu, um ihm die Zeit zu verkürzen, und hielt sich und seinen Freund für völlig geborgen, als er durch einen glücklichen Zufall einen wohlhabenden in Moskau etablirten Teppichhändler aus Tiflis auffand, der mit seiner[4] Vaterstadt unaufhörlich in Handelsverbindungen stand. Dmitry, so hieß der gute freundliche Mann, schloß jetzt seinen Laden gern ein Stündchen früher als gewöhnlich, um regelmäßig jeden Abend zu seinem Landsmanne zu eilen, und über einer Pfeife ächten türkischen Tabak, von dem geliebten Vaterlande, und auch von Iwans Familie sich mit ihm zu unterhalten, die er früher persönlich gekannt hatte.

Während Iwan auf diese Weise beschäftigt, recht gern in seinem Zimmer blieb, gelassen der Ruhe pflegte, und nur fleißig im Spiegel nachsah, ob er bald im Stande sein würde vor seiner Mutter zu er scheinen, ohne sie allzu sehr zu erschrecken, lebte Richard ganz ungehindert in den Erinnerungen, freudigen und trüben, die hier bei jedem Schritte, tausendfach gestaltet, sich ihm entgegendrängten. Von seinem Herzen unwiderstehlich gezogen, galt sein erster Ausgang dem jetzt verödeten Palais des Fürsten Andreas.[5]

Indem er quer über den Vorhof dem einzigen jetzt offenen Seiteneingange desselben zuschritt, fiel eine aus diesem heraustretende Gestalt durch ihr seltsames Benehmen ihm auf; ein alter Russe, in der noch immer unter dem Bürgerstande üblichen Nationaltracht, mit einem, die ganze untere Hälfte des Gesichts verbergenden, sehr respectablen schneeweißen Barte, der von einem Ohre bis zum andern reichte, und ungewöhnlich lang, sich stattlich über die Brust hinbreitete. Die Augen blinzelten kaum sichtbar unter den grauen, buschigen Augenbrauen hervor, und eine große Mütze, mit tief hereingehenden Ohrenklappen, verdeckte fast gänzlich den übrigen Theil des Gesichts. Indem er an Richard vorüber ging, schien er wie erschreckt zusammenzufahren, maß ihn dann mit schnellem scharfem Blicke, wandte aber sogleich den Kopf nach der andern Seite, als Richard ihn anreden zu wollen schien, und eilte schneller davon,[6] als man es seinem Alter hätte zutrauen sollen.

Die ganze abenteuerliche Figur hatte etwas Lächerliches, aber auch zugleich Grausiges; Richard, als sie an ihm vorüber geglitten war, konnte es nicht lassen sich noch einmal nach ihr umzusehen; sie war verschwunden, der Hof war leer, doch als er schärfer hinblickte, wurde er den Weißbart draußen, hinter dem offenstehenden Thürflügel gewahr, wie er durch die Spalte zwischen Thür und Angel ihn beobachtete.

Schon wollte Richard auf ihn zueilen, um ihn um den Grund seiner sonderbaren Aufmerksamkeit zu befragen, doch eben trat einer der Diener des Fürsten in den Hof hinaus, der ihn sogleich erkannte; das überlaute Freudengeschrei, das er erhob, versammelte in einem Augenblicke die ganze Dienerschaft, vom Höchsten bis zum Geringsten um Richard her, lauter treue ihm wohlbekannte Gesichter, welche der Fürst zum[7] Schutze und zur Erhaltung der Ordnung in seinem Hause gelassen. Sie umfaßten seine Kniee, küßten seine Hände, seine Schultern, seine Arme, sogar seine Stiefeln, den Saum seiner Kleider, und er hatte in dem allgemeinen Jubel nicht Hände, nicht Athem, nicht Worte genug, um jedem Einzelnen zu danken, jeden Gruß besonders zu erwiedern! Eine Freude war unter diese treuen Seelen gekommen, als ob einer der Söhne ihres Herrn, ja ihr Herr selbst, unvermuthet heimgekehrt wäre.

Und als nun der erste freudige Tumult sich gelegt, Richard wie im Triumphe in die Wohnung des Kastellans geführt worden war, da ging es an ein gegenseitiges Fragen und Erzählen, ohne Anfang noch Ende; die Stunden flogen, Richard hatte sich verspätet, ehe er sich dessen versah. Um schneller nach Hause zu gelangen, warf er sich in eine der immer bereit stehenden Droschken; nach dem seltsamen Weißbart sich zu erkundigen,[8] wie er es sich vorgenommen, hatte er über all' den Jubel vergessen, und würde schwerlich seiner wieder gedacht haben, hätte er nicht beim Aussteigen vor der Thüre seines Hotels ihn ebenfalls in einer Droschke, in welcher er wahrscheinlich der seinen gefolgt war, langsam an sich vorüber fahren gesehn.

Von nun an bemerkte er überall die nämliche räthselhafte Gestalt; wohin er sich auch wenden mochte, erblickte er sie, doch nie in solcher Nähe, daß er sie hätte anreden können; so oft er dieses auch versuchte, gleich war sie verschwunden, er wußte selbst nicht wie noch wohin.

Richard fing allmälig an, dieses Abenteuer bedenklich zu finden; die mancherlei im Schwange gehenden Sagen von der Unsicherheit der Gegenden, durch welche der doch noch vor ihnen liegende Weg sie führen mußte, stiegen in abschreckender Gestalt vor ihm auf. Er gedachte der Räuberhorden, der furchtbaren Tschetschen[9] und Tscherkessen, welche sogar an jenem letzten unvergeßlichen Abende in Petersburg sein edler Beschützer warnend erwähnt hatte.

Wie, wenn jener mich so auffallend verfolgende Alte ein, mit einer jener Räuberbanden in Verbindung stehender Kundschafter wäre, der in irgend einem abgelegenen Winkel uns ihrer überlegenen Zahl ausliefern wollte? dachte er.

Es kam ihm selbst fast lächerlich vor, doch konnte er den einmal gefaßten Gedanken nicht wieder los werden, und begab sich zu dem des Landes kundigen Dmitry, um sich mit diesem darüber zu besprechen; doch indem er dem Hause desselben sich näherte, sah er zu seinem höchsten Erstaunen den räthselhaften Weißbart aus demselben hinaustreten, der, sobald er seiner gewahr wurde, sich mit bewundernswürdiger Leichtigkeit in seine bereit stehende Droschke warf, und über Hals und Kopf davon jagte.

Wer war das? fragte Richard ihm unverwandt[10] nachschauend, ohne die vielen Komplimente zu beachten, mit welchen der aus seinem Laden ihm entgegen kommende höfliche Teppichhändler seine Freude über den unerwarteten Besuch ausdrückte, und ihn einlud näher zu treten. Wer war das? fragte Richard noch einmal kurzweg.

Wer? wo? wie? wer das war? wen meint Ihr, Herr? erwiederte Dmitry und sah verwundert nach allen Seiten sich um. Ihr meint vielleicht den alten Grischa? der eben bei mir, zum Geburtstagsgeschenk für seine Frau, einen recht schönen Teppich gekauft hat? setzte er nach einigem Besinnen hinzu: ich habe ihn wohlfeil weggegeben, spottwohlfeil, sage ich Euch. Man sollte dergleichen nicht thun, es verdirbt den Preis, und die Zeiten sind schwer; doch einem alten Bekannten zu Gefallen! seufzte er, ächt kaufmännisch die Achseln zuckend.

Einem alten Bekannten? Ihr kennt den Mann, der eben von Euch wegfuhr, schon seit[11] längerer Zeit? fragte Richard nochmals, indem er mechanisch Dmitrys Einladung Folge leistete.

Was sollte ich den alten Grischa nicht kennen? kennt ihn doch halb Moskau! war die Antwort. Er ist seines Zeichens ein Kaviarhändler, und wohnt unfern Eurem Hotel. Der Kerl ist ein Geck, wie Ihr schon aus seinem großen Barte ersehen könnt, auf den er sich nicht wenig einbildet, und den er, lange vor der Zeit, durch allerlei Salben sich künstlich so weiß gebleicht hat, weil das bei Einigen für eine große Schönheit gilt. Wie gesagt er ist ein Narr, aber in seinem Geschäft pfiffig und gescheit genug. Hat er doch ein Geld zusammengescharrt! aber sein Kaviar geht auch weit und breit in der Welt umher, man sagt sogar bis nach Italien! Nach Danzig, nach Hamburg, nach Berlin reisen seine Diener alljährlich mit großen Quantitäten, soviel ist gewiß.

Richard bekannte, in welchem schweren Verdachte[12] er den harmlosen Weißbart gehalten, und Dmitry meinte vor Lachen darüber zu sterben. Grischa ein Räuberhauptmann! rief er einmal über das andre, und hielt sich die Seiten, während helle Thränen ihm über die Wangen rollten. Eigentlich ist mir das Ding wohl erklärlich: fing er an, nachdem er wieder ein wenig zu sich selbst gekommen war. Neben seinen übrigen vortrefflichen Eigenschaften hat er auch noch die, neugierig zu sein, wie eine Nachtigall. In diesen heißen Sommertagen hat er in seinem Handel wenig zu thun, da treibt er sich denn vom Morgen bis zum Abend in den Straßen herum, etwas Neues aufzuspüren; läuft allen Fremden nach, ist aber zu blöde, um ihnen Rede zu stehen. Ihr, Herr, seid nicht der Erste, dem dieses auffällt.

Der gastfreie Dmitry hatte während der Zeit die köstlichsten Erfrischungen, die in seinem Bereiche lagen, auftischen lassen, und fing jetzt[13] an mit einem Anerbieten heraus zu rücken, dessen Annahme, wie er ein wenig sarkastisch lächelnd hinzusetzte, die Reisenden gegen die Angriffe des tapfern Grischa und seiner Bande genugsam sichern müsse.

Längst schon, sprach er, rufen mich meine Geschäfte nach Nachitschewan, dem sehr anmuthig gelegenen und zugleich wohlhabendsten Handelsstädtchen im Lande; es liegt am Wege nach Kislawodsk, wohin Ihr der Bäder wegen übermorgen abzureisen gedenkt, wie ich höre. Ich hätte schon längst mit meinen Korrespondenten in Nachitschewan einmal persönlich abrechnen sollen, aber der Weg ist weit. Die Reise ist zwar, besonders in dieser Jahreszeit, bei weitem nicht so beschwerlich, die Wege weder so gefährlich noch so unsicher, als Reisende, die oft gern den Mund etwas weiter aufthun als nöthig wäre, es beschreiben. Aber man legt ihn doch immer lieber in guter zahlreicher Gesellschaft, als allein zurück. Wollt[14] Ihr mir nun übermorgen erlauben mit meinem eigenen Fuhrwerke, in Begleitung einiger meiner Diener mich Euch anzuschließen, so würde sie mir zur angenehmsten Spazierfahrt werden, und als einem des Landes Kundigen möchte es mir auch wohl gelingen, zu Euerer und Iwans Bequemlichkeit und Sicherheit mich als nicht ganz überflüßig auszuweisen.

Nichts konnte erwünschter sein, als dieser Vorschlag, der sogleich freudigst angenommen wurde. Die Reise ging zur bestimmten Zeit, unter den glücklichsten Vorbedeutungen vor sich; die beiden Kibitken nebst dem von mehreren Dienern begleiteten Packwagen des Kaufmanns, bildeten eine kleine ganz stattliche Karawane; für reichlich gefüllte Flaschenkeller und Speisekober, so wie für alles, was sie in diesem, doch noch immer etwas unwirthbaren Lande, vermissen konnten, hatte Dmitry bestens gesorgt. Iwan ergab sich darein, allnächtlich zu ruhen, die fieberhafte[15] Angst war von ihm gewichen, die zwischen Petersburg und Moskau ihn so gewaltsam vorwärts getrieben. Heitern Muthes durchzogen die Reisenden so manche lange, öde, unwirthbare Steppe, bis sie an die üppig blühenden Ufer des Don gelangten. Hier athmete Iwan schon heimathliche Luft; vollkommen genesen, schwelgte er in der Vorempfindung des nahen Wiedersehens, während Richard, durch Dmitry jeder Sorge um seinen Freund enthoben, der ihm neuen Welt sich freute, die ihn umgab. Alles entzückte ihn, der reine blaue Himmel, der schöne Strom, den zahllose Schiffe und zierlich bemalte Barken belebten, die vielen Städtchen und Dörfer, die an seinen Ufern sich hinziehen, denn Richard war weit davon entfernt gewesen, hier nur etwas dem Ähnliches zu erwarten; Dmitry aber, aus purer Dankbarkeit dafür, daß sie bisher alles, was er für sie gethan, sich so wohl hatten gefallen lassen, verdoppelte[16] seinen Eifer in der Vorsorge für die Freunde.

Schon waren sie dem Ziele, das Dmitry zu ihrer Begleitung festgestellt hatte, ziemlich nahe; sehr ermüdet von einer ungewöhnlich starken Tagereise langten sie, als die Sonne schon im Sinken war, in Rostow an, wo sie sich vorgenommen hatten zu übernachten. Rostow ist ein lebhaftes, sehr wohlhabendes Handelsstädtchen, hart am Ufer des hier ungewöhnlich fischreichen Don; Fische sind daher das Haupterzeugniß des Ortes; gedörrt, gesalzen, geräuchert, in allen nur erdenklichen Gestalten, werden sie von hier aus weit und breit umher verschickt; Alt und Jung, Weiber und Kinder, sieht man überall, an allen Ecken und vor den Thüren der Häuser, mit der Zubereitung derselben beschäftigt, was freilich, besonders an warmen Sommertagen, die das Städtchen umgebende Atmosphäre eben nicht zur angenehmsten macht;[17] man muß daran gewöhnt sein, um sie ertragen zu können. Ungeachtet ihrer Ermüdung, und obgleich Rostow eigentlich der Punkt war, wo ihr Weg von dem ihres bisherigen treuen Begleiters sich trennte, gaben die Reisenden doch dem Rathe und den Bitten des Dmitry gern Gehör, die wenigen Werste nicht zu scheuen, und ihm vollends bis Nachitschewan ihre Gesellschaft zu gönnen. Es war schon späte Nacht, als sie dort vor dem Hause eines armenischen Kaufmannes, Namens Ilia anlangten, der, ein Gastfreund ihres Freundes, sie sehr zuvorkommend empfing, und sogleich in die, dem Anscheine nach längst für sie bereit gehaltenen Zimmer führte.


Das ganze freundliche Städtchen Nachitschewan bildet eigentlich einen einzigen großen Bazar. Mit den köstlichsten, wie mit den gewöhnlichsten[18] Erzeugnissen des Orients angefüllte Magazine und Läden, nehmen fast durchweg den ersten Stock der Häuser ein, und in den mannigfaltigsten Trachten drängt lautes buntes Gewimmel von Käufern und Verkäufern sich in den lebensreichen Straßen.

Auch auf dem schönen Strome, der längs den Mauern des Städtchens sich hinzieht, geht es nicht minder lebhaft zu; ein- und ausladende, kommende und gehende Schiffe und Barken kreuzen durch einander in immer reger Beweglichkeit. Hier zieht ein Fischer das schwer beladene Netz aus den im Morgenstrahle wie Silber erglänzenden Wellen, dort wirft ein Andrer das Seinige aus, während an den blühenden Ufern, unter fröhlichem Sange und Gelächter, hoch aufgeschürzte Mädchen einen Regen blitzender Diamanten aus ihren bunt gemalten Gießkannen über ihr bleichendes Garn hinströmen lassen.

Zum erstenmale seit langer Zeit saß Richard[19] im Erker des freundlichen Zimmers, das der gastfreie Ilia ihm am vergangenen Abende angewiesen hatte, bei seinem Morgenkaffee ganz allein, er blickte hinaus in die ihn umgebende Pracht und Herrlichkeit der Natur, bewunderte den malerischen Effect der imposant hohen Gestalten der Einwohner, die in ihrer faltenreichen armenischen Tracht ernst und bedächtig einherschritten, und dem Orte einen, von allen bisher gesehenen ihn unterscheidenden, orientalischen Charakter verliehen; in großer Behaglichkeit gab er so dem lange nicht genossenen Bewußtsein des seligen Nichtsthun und des ungestörtesten Alleinseins sich hin.

Dmitry und Ilia hatten sich noch nicht gezeigt, vermuthlich wollten sie dem reisemüden Gaste Zeit zum Ausruhen lassen. Iwan aber war schon längst mit den beiden Söhnen des Ilia auf und davon, die er zu seinem großen Vergnügen glücklich aufgefunden hatte. Sie mußten[20] ihn hinaus zu all' den glänzenden Herrlichkeiten begleiten, die in den Straßen ihn unwiderstehlich anlockten; denn sein Beutel war noch wohl gefüllt; das Gold brannte ihm in der Tasche, und er vermuthete mit Recht, daß eine solche Gelegenheit, es in Geschenken für Mutter und Schwester anzulegen, sich ihm sobald nicht wieder bieten dürfe.

Ein lauter Schrei ganz in der Nähe, im Hause selbst wie es ihm schien, schreckte Richard aus dem ruhigen Genusse des gemüthlichen Stilllebens auf, das ihn umgab. Ein Getümmel entstand, wie von mehreren durcheinander laufenden Personen; weibliche und männliche Stimmen wurden durcheinander hörbar, weinende, freudige, scheltende, fluchende; und mitten durch klang Iwans zürnende Stimme am lautesten und vernehmlichsten von Allen.

Richard sprang auf, zur Thüre hinaus; aber seit seiner Ankunft war er noch nicht aus seinem[21] Zimmer gekommen, und daher völlig unbekannt mit den Lokalitäten des Hauses. Bald einige Stufen hinauf-, bald wieder andre hinabsteigend, gerieth er aus einem, durch Fenster von geöltem Papiere nur schwach erleuchteten, engen Gange in den andern, stieß überall auf verschlossene Thüren, und hörte dabei fortwährend, bald näher, bald entfernter das nämliche Geräusch, und von Zeit zu Zeit Iwans laut erhobene Stimme dazwischen.

Richard fing eben an zu überlegen, ob es nicht am gerathensten wäre, eine Seitenthüre, hinter welcher das Getöse sehr deutlich hervorscholl, gewaltsam zu erbrechen, als er am andern Ende des Ganges eine dunkle Gestalt vorsichtig an der Wand hinschleichen sah. Er blickte schärfer hin, nein, er irrte sich nicht: es war Grischa. Wie ein Tiger auf seine Beute, wollte er auf den ihm jetzt mehr als verdächtigen Weißbart losspringen, aber im nämlichen Augenblicke[22] legte eine kräftige Hand sich von hinten auf seine Achsel und hielt ihn fest.

Finde ich Euch endlich, rief Dmitry, denn dieser war es; Herr! nur hier herein, Unglück abzuwenden, wo wir Glück und Freude zu säen meinten; damit öffnete er eine Thüre, welche Richard in der Dunkelheit vorhin nicht bemerkt hatte, und schob ihn in ein helles geräumiges Zimmer hinein.


Einige Secunden lang staunte Richard die zahlreiche Gesellschaft sprachlos an, die er in seltsamen Gruppen vertheilt hier versammelt fand. Ilia, der Hausherr, stand ihm und der Thüre am nächsten; er hielt zwei angstbleiche, zitternde Knaben von funfzehn bis sechszehn Jahren festgepackt beim Kragen, die er unter lautem, ununterbrochenem Schelten mitunter derb zusammen schüttelte. Mit irgend etwas, das in ihrer Mitte[23] vorging, emsig beschäftigt, stand und kniete in einer Ecke des Zimmers ein undurchdringlicher Haufe armenischer Frauen und Mädchen. Doch von diesen nahm Richard weiter keine Notiz, denn Iwan zog seine ganze Aufmerksamkeit an.

Ähnlich einem zürnenden Halbgotte stand Iwan da, ganz so wie er damals in Petersburg, in jener fürchterlichen Nacht, vor der Versammlung der Verschworenen gestanden, aber liebend umfangen von den Armen einer schönen stattlichen Matrone, der er zu sehr glich, um in ihr nicht augenblicklich seine Mutter zu erkennen. Hinter ihm hob ein, ihm ebenfalls sehr ähnliches junges Mädchen, sich möglichst hoch auf den Fußspitzen empor, um mit ihren beiden Armen seinen Nacken zu umschlingen, was aber nicht ganz nach Wunsch gelingen wollte; ein zweites, noch jüngeres, begnügte sich damit, seine Kniee zu umfassen, und lächelnd unter Thränen, in dieser Stellung zu ihm aufzusehn; drei[24] im Alter wenig verschiedene hoch gewachsene Bursche betrachteten den Bruder mit unbeschreiblicher schüchterner Liebe und Freude; die ganze Familie Yakuchin war hier zum Empfange des lang entbehrten Lieblings versammelt, nur der Vater fehlte, den Geschäfte der Ernte einstweilen zu Hause noch fest hielten.

Die ganze Gruppe würde dem anmuthigsten Familiengemälde als Vorbild haben dienen können, hätte die Hauptfigur, Iwan, nicht die Harmonie desselben gestört, der bald wild tobend, wie ein aufgereizter Löwe, in furchtbaren Flüchen und Verwünschungen den allen unbegreiflichen innern Zorn seiner Brust ausströmen ließ, bald wieder im nächsten Momente, sanft und weich wie ein Kind, den Liebkosungen der Seinigen, sie erwiedernd, sich hingab, und gleich darauf wieder den Armen, die ihn umschlungen hielten, sich zu entwinden suchte, unter Drohungen, von denen Niemand begriff, wem sie gelten könnten.[25]

Richard übersah das Alles in weniger als einer Minute; unentschlossen stand er da, und Ilia war der erste, der seine Gegenwart bemerkte.

Herr, sprach Ilia, sehr anständig sich verbeugend, ohne jedoch die beiden vergeblich sich sträubenden Knaben loszulassen: Herr, ich möchte über diesen unverzeihlichen Empfang so hochgeachteter Gäste unter meinem geringen Dache vor Scham in die Erde sinken. Doch glaubt mir, diese unseligen Buben allein haben alle diese Verwirrungen hervorgebracht; sie haben ein Fest des Wiedersehens, über das die Engel im Himmel, wie die Menschen auf Erden frohlocken müßten, in Hader und Verdruß umgewandelt, aber der Lohn dafür soll ihnen nicht entgehen! Ihr vorwitzigen Taugenichtse, hört auf zu gransen, gebt deutlich Rede und Antwort; welcher Satan trieb Euch, ohne Erlaubniß den Fremden, dem Ihr die Stadt zeigen solltet, hierher in das Zimmer[26] der Frauen zu führen? Sprecht deutlich, oder! – setzte er, mit dem Fuße derb aufstampfend, hinzu, und schüttelte die Knaben abermals zusammen, daß Hören und Sehen ihnen vergehen mochte.

Wir haben ihn nicht hergeführt, er ist uns nachgelaufen, schrie weinerlich der jüngste Bube.

Durften wir den Gast unseres Hauses vor unsern sehenden Augen betrügen lassen? setzte sein älterer Bruder etwas trotzig hinzu.

Jetzt legte Dmitry sich ins Mittel, und es wurde den Knaben vergönnt, ihre Entschuldigung vorzubringen. Iwan hatte schon viel Geld, ihrer Ansicht nach unermeßliche Summen, für Schmuck und ähnliche Dinge hingegeben, als noch ganz zuletzt ein brillanter persischer Shawl ihm ins Auge fiel, den er sogleich seiner Mutter bestimmte. Er fragte nach dem Preise, zählte seine ihm übrig gebliebene Baarschaft, fand sie eben noch hinreichend, und war im Begriff den[27] Kauf abzuschließen, als der älteste seiner jungen Begleiter mit der Erklärung dazwischen trat, der Shawl sei höchstens ein Drittel der dafür geforderten Summe werth.

Der Kaufmann versicherte das Gegentheil; Iwan ohnehin des vielen Marktens und Feilschens müde, bezeigte sich geneigt auf seine Seite zu treten, als der eifernde Knabe hastig den Gegenstand des Streites aufgriff, und damit in das nahe gelegene Haus seines Vaters lief, um seine Mutter als anerkannte kompetente Kennerin darüber entscheiden zu lassen. Sein Bruder folgte ihm, und Iwan sprang in einem Anfalle lustiger Laune beiden nach; der Kaufmann, der die Söhne seines reichen Nachbars Ilia kannte, ließ unbesorgt sie laufen. In kindischer Ausgelassenheit stürmten alle Drei blindlings in das Zimmer der Mutter der Knaben, Frau Selina, hinein; betroffen über sein eignes Ungeschick, blieb Iwan beim Anblicke der Gesellschaft, in welcher[28] er sich ganz unerwartet befand, wie versteinert stehen, und flog im nächsten Augenblicke mit einem lauten Freudenschrei in die Arme seiner Mutter, seiner Brüder, seiner Schwestern, die er alle ungeachtet der mehrjährigen Trennung augenblicklich erkannte.

Der Jubel war allgemein, die Freude unbeschreiblich; doch plötzlich veränderte sich alles auf unbegreifliche Weise, und der Zustand stellte sich ein, in welchem Richard ihn jetzt gefunden.

Das Angstgeschrei der Frauen, die einen plötzlich wahnsinnig Gewordenen in ihm zu sehen glaubten, Ilias scheltende Stimme, der Knaben ängstliches Rufen, der Mutter bittendes Zureden, alles das zusammen wirkte wahrhaft betäubend. Auch Richard, wie früher die übrigen Alle, begann jetzt zu fürchten, die überraschende Anwesenheit der Mutter und Geschwister habe auf den eben Genesenden zu lebhaft gewirkt, und den armen Iwan wenigstens für den Augenblick[29] um Sinn und Verstand gebracht. Er näherte sich ihm und wollte nach beschwichtigenden Worten suchen, doch dazu ließ Iwan ihm keine Zeit; er riß sobald er ihn erblickte von der Mutter sich los, warf sich ihm in die Arme und brach in herzzerreißende Klagen aus.

Du! ja Du wirst endlich mich verstehen, o Richy, Richy, in welch' ein Haus sind wir gerathen! rief er, und schien nicht zu fühlen wie heiße Thränen, aus den weit offnen wild blitzenden Augen, schwer und einzeln über die in dunkler Fiebergluth brennenden Wangen ihm rollten. Rücksichtslos schob er alles was ihm im Wege stand bei Seite, und zog den Freund mitten in den eng geschlossenen Kreis der Frauen hinein, die sogleich ängstlich-scheu ihm auswichen.

Sieh her, rief er mit erstickter heiserer Stimme, sieh her! man möchte sich darüber zu Tode weinen! Ist es nicht um von Sinnen zu kommen? heischt das nicht blutige Rache?[30]

Ein armenisches halb ohnmächtiges Mädchen, das auf einem Stoß nach orientalischer Art über einander aufgehäufter Kissen lag, wurde, da die Frauen sich zurück gezogen hatten, sichtbar. Iwan bückte sich, und schleuderte den Schleier fort, den ihre Freundinnen in der Eile über ihr Gesicht gebreitet hatten.

Sieh her, sieh her, wiederholte Iwan mehrere Male, kennst Du sie, die Verlorene, die früh Verlassene, erkennst Du sie in der fremden Tracht? rief er, und verbarg krampfhaft schluchzend sein Gesicht an der treuen Brust seines Freundes.

Das Mädchen blickte träumerisch umher, wie aus tiefem Schlafe erwachend.

Sie! Sie sind es, rief sie fast jubelnd in deutscher Sprache, indem sie Richard erkannte. Sie sind da? o, nun wird alles gut! Sie werden mich in Schutz nehmen, Sie können nichts Übles von mir denken, Sie wenigstens werden[31] nicht nach dem Scheine richten. Ihre Stimme wird zu dem ungerechten Herzen dieses Mannes den Weg finden, und meine Vertheidigung führen.

Julie! rief Richard erstaunt, Julie, ist es möglich? Sie hier!

Julie brach in Thränen aus, sie weinte recht bitterlich aus dem Herzen, wie ein Kind im Gefühle erlittenen Unrechts.

Frau Selina konnte das nicht länger ruhig mit ansehen; sie überwand die Scheu vor dem tobenden Iwan, ließ zu Julien sich nieder, sprach tröstend ihr zu, trocknete liebkosend ihre Wangen, und wandte sich dann an die beiden Freunde.

Ich verstand kein Wort von dem was Diese jetzt gesprochen, denn die Rede ihres Landes ist mir völlig fremd: aber ich bin bereit, Leben und Ehre dafür einzusetzen, daß über diese Lippen nie eine Lüge gegangen ist, denn sie ist treu und ohne Falsch, unschuldig und rein, wie meiner[32] Tochter Neugebornes, dort in der Wiege! Wochen und Monate lebt sie in der Mitte der Meinen, möge sie nie uns verlassen! Das liebe Kind! sie ist die Freude unsrer Herzen! sie ist das Licht unsrer Augen: sprach Frau Selina, und drückte ihren Schützling recht fest an ihre Brust.

Ilia hatte unterdessen seine beiden Knaben losgelassen, die auch sogleich die wiedererhaltene Freiheit benutzten, um das Freie zu suchen; auch er nahm jetzt das Wort, indem er näher trat.

Herr! sprach er, noch sehe ich zwar in den Ursprung aller dieser, so plötzlich eingetretenen Verwirrungen nicht klar hinein, aber ich begreife doch, daß unser lieblicher Gast hier darein verflochten ist. Ihr habt dies Mädchen gekannt, und denkt jetzt Arges von ihr, weil Ihr unerwartet, weit von ihrer Heimath, in fremdem Lande sie antrefft. Ist dem nicht so?

Richard machte nur ein bejahendes Zeichen,[33] Iwan stand stumm und starr, im Anschauen Juliens versunken.

Nun dann, fuhr Ilia fort, so hört wenigstens auf das Wort eines rechtlichen Mannes. Zwar kennt Ihr mich noch nicht, aber fragt weit und breit im Lande umher nach Ilia, ob irgend ein Makel auf seinem Namen hafte, ob Ihr nicht auf Treu und Glauben meine Worte für Wahrheit annehmen könnt. Es ist wie meine Frau es eben ausgesprochen. Seit mehreren Monaten, von uns und allen unsern Nachbarn und Freunden geehrt und geliebt, lebt dieses Mädchen in unserer Mitte, als gehöre sie zu uns und wäre unser eigenes Kind. Ich wache über sie, kein Unrecht darf ihr nahen, denn ihr Vater hat sie in meinen Schutz gegeben. Von Vaters Hand wurde die schöne fremde Blume in meinen Garten gepflanzt, und ich habe mein Wort darauf gegeben – –

Ihr Vater! ihr Vater! welch neues Truggewebe![34] wer hat das ersonnen? rief Iwan, unfähig länger an sich zu halten; nie hat sie ihren Vater gekannt, nie ihn gesehen!

Wohl habe ich meinen Vater gekannt, wohl ihn gesehn, rief Julie: und daß ich nie hoffen darf ihn wieder zu sehen, das ist mein großer Schmerz! Armer unglücklicher Mann! Berge und Thäler und breite Ströme liegen zwischen uns! ihre Stimme ging unter in Thränen.

Du kennst Deinen Vater? doch wohl auch seinen Namen? wie heißt Dein Vater, rief Iwan sich zu ihr niederbeugend, fast höhnend.

Julie erbleichte bei dieser Frage; ängstlich, wie Hilfe oder Auskunft suchend, blickte sie verschüchtert um sich her.

Wie heißt er? rief Iwan überlaut, in steigendem Zorne.

Grischa, flüsterte Julie kaum hörbar und verbarg ihr Gesicht am Busen ihrer mütterlichen Freundin.[35]

Grischa! rief Iwan laut und bitter auflachend: er hatte den Namen nie nennen gehört, denn weder Richard noch Dmitry hatten für gut gehalten, den räthselhaften Alten gegen ihn zu erwähnen.

Grischa! wiederholte Richard, warf einen vorwurfsvollen Blick auf Dmitry, und eilte zum Zimmer hinaus. Dmitry folgte ihm auf dem Fuße. Frau Selina benutzte diesen Augenblick, um mit Hilfe ihrer Töchter die an Kräften völlig erschöpfte Julie fortzuführen. Iwan blieb mit den Seinigen allein, denn auch Ilia zog bescheiden sich zurück, um bei dem Gespräche zwischen Mutter und Sohn kein überlästiger Zeuge zu werden.

Nach manchem mißlungenen Versuche gelang es endlich der Mutter, den Sohn in einen verhältnißmäßig ruhigen Zustand zu versetzen, indem sie von seinem Vater und dem häuslichen friedlichen Leben, das zu Hause ihn erwartete,[36] ihm sprach. Sie stellte seine Brüder und Schwestern der Reihe nach ihm vor, die mit unbeschreiblicher Liebe an ihm hingen, und die er bis jetzt kaum eines Blicks gewürdigt hatte; machte auf die vortheilhafte Einwirkung der Zeit, auf die geistige und körperliche Entwickelung derselben ihn aufmerksam, welche die Reihe von Jahren herbeigeführt hatte, während welcher er sie nicht gesehen; schilderte, ihm wie der Boden ihr unter den Füßen gebrannt, bis sie vom Vater die Erlaubniß erhalten, ihm mit ihren Kindern entgegen zu gehen. Die Mühseligkeiten der Reise erwähnte sie kaum.

Ich wäre bis Moskau, ja bis Petersburg Dir entgegen gezogen, hätte ich Dich nicht früher angetroffen, versicherte die muthige Frau, die zuvor nie in ihrem Leben sich weiter, als höchstens eine Tagereise von ihrer Heimath entfernt gehabt.

Jetzt hatte sie schon seit zwei Tagen die,[37] durch einen von Dmitry abgesandten Boten angekündigte nahe Ankunft ihres erstgebornen Lieblings in unaussprechlicher Sehnsucht bei ihrer Jugendfreundin Selina erwartet; und als er nun wirklich in tief dunkler Nacht anlangte, begnügte die sorgsame liebevolle Mutter sich dennoch damit, durch die Jalousien lauschend, beim Scheine ihm entgegen leuchtender Fackeln ihn aus dem Wagen steigen zu sehn. Sie wollte dem Ermüdeten Zeit zum Ausruhen vergönnen, um am folgenden Tage die hohe Freude des Wiedersehns um so ruhiger zu genießen, die ihr leider so herbe verbittert werden sollte.

Doch wie weiland der Harfe des königlichen Sängers im alten Testamente, so gelang es endlich auch der Mutter sanfter Stimme, den bösen Dämon in des Sohnes Brust zur Ruhe einzulullen, und Iwan hörte auf zu toben, indem er ihrer Einwirkung sich hingab.
[38]

Grischa entläuft Euch nicht, Herr, er wartet ruhig auf Euch, rief Dmitry, indem er an dem rasch voranschreitenden Richard vorüber eilte, um ihn nach seinem Zimmer zu führen. In den verwickelten Gängen dieses alten Hauses verirrt man sich leicht, setzte der allzeit Dienstfertige hinzu, indem er die Thüre desselben ihm öffnete.

Da lag nun Grischa, wie die Chrysalide eines entpuppten Schmetterlings, nachlässig in einen Sessel hingeworfen; nämlich sein russischer Kaftan, sein ehrwürdiger Bart, seine große Mütze, und was sonst noch an und um ihn gehangen; der Kern dieser abgeworfenen Hülle stand aber in Gestalt des bebrillten Barons in Lebensgröße mitten im Zimmer.

Elender! Du wagst es, rief Richard, und griff mechanisch nach seinen auf einem Seitentische liegenden Pistolen.

Ich bin ohne alle Waffen, wie Sie sehen,[39] erwiederte der Baron sehr gelassen, und schlug seinen Überrock zurück.

Richard wandte sich, um die Pistolen wieder an ihren Ort zu legen, und die Thüre sorgfältig zu verschließen, von der er den Schlüssel abzog und zu sich nahm; Wort und Stimme versagten ihm vor heftigem Zorne, der Baron aber benutzte diesen Augenblick, um hinter den Bettschirm zu schlüpfen, und Richard, als er sich ihm wieder zukehren wollte, sah ihn als Torson, die grüne Brille in der Hand, aus seinem Verstecke hervorkommen.

Von der Vollkommenheit dieser Umwandlung mit so Wenigem, und in kaum einer Minute Zeit vollbracht, kann der nur sich einen Begriff machen, der vor zehn bis zwölf Jahren den ältern Devrient in der Rolle der Drillinge gesehen hat.

Taschenspieler! murmelte Richard verächtlich.

Nennen Sie es meinetwegen wie Sie wollen,[40] mir erspart das Kunststückchen eine mündliche Erklärung und dient obendrein dazu, Ihrem Scharfblicke Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der oft nahe daran war, mir in die Karte zu sehn, und mir mitunter Noth genug gemacht hat: erwiederte Torson einigermaßen verbindlich.

Genug des faden Geschwätzes! rief Richard höchst unmuthig, ich habe sehr Ernstes mit Ihnen zu verhandeln, und erwarte bestimmte Auskunft, die ich nöthigen Falles mir zu verschaffen wissen werde.

Diese zu erhalten, soll Ihnen nicht schwer werden, erwiederte Torson, leicht hingeworfen: war ich doch schon in Moskau, und bin blos in der Absicht, jede Erläuterung zu gewähren, die Sie verlangen können, mit Ihnen hierher zurück gereißt. Freund Dmitry, fuhr Torson fort, als er den fragenden Blick bemerkte, mit welchem Richard ihn von oben bis unten maaß, Freund Dmitry hat, gleich einem verbotenen[41] Waarenartikel, in seinem verdeckten Frachtwagen mich eingeschmuggelt, auch bin ich jetzt im strengsten Incognito hier; Ilia sogar weiß nicht darum, Niemand außer Dmitry, und jetzt auch Sie. Um meiner Tochter willen wünsche ich, daß Sie mich nicht zwingen an's Licht zu treten, ich möchte dem armen Mädchen, das schon viel um mich gelitten hat, den Schmerz eines wiederholten Abschiedes von einem Vater ersparen, der um ihrer selbst willen sich von ihr trennen muß, und den sie mehr liebt, als er vielleicht es verdient.

Und auch Sie sind gesonnen, dieses abgeschmackte Mährchen mir aufzuheften? fragte Richard.

Gedenken Sie jenes Morgens, als wir beide zum ersten und einzigen Male mit einander auf der Straße gingen. Erinnern Sie sich, daß ich damals Ihnen vorher sagte, ein Tag würde kommen, an welchem Sie, eingenommen wie Sie[42] es gegen mich waren und noch sind, mir weder Ihr Mitleid, noch in gewisser Hinsicht Ihre Achtung würden versagen können; sprach Torson mit eindringendem Ernste.

Ich erinnere mich dessen; vermuthlich sollte Ihre damalige wohl gesetzte Rede dem sentimentalen Melodram, das Sie jetzt aufzuführen gedenken, zum Prolog oder als Exposition dienen, erwiederte Richard; aber ich bitte Sie zu erwägen, daß Melodramen und darin vorwaltende Verkleidungen ein wenig aus der Mode gekommen sind, und auch, daß das Sentimentale nicht ganz Ihr Fach zu sein scheint, so sehr Sie auch in andern Fächern excelliren: setzte er mit schneidendem Hohne hinzu.

Torson zuckte zusammen, faßte sich aber schnell, setzte sich an den vor ihm stehenden Tisch, und zog eine verschlossene Brieftasche hervor, die er mit einem kleinen Schlüssel, den er am Halse trug, vorsichtig öffnete. Richard hatte ihm gegenüber[43] Platz genommen und beobachtete jede seiner Bewegungen mit wahren Inquisitors-Blicken.

Torson legte indessen mehrere Briefschaften und gerichtlich bestätigte Documente Richarden vor, lud schweigend, durch ein Zeichen mit der Hand, ihn ein sie zu untersuchen, und lehnte sich dann mit übereinander geschlagenen Armen und einem völlig versteinerten Gesicht in seinem Sessel zurück.

Juliens Taufzeugniß, der Trauschein ihrer Eltern, der Todtenschein ihrer Mutter, alles in größter Ordnung besiegelt und unterschrieben: sprach Richard leise vor sich hin, indem er die ihm vorgelegten Papiere einzeln betrachtete. Das Alles scheint mir in vollkommener Richtigkeit. Aber ich sehe nichts darin, was Ihre väterlichen Ansprüche auf Julien begründen könnte, setzte er laut hinzu, indem er seinen Gegner mit durchdringend scharfem Blicke fixirte.[44]

Dieser Name, erwiederte Torson, indem er auf Juliens Taufzeugniß hindeutete, dieser Name, der wahrscheinlich durch seine alt-historische Bedeutsamkeit Ihnen auffällt, war einst der meine; er ist es nicht mehr. Ich habe ihm entsagt und werde nie wieder ihn führen.

Ungemein romantisch, lachte ungläubig Richard.

Herr Wood, sprach Torson, sehr fest und ernst: Sie müssen selbst fühlen, daß Ihr Betragen gegen mich Ihrer unwürdig ist, da es Ihnen unmöglich entgehen kann, wie sehr ich, aus mir wichtigen Gründen, mich bemühe, ruhig zu bleiben und mich nicht aufbringen zu lassen Sie treiben mit mir das rohe Spiel eines Barbaren gegen seinen gefesselten Feind; es aufzugeben wäre ehrenvoller. Haben Sie mich bis an's Ende gehört, nun dann stehen wir wieder auf gleichem Boden Mann gegen Mann einander gegenüber, was jetzt nicht der Fall ist.[45]

Richard wurde roth, hustete ein wenig, und suchte in die Stellung eines ruhig Zuhörenden sich zu versetzen, ohne weiter etwas zu erwiedern.

Ich bin wirklich dieser uralten Familie entsprossen, fuhr Torson fort, deren Stammbaum bis zu den ersten fast fabelhaften Beherrschern von Lithauen in die graueste Vorzeit hinabreicht; der jüngste von acht Söhnen unsers einst sehr begüterten Hauses, dem von seinem ehemaligen Glanze jetzt wenig mehr als sein großer Name geblieben ist, um sich über den durch Verwahrlosung herbeigeführten Verfall seiner noch immer sehr ausgedehnten Besitzungen damit zu trösten. Nach alt hergebrachtem Familienbrauche vertheilte mein Vater noch bei seinen Lebzeiten den größten Theil unsrer Güter zwischen meinen Brüdern. Dort setzten sie das gewohnte rohe Krautjunkerleben in der Mitte ihrer Leibeigenen fort. Doch ich, der jüngste, damals noch ein Knabe, wurde bei der nach und[46] nach vollbrachten Theilung wirklich vergessen. Als man sich meiner erinnerte, fand sich, daß blutwenig für mich geblieben sei, so lange mein Vater noch lebe. Es wurde im Familienrathe beschlossen, mich nach Deutschland zu senden, um mich studiren zu lassen. Das Wie machte noch einige Schwierigkeit. Da erschien, ganz unverhofft, auf dem alten Rattenneste, das unser Schloß genannt wurde, ein Deus ex machina, ein Abenteurer, wahrscheinlich der entlaufene Kammerdiener irgend eines großen Herrn. Dieser erklärte, daß in mir ein Genie stecke; was das eigentlich sei, wußte Niemand, aber man hatte nun doch ein Wort, um sich daran zu halten; und bald darauf reiste ich, unter der Führung dieses mir zum Hofmeister beigegebenen Unbekannten, nach Deutschland ab.

Mit den Details des wüsten Lebens, das ich von nun an unter der Leitung meines trefflichen Begleiters führte, will ich Sie verschonen.[47] Wir zogen von einer hohen Schule zur andern, ein paarmal wurde ich relegirt, endlich lief ich meinem Hofmeister davon, indem ich die Hälfte unserer noch übrig gebliebenen Baarschaft ihm hinterließ.

Wir haben nie wieder etwas von einander gehört. Daß ich bei dieser Lebensweise nicht ganz unwissend geblieben bin, ist mir selbst unbegreiflich; doch trieben Überdruß und Langeweile mich mitunter zum Fleiße an.

Ich suche vergeblich den Übergang von dem was ich damals war, zu dem was ich jetzt geworden bin, Ihnen deutlich zu machen; sprach Torson nach augenblicklichem Nachsinnen: und muß zu einem gewaltigen Sprunge mich entschließen über alles hinweg, was auf meiner abenteuerlichen Lebensbahn sich dazwischen drängte, um gleich zum Resultate, zum Spieltische überzugehen, zu welchem ein unwiderstehlicher Hang von jeher mich trieb.[48]

Ich durchzog als erklärter Spieler halb Europa, alle großen Städte, alle Brunnenorte, die mir eines Besuches werth dünkten. Fortuna war mir unbegreiflich günstig, und ist es noch heute. Sie blieb meine stete Begleiterin. Angeborner Scharfblick, Gleichmuth, der sich nicht leicht aus der Fassung bringen läßt, und viel kaltes Blut, halfen mir ihre Huld klüglich benutzen, doch nie habe ich durch niedre Kunstgriffe sie zu fesseln gesucht. Bei Gewißheit des Gewinnes ginge jeder Reiz des Spieles für mich verloren; nur die gespannte Erwartung des entscheidenden Augenblicks, nur das ewige Schwanken zwischen Bettler und König ist es allein, was mich an mein jetziges Gewerbe fesselt; alles andre liegt fade und trübselig vor mir. Glauben Sie mir, kein ächter Spieler will eigentlich Reichthum er werben; mit dem Höchsten, nach welchem Andre im Schweiße ihres Angesichts ringen, ein leichtes Spiel treiben, das allein ist unsre Freude![49] und ich muß und werde dabei bleiben, bis der Tod mit dem letzten va banque! diese mir sprengt.

Richard machte ein etwas ungläubiges Gesicht, erwiederte aber keine Sylbe; doch auch diese fast unmerkliche Veränderung in seinen Zügen entging dem Scharfblicke Torsons nicht.

Sie zweifeln an der Wahrheit dieser Behauptung? fragte er: möge die Thatsache ihre Zweifel heben, daß das unablässige Verfolgen des Glücks mich zuletzt langweilte. Ich kam auf den Einfall, mich auch einmal in Führung eines tugendhaften, ehrbaren Lebens zu versuchen, nahm meinen wirklich sehr bedeutenden Gewinn zusammen, und zog damit weit weg, nach Königsberg, einer Stadt, wo ich ganz unbekannt zu bleiben hoffen durfte. Dort fand ich einen armen Engel in der Hölle: die Waise eines Schullehrers, die demüthige Gesellschafterin eines weiblichen Satans, wie es hoffentlich keinen zweiten mehr auf Erden giebt. Ich beschloß[50] das schöne Kind zu erlösen, es gelang mir seine Liebe zu gewinnen, ich entführte es, und wurde in einem, unfern Memel gelegenen Dorfe, der rechtmäßige glückliche Gatte des liebenswürdigsten Wesens auf Erden.

Sie war so schön, und entfaltete, im warmen Sonnenscheine eines ihr bis dahin ganz unbekannt gebliebenen Wohllebens, körperlich und geistig sich immer wundervoller; gleich einer in dürrem Boden, unter kaltem Himmel verkümmerten Pflanze, die eine freundliche Hand in ein wärmeres, ihr günstigeres Klima versetzt.

Die Nähe meines Geburtslandes regte alte, viele Jahre lang vergessene Erinnerungen in mir auf, sie arteten in Wünsche aus; seit ich von meinem sogenannten Hofmeister mich trennte, war ich ohne alle Nachricht von meiner Heimath geblieben. Ich wollte in meinem Reichthume und meinem Liebesglücke meinen Verwandten mich zeigen, ich wollte meine Frau – kurz die Reise[51] wurde beschlossen und zurückgelegt. Mein glänzendes, etwas prahlerisches Auftreten wirkte blendend auf die rohen Gemüther meiner Brüder, übrigens fand ich alles noch ziemlich wie ich es verlassen, mein greiser Vater sogar war noch am Leben.

Allgemeine Bewunderung, ich darf sagen, ehrfurchtsvolle Verehrung, wurde meiner Frau von allen Seiten gezollt. Da ich über die Quelle meines augenscheinlich bedeutenden Vermögens nie etwas verlauten ließ, so galt es für ihre Mitgift. So reich! so schön! so vornehm in all ihrem Thun! Sie mußte aus hohem, wenigstens fürstlichem Blute abstammen, es konnte unmöglich anders sein. Mein Vater verlangte endlich von ihrer Ahnentafel genauen Bericht, und ich, in meinem stolzen Übermuthe, bekannte in klaren, dürren Worten ihm die Wahrheit.

Hätte ich für einen Räuberhauptmann mich erklärt, man wäre leichter darüber hingegangen;[52] war das doch von alten Zeiten her ein adliges Gewerbe, das mancher unserer Ahnen in allen Ehren getrieben; aber in die lange nie unterbrochene Reihe derselben eine Leibeigene einzuschwärzen! eine Leibeigene! – denn das war sie in den Augen dieser beschränkten Junker, die nur Adlige und Leibeigene kannten.

Still vor sich hin seufzend, dachte Richard hier an die Fürstin Eudoxia.

Im ersten Augenblicke hatte ich wirklich Mühe, uns vor thätlicher Mißhandlung zu schützen; mit Hunden uns beide vom Hofe zu hetzen, war einer ihrer menschenfreundlichsten Vorschläge: fuhr Torson fort.

Ich will so schnell als möglich über die empörende Scene, die nun erfolgte, hinwegeilen. Meine Brüder, aufgehetzt von ihren neidischen Weibern, schäumten vor Wuth; mein schwacher greiser Vater drohte mir mit seinem Fluche, wenn ich darauf bestünde, die Leibeigene nicht zu verstoßen.[53] Zitternd vor dieser Drohung lag meine, in sehr beschränkten Ansichten erwachsene Frau, mir weinend zu Füßen, und beschwor mich, sie lieber aufzuopfern, als so Schweres auf mein Haupt zu laden.

Des widerwärtigen Zustandes müde, machte ich es endlich wie Esau, verkaufte ihnen für ein Linsengericht alle meine Ansprüche, sowohl auf die mir verächtliche Erdscholle, im abgelegensten Winkel eines abgelegenen Landes, als auf den alten Namen, der mir jetzt ein Gräuel war; sah lachend zu, als man auf unserm Stammbaume ihn gleich dem eines Verstorbenen mit einem Kreuze bezeichnete, nahm meine, vor einem Hirngespinnste noch immer zitternde Frau, in meine Arme, und fuhr mit ihr in die weite Welt hinein. So ward ich was ich bin, ein Namenloser! Glücklicher Weise behielt ich in dem mich umtobenden Sturme doch Besonnenheit genug, diese Bestätigung jenes ans Fabelhafte gränzenden[54] Ereignisses nicht zu vergessen; setzte Torson hinzu, indem er noch einige Papiere hervorzog und vor Richard niederlegte.

Weiter! weiter! mahnte Richard, mit sichtbar zunehmendem Antheile.

Ich stehe an einem jener dunkeln Punkte der Geschichte meines Lebens, von denen ich schon damals Ihnen erklärte, daß ich gern auf ewig sie vergäße, erwiederte Torson mit düsterm Blicke. Erlauben Sie mir so schnell darüber hinweg zu gleiten, als die Wahrheit, zu der ich gegen Sie verpflichtet bin, es mir vergönnt.

Die schwankende Gesundheit meiner Frau erheischte ein milderes Klima; wir zogen nach Mainz. Die häusliche Glückseligkeit, in der ich so gar nichts erlebte, was nur der Rede werth war, machte mir einige Langeweile; die Nähe von Wiesbaden ließ mir nicht Ruhe noch Rast: ich fing an mir vorzukalkuliren, daß es sehr heilsam sein würde, meine hart mitgenommenen Finanzen[55] etwas zu rekrutiren, um unser splendides Leben auf die Dauer fortsetzen zu können. Genug, ich nahm meinen alten Platz am grünen Tische in Wiesbaden wieder ein, und Fortuna blieb nach wie vor mir hold.

Meine Frau erwartete indessen sehr ruhig in Mainz ihre Niederkunft; meine öfteren, doch nie mehr als höchstens zwei Tage überschreitenden Abwesenheiten, fielen nie der Arglosen auf; sie gönnte mir jede Erholung und fand es natürlich, daß ich sie aufsuchte. Von dem, was mich dahin zog, hatte das einfache Naturkind nicht einmal einen deutlichen Begriff.

Da kam eine gute Freundin! Wissen Sie, Herr Wood, was das heißt? rief Torson plötzlich mit wild blitzenden Augen, kennen Sie diese guten Freundinnen, diese Pest alles häuslichen Friedens? diese ewig nach Neuigkeiten spürenden Geschöpfe, um damit die weite trostlose Öde ihres eigenen Lebens auszufüllen, diese milden[56] Seelen, die ihre spitze Sonde so tief als möglich in jede verborgene Wunde stoßen, um die Existenz derselben, und ihr ungeheures Mitleid mit dem Leidenden auf öffentlichem Markte proclamiren zu können?

Solch ein zartes theilnehmendes Wesen bemächtigte sich während meiner Abwesenheit auch meiner armen Frau, brachte sie unter dem Vorwande einer Spazierfahrt nach Wiesbaden, führte die Arglose in den Saal.

Hinweg, hinweg mit der Erinnerung! Der Schleier war zerrissen, unser Zusammenleben eine Hölle auf Erden, von dem Tage an. Malen Sie gütigst sich selbst aus, wie das zuging, wenn Sie Lust dazu haben, ich kann's nicht! rief Torson, und warf mit bleichen verzerrten Zügen in seinen Sessel sich zurück.

Julie wurde geboren, hob er nach einer Pause wieder an: heldenmüthig hielt die unglückliche Mutter, um des Kindes willen, anderthalb Jahre[57] lang sich auf recht, dann konnte sie nicht mehr. Sie sank zusammen.

Der Sterbenden habe ich gelobt, unsre Tochter nach Königsberg in eine Familie zu bringen, welche sie in ihrer Jugend als sehr rechtlich gekannt hatte, und die Kleine als namenlose Waise so bürgerlich einfach von diesen Leuten erziehen zu lassen, wie einst ihre Mutter selbst erzogen worden war. Auch mußte ich noch schwören, das Gewerbe, das ich bis dahin getrieben, und von dem ich, wie sie wohl einsah, nie lassen könne, vor meiner Tochter ewig zu verbergen. Ich gelobte was die Sterbende von mir forderte, und habe es gehalten.

Indem Sie Anstalt trafen, fiel Richard ein, Ihr Kind in die Erziehungsanstalt der Frau Marina –

Halten Sie ein! unterbrach Torson mit großer Heftigkeit ihn: hüten Sie sich die dunkeln Gewalten, die in jeder Menschenbrust schlummern,[58] zu wecken. Versuchen Sie an mir alles was sich ertragen läßt, weiter gehen zu wollen wäre Feigheit. Bleiben Sie bei der Wahrheit, das, was auszusprechen ich Sie verhinderte, lag nicht in Ihrer Seele. Sie glauben selbst nicht daran.

Richard schwieg, Torson auch; endlich nahm dieser wieder das Wort:

Damals hatte ich keine Ahnung der Möglichkeit, daß meine Tochter mir so nahe sein könne. Seit langer, langer Zeit hatte ich nichts von ihr vernommen; wenn ich ihrer gedachte, was, zu meiner Schande, selten genug der Fall war, dachte ich sie mir ruhig bei ihren Pflegeeltern in Königsberg. Das unvergeßliche Zusammentreffen an jenem denkwürdigen Abende, Sie wissen mit wem, bewog Frau Marina, schon am folgenden Tage sich durch die Flucht gewissen Nachforschungen zu entziehen, denen sich auszusetzen ihr nicht rathsam schien. Auch ich hielt[59] ebenfalls für gut, mich wo anders hinzuwenden, und kam auf den Gedanken, meinen Weg über Königsberg zu nehmen, um mich bei der Gelegenheit nach meiner Tochter zu erkundigen.

Dort erst erfuhr ich, sie lebe in Petersburg unter der Obhut des Kapellmeisters Lange; sie also war jenes ängstlich scheue Mädchen! es war unmöglich daran zu zweifeln. Mir grauste vor dem Gedanken, wie nahe ich daran gewesen sei, in einem Anfalle verächtlichen Übermuths mein eignes Kind zu verderben. Ich eilte nach Petersburg zurück, legte mit der grünen Brille die jetzt mir selbst widerliche Maske ab, die ich dort so lange getragen, und führte als Abgesandter ihrer Eltern bei Julien und ihren Beschützern mich ein.

Doch diese Veränderung der Gestalt, in welcher sie nur einige Minuten und in der Dämmerung mich gesehn, waren nicht hinreichend, um in Julien Erinnerungen völlig zu ersticken,[60] die, wenn gleich nur dunkel, bei meinem Anblicke sich regen mochten. Ich mußte mich entschließen, unter dem Siegel des Geheimnisses, mich als ihren Vater ihr zu erkennen zu geben, um den in ihr aufkeimenden Widerwillen gegen mich nicht in ihrem Gemüthe aufkommen zu lassen.

Ich erdichtete Gefahren, die aus politischen Gründen mir drohen sollten, wenn mein Aufenthalt in Petersburg bekannt würde, und sie gelobte mir unverbrüchliche Verschwiegenheit. Arme Julie! sie selbst ist es ja, vor der ihr Vater sein eigenstes Dasein verhüllen muß! sie ist wie ihre Mutter war, fromm, einfach, schaudernd vor jedem Anscheine eines Unrechts; sie würde die Wahrheit eben so wenig ertragen können, als diese es konnte!

Mit der Darstellung meiner Gefühle für meine Tochter will ich Sie verschonen, fuhr Torson nach kurzem Schweigen fort. Trauen[61] Sie mir noch einige menschliche Empfindung zu, so wäre jedes Wort darüber vom Überfluß; halten Sie mich für eine Art von moralischem Ungeheuer, so würde alles, was ich dagegen einwenden könnte, Sie nicht anderes Sinnes machen. Doch hoffe ich, Sie werden mir die Ehre erzeigen, mir zu glauben, daß ich nichts sehnlicher wünsche, als Julien, durch die Verbindung mit einem ihrer würdigen Gatten, ein dauerndes Glück, oder wollen Sie es lieber eine Versorgung nennen? zu bereiten. Iwan Yakuchin schien mir in jeder Hinsicht dazu geeignet, es ist so leicht seine offene ehrliche Seele bis auf den Grund zu durchschauen! Auch seine und meiner Tochter gegenseitige Neigung konnte mir nicht lange verborgen bleiben; ich begünstigte diese auf jede Weise, doch durfte Iwan mein eigentliches Verhältniß zu Julien nie erfahren. Unbefangen hielt er mich für den von ihren verstorbenen Eltern ihr gesetzten Vormund, und ließ es dabei[62] bewenden. Da kamen Sie, und waren Augenzeuge der hierauf folgenden Ereignisse.

Doch sehe ich deshalb um nichts klarer; im Gegentheil, das geheimnißvolle Dunkel, das Sie um sich her verbreiten, scheint mir dichter als zuvor: erwiederte Richard.

Nicht mit meinem Willen, gewiß nicht: antwortete Torson; wenn Sie nicht absichtlich Ihr Auge dem Lichte verschließen, sollen Sie mich so offen finden, als Sie es nur wünschen können. Ich errathe den Punkt, der in diesem Augenblicke Ihren Argwohn rege macht; jene geheime Verbindung, in welche der Zufall so unerwartet als unerwünscht, Sie tiefer als Ihnen lieb ist verflochten hat.

Jahre lang, ehe Sie seine Existenz nur ahnen konnten, war dieser Bund mein Augenmerk gewesen, selbst in weiter Ferne verlor ich ihn nie aus dem Gesicht. Zum politischen Zinngießer bin ich verdorben, nie habe ich um die Verhandlungen[63] der europäischen Kabinete mich bekümmert, und wer als Kaiser oder König auf dem Throne sitzt, gilt mir völlig einerlei. Krieg oder Friede interessiren mich nur in so fern, als meine persönliche Ruhe und Sicherheit dabei betheiligt werden kann; denn bedenken Sie es wohl, ehe Sie mich deshalb verdammen, ich stehe allein in der Welt, nicht nur namenlos, sondern auch heimathslos!

Dennoch hasse und fürchte ich alles, was die in der Welt einmal hergebrachte Ordnung zu stören droht, und jener Bund, den ich beinahe von seinem Entstehen an zu beobachten Gelegenheit hatte, schien mir in dieser Hinsicht immer gefährlicher drohend sich zu entwickeln. Ich lebe nicht gern blindlings in die Welt hinein und suchte daher Mitglied desselben zu werden, damit kein möglicher Weise von ihm ausgehendes Unheil mich unvorbereitet überraschen möge; doch habe ich an seinen Verhandlungen nie thätigen[64] Antheil genommen, obgleich ich mir das Ansehn eines ungemeinen Eifers zu geben wußte. Ich rufe sie selbst zum Zeugen auf; haben Sie je als Redner mich dort auftreten sehn? oder als Beförderer der Ausbreitung des Bundes? Kaum werden Sie mich nennen gehört haben, und ohne jene nicht zu vertilgende Ähnlichkeit mit – mit mir selbst – setzte er lachend hinzu, wäre meine ganze Erscheinung vielleicht unbemerkt an Ihnen vorüber geglitten.

Was konnte Sie bestimmen, meinen treuherzigen unbesonnenen Freund in jene gefährliche Verbindung zu verflechten? rief Richard. Für die nicht vorauszusehenden fürchterlichen Folgen dieses Schrittes Sie verantwortlich machen zu wollen, wäre eine Unbilligkeit; aber ist der ganze Umfang des Unheils, das Sie damit gestiftet haben, Ihnen bekannt?

Wäre ich sonst hier? und ertrüge von Ihnen, was von irgend einem Lebenden auf Erden zu[65] dulden ich nie für möglich gehalten? erwiederte Torson. Sie selbst, Herr Wood, Ihr mysteriöses Benehmen brachte Ihren Freund dahin, Ihrem Geheimnisse nachzuforschen, indem Ihr Mangel an Vertrauen ihn verletzte und beleidigte. Lunin drängte sich an ihn, so daß ich mich entschließen mußte, selbst einzutreten, um den Verlobten meiner Tochter nicht schutzlos diesem Verworfenen zu überlassen.

Vor kurzem noch rühmten Sie sich über Lunin unbeschränkt zu gebieten, jetzt heißt er ein Verworfener: sprach Richard.

Habe ich denn dadurch, daß ich mich dessen rühmte, wie Sie es nennen, ihn für etwas Besseres geben wollen? war die Antwort. Gilt es ausdrücklich grobe Verbrechen zu verhindern, so halte ich freilich das Tigerthier an unzerreißbaren Ketten; sein Leben steht in meiner Hand, ein Wort von mir bringt ihn aufs Schafott, oder versenkt ihn auf immer in die Bergwerke[66] Sibiriens. Er weiß das, er weiß daß er mir nicht entrinnen kann, und dient mir zitternd, wie der böse Geist dem Magier dient, der ihn zu bannen verstand.

Und nun bitte ich Sie, was ich noch zu sagen habe, so ruhig als möglich, ohne Unterbrechung anzuhören; bin ich am Ende meiner Bekenntnisse, so steht es ja noch immer bei Ihnen, mir Glauben zu schenken, oder auch nicht.

Tiefer, unvergleichbar tiefer als Sie, als Ihre fürstlichen Freunde, ja, als der ganze sogenannte Rath der Alten, Pestel allein ausgenommen, bin ich in die Geheimnisse des Bundes eingedrungen, ich darf kühn behaupten, nicht minder tief als Pestel selbst. Fragen Sie mich nicht wie ich es angefangen, mich des Vertrauens dieses ausgezeichnet schlauen Kopfes zu bemächtigen, ohne ihm zugleich auch das meinige zu gewähren; die Beantwortung dieser Frage würde zu weit führen, und gehört nicht zur Sache.[67] Ich sah den Schlag von ferne sich bereiten, der alles zermalmen sollte; immer näher, immer schwärzer und schwerer, thürmte das Gewitter am Horizonte sich auf, und keine Möglichkeit mehr es abzuleiten. Meine Phantasie, die zeitlebens mich ziemlich ruhig gelassen, erwachte zum erstenmal in furchtbarer Gewalt. Verschwunden war der kalte Gleichmuth, der noch in keiner Gefahr mich verlassen; ich sah im Geiste Petersburg in Flammen, Ströme des edelsten Blutes alle Straßen durchströmen, zügellose Anarchie, diese gräßlichste der Furien, auf schwarzen bluttriefenden Schwingen, mit wüthendem Geheul über unserm Haupte schweben; sah alles untergehn, und hatte keinen Gedanken mehr als Rettung aus diesem Gräuel der Verwüstung, Rettung für meine Tochter, nicht für mich.

Von dem unabsehbaren Elende, das Allen drohte, durfte ich keinen Gedanken in Julien aufkommen lassen, das bange Mädchen wäre[68] der Last erlegen; doch unter dem Vorgeben, daß meine persönliche Sicherheit aus ganz andern Gründen dies erfordern könne, habe ich sie wochenlang auf die Möglichkeit einer schleunigen Flucht mit mir vorbereitet, und ganz unbemerkt alle nöthigen Vorkehrungen zu derselben getroffen. Nicht ohne tiefen Schmerz, aber doch ohne eigentliches Widerstreben, ergab sie sich darein, alles was ihr dort theuer war zu verlassen, und dem Vater auf unbestimmte Zeit in die Verbannung zu folgen. Der Mutter milder, zu jedem Opfer stets bereiter Sinn, ist auf ihr Kind übergegangen; auch mochte, ohne daß sie es deutlich empfand, das noch unbestimmt-schwankende Eintreten der drohenden Zukunft ihren Muth unterstützen.

Das sinnverwirrende Truggewebe, das Pestel erdacht, war endlich vollendet; in der zunächst folgenden Nacht sollte es der Versammlung vorgelegt wer den, um das blutige Werk[69] einzuleiten, das mit vorahnendem Grausen mich erfüllte. Kein Augenblick war zu verlieren. Flucht, schleunige Flucht war mein einziger Gedanke.

Als Julie zufällig etwas früher als gewöhnlich die Gesellschaft beim Kapellmeister Lange verließ, fand sie mich ganz unerwartet in ihrem Zimmer ihrer harrend. Ich ließ ihr keine Zeit zur Besinnung, wir entkamen glücklich aus dem Hause. Unsre Freunde zu warnen war mir nicht erlaubt; doch hatte ich Lunin, wenn sie in Gefahr kommen sollten, zu ihrem Schutze verpflichtet; es war der sicherste Weg, den ich zu ihrer Rettung einschlagen konnte.

Die nächste halbe Stunde traf mich und meine Tochter schon im Reisewagen, ohne Aufenthalt eilten wir auf Moskau zu; daß der verderbliche Funke unausbleiblich zünden würde, den Pestel in der folgenden Nacht in die Gemüther werfen wollte, stand nicht zu bezweifeln, aber eben so gewiß war auch vorauszusehen, daß bis[70] zum hellen Ausbruche der Flamme noch mehrere Tage vergehen mußten. Ich durfte hoffen die alte Kaiserstadt noch ruhig zu finden, obgleich mir bekannt war, daß Aufruhr und Verrath auch hier ihr dunkles Werk heimlich trieben.

Wenige Tage nach meiner Ankunft in Moskau erhielt ich von dem unerwarteten Ausgange jener gefürchteten Versammlung ausführlichen Bericht, doch leider auch von der Gefahr, in der Iwans Leben seitdem schwebte. Schonend verbarg ich sie meiner Tochter, verweilte aber in Moskau, um dort die Entscheidung über Leben und Tod abzuwarten, und wäre vermuthlich noch lange dort geblieben, hätte nicht mein alter Freund Dmitry –

Dmitry! wahrlich ein ehrenwerther Freund! lachte Richard höhnisch und überlaut.

Ruft Ihr mich, Herr? erscholl Dmitry's Stimme draußen vor der verschlossenen Thüre.

Ich glaube die ehrliche Seele steht Schildwacht,[71] um Lauscher von uns abzuhalten, und bedenkt nicht, daß Alle in diesem Hause eben so wenig Englisch verstehen, als Dmitry selbst, lachte Torson; indessen kommt er mir eben recht gelegen, um mich für einige Minuten abzulösen, daher bitte ich ihm Eintritt zu gewähren.

Richard zog mit einem ziemlich zweideutigen Gesichte und eben nicht auf die freundlichste Art den Schlüssel des Zimmers hervor, Dmitry wurde eingelassen, und bezeugte auf Torsons Aufforderung sich ungemein willig, die Geschichte seiner ersten Bekanntschaft mit diesem vorzutragen.

Aber ach! sein Geschichtsstyl war nicht der lobenswertheste; ihm fehlte gänzlich die Gabe sich kurz und deutlich auszudrücken, und es bedurfte von Torsons Seite vieler, zur Vermeidung von Umschweifen ermahnender Unterbrechungen, ehe Richard nur begriff, was er eigentlich meine. Der Kern der Geschichte war folgender:[72]

Dmitry, und sein Verwandter Ilia, waren mit wohlgefülltem Beutel vor mehreren Jahren zum erstenmale in ihrem Leben auf die Leipziger Messe gezogen, um sowohl für sich, als für einige andre Handelshäuser bedeutende Waareneinkäufe daselbst zu machen. Sie ließen sich unvorsichtiger Weise in einen jener heimlichen Spielwinkel verlocken, welche auch die sorgsamste Polizei nie gänzlich auszurotten vermögen wird, und sollten eben völlig ausgeplündert werden, als Torson, der sie gar nicht kannte, in den Saal trat.

Todtenbleich war Dmitry im Begriffe, den Rest seiner Baarschaft aufs Spiel zu setzen, während Ilia mit stierem Blicke dem letzten Häufchen vor ihm liegenden Goldes nachsah, das der Croupier einzustreichen beschäftigt war.

Fast gewaltsam riß Torson beide vom Spieltische fort, zum Saale, zum Hause hinaus, begleitete sie in ihre Wohnung, hielt ihnen dort[73] eine kurze, aber eindringliche Strafpredigt, und händigte eine Stunde später ihren ganzen Verlust ihnen wieder ein, nachdem sie eidlich sich hatten verpflichten müssen, nie wieder Karten oder Würfel zu berühren.

Wir hatten schon mehr verspielt als unser war, sprach Dmitry aus überströmendem dankbarem Herzen: wir waren damals noch junge Anfänger; unser edler Beschützer hat nicht nur unsern Wohlstand gerettet, er hat auch vor Schande uns bewahrt, was weit mehr sagen will; deshalb sind wir sein, auf Tod und Leben ihm ergeben; wir und die Unsern, und alles was wir besitzen, stehen Tag und Nacht, das ganze Jahr hindurch, zu seinem Dienste bereit; setzte er mit glänzenden Augen hinzu.

Übrigens war ich bei der Geschichte durchaus nicht auf die Weise betheiligt, wie Sie es zu glauben scheinen, nahm jetzt Torson schnell das Wort; jene Spieler waren längst als abgefeimte[74] Gauner mir bekannt, Landpiraten, mit denen in ewigem, feindseligstem Kriege zu leben, ich mir zur Pflicht mache. Ich war ausdrücklich gekommen, um sie auf der That zu ertappen, und ihnen den Garaus zu machen. Es that mir leid um die beiden stattlichen Figuren in ihrer grandiosen orientalischen Tracht, mit dem Ausdrucke banger Sorge in den fremdartigen stark hervortretenden Zügen ihrer Gesichter, auf denen das Wort Neuling so deutlich geschrieben stand. Nie in meinem Leben habe ich kaltblütig einen Hausvater, vielleicht den Versorger einer zahlreichen Familie sich zu Grunde richten sehen können, selbst dann nicht, wenn mein eigner Vortheil damit verknüpft war, und alles dabei übrigens mit rechten Dingen zuging. Bei meiner Rückkehr zu den Spielern kostete es mir wenig Mühe, sie zum Ersatze des unrechtmäßigen Gewinnes und zur schnellsten Abreise zu bewegen. Sie sahen von Einem vom Fache sich entlarvt,[75] den zu täuschen sie nicht hoffen konnten. Es ergötzt mich noch immer, wenn ich daran denke, wie froh die Spitzbuben waren, so wohlfeilen Kaufs davon gekommen zu sein.

Torson nahm nun den Faden seiner Erzählung, oder vielmehr seiner Bekenntnisse wieder auf. Ich verweilte noch in Moskau, sprach er, um Nachricht aus Petersburg zu erwarten, die meine ferneren Schritte bestimmen sollte; wahrscheinlich wäre ich noch zur jetzigen Stunde dort, doch Dmitry schreckte aus dieser gefährlichen Sicherheit warnend mich auf. Meine unerwartete plötzliche Entfernung in einem für seine Pläne so wichtigen Momente, hatten Pestels Argwohn erregt. Was er von mir befürchten mochte, weiß ich zwar so ganz eigentlich nicht; doch nach dem Ausgange seines letzten Versuchs, den er ganz anders sich gedacht hatte, war es natürlich, daß er sich eines ehemaligen Vertrauten zu bemächtigen suchte, der vielleicht ihm gefährlich werden[76] konnte. Ich sah von allen Seiten durch die in Moskau sehr zahlreichen Mitglieder des Bundes mich heimlich umstellt; die Klugheit gebot mir das Ärgste von ihnen zu erwarten.

Offener Gefahr, wenn sie mir allein gilt, bin ich stets muthig entgegen getreten; ich hätte auch die verborgene nicht gescheut, sobald ich sie entdeckte, aber mein Kind! Um Juliens willen entschloß ich mich, vor den Augen meiner heimlichen Verfolger, gleichsam ihnen unter den Händen zu verschwinden. Dmitry faßte die barocke Idee auf, mich in den eben abwesenden Kaviarhändler Grischa zu verwandeln, der wirklich in dieser nämlichen Gestalt in Moskau existirt; meine Tochter nahm die Tracht der armenischen Mädchen an; so entkamen wir bei Nacht und Nebel, unbemerkt, unerkannt, und langten unter der Leitung eines treuen Dieners des Dmitry hier an; Ilia, die dankbare Seele, nahm freudig uns auf. Wir könnten in höchster Sicherheit[77] und Ruhe hier Jahre lang hausen, denn Pestels Arm reicht nicht bis hierher; kaum der des Kaisers aller Reußen: setzte Torson lächelnd hinzu.

Richard verlangte Erklärung dieser letzten Worte. Sind wir nicht, wenn gleich nicht mehr im eigentlichen Rußland, doch noch in dem von dieser Seite fast unbegrenzten russischen Reiche? fragte er.

Wie man es nimmt, war die Antwort. Nachitschewan bildet in demselben eine, ich glaube in ihrer Art einzige Erscheinung. Freie armenische Kaufleute, die noch bis zu dieser Stunde das Städtchen ausschließend bewohnen, flohen in wilder Kriegszeit vor den Alles verheerenden Tataren aus ihrem ehemaligen Wohnsitze in der Krimm, um sich unter russischen Schutz zu begeben. Sie wurden gütig aufgenommen, erhielten, nebst bedeutenden Privilegien die Erlaubniß, sich hier niederzulassen, und bilden jetzt,[78] mitten in der riesengroßen Monarchie, eine kleine, den ehemaligen deutschen freien Reichsstädten nicht ganz unähnliche Miniatur-Republik. Ungefähr so wie jene sonst unter dem Schutze des weiland deutschen Kaisers standen, steht jetzt Nachitschewan für ein fest bestimmtes, alljährlich zu zahlendes Schutzgeld, unter dem des Beherrschers aller Reußen. Übrigens regiert es sich selbst, nach eigenen althergebrachten Gesetzen. Daß keine Seele hier an Aufruhr, heimliche Verbindungen oder Revolution nur denkt, daß man nichts sehnlicher wünscht, als daß Alles ewig so bestehe, wie es jetzt besteht, ist natürlich. Erwerb und Erhaltung des Erworbenen ist der einzige Lebenszweck dieser, nur mit dem ihnen zunächst Liegenden beschäftigten, harmlosen Leute, denen es kaum einmal im Jahre einfallen mag, daß es einen russischen Kaiser und ein russisches Reich in der Welt giebt.

Einzig auf die Gesellschaft meiner Hausleute[79] und Juliens beschränkt, habe ich mehrere Monate in der abgeschiedensten Einsamkeit – wie soll ich es nennen? existirt; denn Leben darf man solch ein Leben wohl nicht nennen, wo man der schändlichsten Langenweile zum Raube, Morgens beim Aufstehen schon nach der glücklichen Stunde sich sehnt, in der man anständiger Weise wieder zu Bette gehen kann. Wie ich es ausgehalten, ist mir unbegreiflich; nur Liebe zu meiner Tochter und eine Art Pflichtgefühl, das mächtiger mich begeisterte, als ich es mir jemals selbst zugetraut hätte, gaben mir Muth und Kraft. Überdem kannten mich nur Ilia und seine Frau, für die ganze übrige Hausgenossenschaft war und blieb ich Grischa. Die verdammte Aufgabe, diese abgeschmackte Rolle so lange durchzuführen, erschwerte mir nicht wenig mein trübseliges Leben.

Da endlich traf die Nachricht von Iwans Genesung und seiner nahen Rückkehr in seine[80] Heimath hier ein, später wurde der Besuch seiner Mutter uns angekündigt, die auf ihrem Wege zum Empfange ihres Sohnes, hier bei ihrer Jugendfreundin Selina einsprechen wollte. Jetzt athmete ich wieder auf! Mir war wie Einem, dem nach langer harter Klausur seine nahe Befreiung verkündigt wird. Julie erfuhr nun alles, Iwans glücklich überstandene Lebensgefahr, seine und seiner Mutter nahe Ankunft, aber auch, daß meine verwickelten gefährlichen Verhältnisse mir nicht erlaubten, bis zu Iwans Ankunft hier zu verweilen. Unter Ilias Schutz, der sich heilig verpflichtete, Vaterstelle bei ihr zu vertreten, sollte sie ihren Verlobten erwarten, und dann als seine glückliche Gattin in die Heimath mit ihm ziehn. Julie ergab sich in jede meiner Anordnungen, das einfache Kind gefällt sich in diesem, von der Natur so begünstigten Lande Von mir auf immer sich zu trennen,[81] war ihr freilich ein Hartes! Auch mir war es eine schwere Stunde, aber meines Bleibens ist hier nicht länger. Es benimmt mir Luft und Licht und Lebensmuth; mir ist, wie es im schönsten, wärmsten Sonnenscheine einem Fische auf trockenem Sande sein mag. Zurück, zurück muß ich in den Strudel des Lebens, zurück in mein Element, wenn ich nicht vergehen soll; muß wieder fürchten und hoffen und erwarten, bei Kerzenschein, auf dem grünen Felde, wo Fortuna, meine Göttin – doch genug!

Als Grischa kehrte ich nach Moskau zurück; mein erster Ausgang war nach dem Palaste des Fürsten Andreas, um etwas von Iwan zu erfahren; dort traf ich Sie, mir war als begegne ich einer himmlischen Erscheinung; denn daß Sie in Ihrem, mir wohl bekannten bedeutenden Verhältnisse Ihren Freund begleiten könnten, wäre selbst im Traume mir nicht eingefallen. Mein Entschluß, Ihnen hierher zu folgen, war augenblicklich[82] gefaßt; Dmitry half mir zur Ausführung desselben, wie Sie wissen.

Und was erwarten Sie jetzt von unserm Zusammentreffen? was verlangen Sie von mir? fragte Richard ziemlich kalt, aber eben nicht unfreundlich.

Was ich von keinem Andern verlangen möchte noch könnte, erwiederte Torson; ich kenne Sie und weiß, daß Sie nicht fähig sind, ein Ihnen geschenktes Vertrauen zu mißbrauchen. Überdem baue ich fest auf Ihr mir genau bekanntes Verhältniß zu jenem großen Hause, das wie zu demselben gehörend Sie jetzt schon betrachtet.

Daß ich vor Iwan als Juliens Vater zu erscheinen mich nicht entschließen kann, werden Sie sich selbst erklären, wenn Sie an so manches Vergangene zurückdenken wollen, zum Beispiel an den Brillen-Baron, und noch an Vielerlei und Mancherlei, das mit dem Respecte gegen seinen Schwiegerpapa sich schlecht vertragen[83] würde. – Ich wollte freilich jetzt es wäre anders, und wir Beide, er und ich, etwas weniger mit einander bekannt, aber es ist nun einmal wie es ist: setzte er die Achseln zuckend hinzu: auch möchte ich, wie Sie wissen, die Wiederholung der Abschiedsscene mir und Julien gern ersparen.

Und so sei es denn gewagt! ich lege die Zukunft meiner verwaisten, verlassenen Tochter in Ihre Hände! Nehmen Sie, gleich einem ältern Bruder, des armen Mädchens sich an. Daß ich in keinem andern Verhältnisse, als dem von der Natur geheiligten, des Vaters zu seinem Kinde zu ihr stehe, davon sind Sie überzeugt, denn die Beweise liegen in Ihrer Hand. Mögen Sie in jeder andern Hinsicht von mir denken, wie Sie wollen, ich ergebe mich darein, und weiß nicht, ob ich nicht sogar wünschen sollte, Sie möchten mich in Ihrer Meinung recht tief herabsetzen; denn dieses wäre v elleicht für Sie der[84] triftigste Beweggrund zur Erfüllung meines Wunsches!

Hier schwieg Torson, indem er einen halb fragenden, halb bittenden Blick auf Richard warf.

Dieser saß einen Augenblick wie unschlüssig da; erklären Sie sich deutlicher, setzen Sie mir umständlicher auseinander, was ich für die Braut meines Freundes thun soll und kann; sprach er endlich, und reichte unwillkürlich quer über den Tisch hin Torson die Hand.

Sie wissen jetzt Alles, klären Sie Iwan über mein Verhältniß zu Julien auf, über die Gründe, die mich zur Flucht mit ihr bewogen, über alles was in meinem und Juliens Betragen ihm zweifelhaft, oder auch nur auffallend scheint; fuhr Torson fort, ermuthigt durch Richards sichtbar gegen ihn veränderte Stimmung. Suchen Sie Iwans Mutter für die Verbindung des jungen Paares zu gewinnen, und möge dann Julie, als Gattin des Mannes den sie liebt,[85] mit ihm in sein schönes Vaterland ziehen, und glücklich sein.

Ist aber alles wirklich anders geworden, hat Iwan sein Herz von ihr abgewendet, weigern sich seine Mutter und seine Verwandten, eine Fremde in ihrer Mitte aufzunehmen, nun dann! dann! setzte er sehr bewegt hinzu, dann suchen Sie dem unglücklichen Mädchen Muth einzusprechen, und führen es zurück nach Petersburg, zurück in das Asyl ihrer Jugend, dem ich sie nie hätte entreißen sollen. Vertreten Sie Julien bei den ihr einst so günstig gestimmten Freunden, erklären Sie ihnen den Zusammenhang der Begebenheiten, so viel Sie dieses können, ohne das Geheimniß des Bundes zu verrathen. Frau Karoline wird die Arme, die mit einem so großen Schmerze zu ihr flüchtet, nicht verlassen, und Lange auch nicht, davon bin ich überzeugt, wie von meinem Leben.

Übrigens tritt meine Tochter nicht als Bettlerin[86] auf; in diesem Portefeuille übergebe ich Ihnen Juliens Vermögen – weisen Sie es nicht vornehm zurück, Herr Wood; kein Kopeken von dem, was Sie oder Andre, billiger oder unbilliger Weise, unrecht erworbenes Gut nennen möchten, befindet sich darunter, sprach Torson ein wenig gereizt, als Richard mit verweigernder Geberde sich abwandte: es ist das auf meine Tochter rechtmäßig vererbte Eigenthum ihrer verstorbenen Mutter, das ich hier zu gewissenhafter Verwaltung Ihnen, als ihrem Vormunde, übergebe.

Haben Sie denn jenes Linsengericht ganz vergessen, für welches ich meinen Verwandten damals meine Ansprüche auf die Güter und den Namen meiner Ahnen überließ? setzte er, schnell sich wieder fassend, heiterer hinzu. Zwar hatte ich einen schlechten Handel gemacht, aber die Summe war an und für sich nicht ganz unbedeutend. Sobald eine schickliche Gelegenheit dazu[87] sich auffinden ließ, eilte ich sie meiner Frau als ihr Eingebrachtes zu verschreiben, um die Zukunft dieses geliebten Wesens außerhalb des Bereiches meines eignen Geschicks festzustellen. Beinahe zwanzig Jahre lang habe ich die Zinsen immer wieder zum Kapitale schlagen lassen; und so ist es denn jetzt, fast verdoppelt, zu einer Summe angewachsen, die Julien zwar nicht zur reichen Erbin macht, aber doch für den schlimmsten Fall ihr Unabhängigkeit zusichert.


Mit sich, mit Torson, ja mit der ganzen Welt vollkommen zufrieden, voll moralischer Betrachtungen über die tadelnswürdige Eilfertigkeit, mit der man zu einseitigen, unüberlegten Verurtheilungen sich hinreißen läßt, ohne sich die Mühe zu geben, auch die etwanigen guten Seiten des Bösewichts, den man verdammt, aufspüren zu wollen, machte Richard sich bereit, die ihm sehr[88] schwierig dünkende Beruhigung seines, bis zum wüthendsten Zorne gereizten Freundes zu unternehmen.

Der Mutter verständige Vorstellungen, das Zeugniß der vieljährigen Freunde seiner Eltern, Ilia und Selina, vor allem aber die durch das flüchtigste Wiedersehn der Geliebten neubelebte Liebe, hatten indessen alles schon vollendet, und den grimmigen Löwen gebändigt. Lammsfromm saß er zwischen der Mutter und Julien; von Geschwistern und Freunden umringt, lächelnd wie die personificirte Zufriedenheit, reichte er dem erstaunten Richard bei dessen Eintritt die Hand entgegen, und für diesen blieb nichts mehr zu thun übrig, als die Ermahnungen, auf die er sich vorbereitet hatte, in tief aus dem Herzen kommende Glückwünsche umzuwandeln.

Wehe dem Novellisten, der sich nicht daran genügen lassen will, ein liebendes Paar durch allerlei Widerwärtigkeiten bis zu den Stufen des[89] Altars glücklich geleitet zu haben; der Versuch, nach dieser alles beendenden Catastrophe noch etwas Interessantes vorzutragen, fällt selten belohnend aus. Daher sei hier nur noch in möglicher Kürze erwähnt, daß Iwan auf Treue und Glauben alles für wahr annahm, was Richard im Namen des Vaters seiner Braut ihm mittheilte, ohne daß er deshalb die mindeste Sehnsucht bezeigt hätte, diesen wiederzusehn; denn seine offne treue Natur konnte den Mangel an Vertrauen, den Torson ihm bewiesen, zwar verzeihen, aber weder verwinden noch vergessen.

Übrigens war Iwan in der Umgebung der Seinen der einfache Sohn des Gebirgs wieder geworden, der er gewesen, ehe das größere Leben ihn umfing. Außer dem Freunde und der Geliebten war alles, was zwischen dem Tage seines Abschieds von der Heimath und der gegenwärtigen Zeit lag, versunken und vergessen; an Juliens Seite wandte er nur der Zukunft[90] sich zu und eine unabsehbare Reihe von Jahren, im heitersten Sonnenglanze des friedlichsten Glückes, breitete vor seinem Blicke sich aus.

Spät nach Mitternacht, als in ganz Nachitschewan kein Auge mehr offen stand, erschien Torson reisefertig, um von Richard Abschied zu nehmen. Zwischen diesen beiden bedurfte es keiner weitern Erläuterungen, Torson war durch Dmitry von allem was sich zugetragen umständlich unterrichtet.

Ich werde weder Petersburg noch Moskau jemals wiedersehen, sprach Torson im Augenblicke des Scheidens: ich wähle den geraden Weg nach Odessa, von wo ich leicht überall hingelangen kann, wohin Schicksal oder eigne Laune mir winken. Wir beide treffen wahrscheinlich nie wieder zusammen, auch weiß ich nicht, ob dies wünschenswerth wäre; doch werde ich Sie nie vergessen, und Sie mich wahrscheinlich auch nicht.

Iwan, die Mutter und Geschwister desselben,[91] Ilia, Selina und Julie, die einstweilen noch als unter dem Schutze jenes gastlichen Paares stehend betrachtet wurde, sie Alle bereiteten sich, in den nächsten Tagen in die ziemlich nahe liegenden Bäder von Kislawodsk sich zu begeben, und dort die Ankunft des Vaters Yakuchin zur Hochzeitsfeier zu erwarten.

Richard freute sich unbeschreiblich auf diese Reise; die erste Hälfte seines Urlaubs war noch nicht völlig abgelaufen, er durfte es sich erlauben, wenigstens einige Tage in jenen paradiesisch schönen Gegenden mit seinem Freunde fröhlich zu sein, mit dem er so viel herbes Leid treulich getragen. Doch als der Tag, die Stunde der Abreise nun festgesetzt war, da ergriff ihn plötzlich eine unerklärliche, ahnungsschwere Bangigkeit. Wachend und im Traume war ihm, als riefen ängstliche Stimmen aus weiter Ferne ihn bei Namen, als fühle er von unsichtbaren Händen sich heimwärts gezogen, und vermochte nicht diesem[92] Gefühle, das immer vernehmlicher sich aussprach, zu widerstehen.

Richard, Du gehst! sprach Iwan in der letzten schmerzlichen Umarmung: und in Dir verläßt mich mein Schutzengel, der Schöpfer meines Glückes, dem ich Alles verdanke, mein Leben und, was mehr ist, meine Genesung aus einem Zustande, an den ich nicht zurückdenken darf. Du gehst von schwerer Ahnung getrieben, und ich bleibe in banger Sorge um Dich zurück. Denke an mich, nicht wie man so im gemeinen Leben zu sagen pflegt, denke an mich wenn es Dir wohl geht; da magst Du immerhin mein vergessen: aber wenn einst Alles um Dich her zusammenbricht, wenn Deine schönsten Hoffnungen in Rauch aufgehen, dann, Richy, dann denke an Iwan, und reiße von allem Flittertande Dich los, und fliehe zu mir in meine stille friedliche Hütte, und ruhe bei uns vom Schmerze des Lebens aus. Gieb mir die Hand darauf,[93] daß Du es thun willst, versprich es mir, mein Bruder!

Richard that wie Iwan es wollte, und entfernte sich schleunigst, ohne noch einmal den Blick rückwärts zu wenden.


Richards Ankunft in Petersburg fiel gerade in eine Epoche, welche in jeder bedeutenden Stadt, besonders in jeder großen oder auch winzig kleinen Residenz, einmal im Jahre regelmäßig eintritt, wo alle Welt klagt: die Stadt ist verödet! Alles wie ausgestorben! obgleich das Leben in seinem gewohnten Gange sich rasch fortbewegt, Equipagen rollen, geputzte Leute überall sich zeigen, Jedermann wie gewöhnlich seine Geschäfte betreibt, und man diese angebliche Öde weder auf den Promenaden, noch in den Straßen sonderlich gewahr wird.

Diese Zeit des allgemeinen Stillstandes, der[94] im Grunde keiner ist, übt ihre lähmende Kraft hauptsächlich nur auf die wenigen daheim Gebliebenen, jenen der Zahl nach kleinsten Theil der Bevölkerung, welcher sich vorzugsweise die Societät nennt. Die Abwesenheit des Hofes zieht auch die der angesehensten Familien nach sich, und so fand es auch Richard bei seiner Heimkehr. Einige große Familien hatten bedeutende Reisen in fremde Länder angetreten; Andre hatten auf ihre, oft seit vielen Jahren nicht besuchten Besitzungen sich begeben, und unter diesen befand sich auch Fürst Andreas, der mit seinem Sohne Eugen auf einer seiner weit entfernten Herrschaften den Zustand seiner viel tausend, lange nicht von ihm in nähere Betrachtung gezogenen Seelen, und der von ihm dort angelegten Fabriken untersuchte.

Graf Stephan befand sich mit seiner Familie in Berlin, um bei den dortigen berühmten Ärzten für seine immer leidende Gemahlin Hülfe zu[95] suchen. Und was für Richard das Betrübendste war, auch die Fürstin Eudoxia, begleitet von ihren beiden Töchtern und ihrem Schwiegersohne, war nach Karlsbad gegangen. Sogar Alex war abwesend, sein Urlaub war abgelaufen und Dienstpflicht hielt den jungen Officier in Kronstadt fest.

Keiner hatte daher wohl gerechteren Grund sich zu beklagen als Richard, dem ohnehin diese gänzliche Verlassenheit um so schmerzlicher auffallen mußte, da er auf keine Weise darauf vorbereitet war. Die weite Entfernung des Ziels seiner Reise, die Eile, mit welcher er sie zurücklegte, hatte jede briefliche Mittheilung fast unmöglich gemacht; gewiegt in goldne Träume des nahenden Wiedersehens, hatte er keine Ruhe sich gegönnt, um noch vor völliger Beendigung seines Urlaubs anzulangen, und fand sich nun zu Hause, als wäre er in der Fremde.

Anfangs wollte die heimliche Angst, die ihn von seinem Freunde fortgetrieben, und die während[96] der Reise von ihm gewichen war, sich seiner wieder bemächtigen; doch als er die ersten Tage des Mißmuths überstanden und reiflich bedacht hatte, daß aufgeschoben nicht aufgehoben sei, fing er an etwas unbefangener um sich zu blicken. Er entdeckte jetzt manches, das ihn tröstete und heiter stimmte, und mußte sich selbst bekennen, daß dieser fast total isolirte Zustand, in den er für den Augenblick sich versetzt sah, eben wie alle Übel der Welt, doch auch seine gute Seite habe; denn auch Obrist Pestel und mit ihm alle die eifrigsten Anhänger jenes Bundes, waren aus Petersburg verschwunden, hierhin, dorthin, in alle vier Winde hin.

Keine Spur eines Vereinigungspunktes ließ sich entdecken; es ereignete sich zuweilen, daß Richard mit mehreren ihm wohlbekannten Bundesbrüdern an öffentlichen Orten, oder auch in engeren geselligen Kreisen junger Leute zusammentraf, doch kein Wort, kein Blick, nicht die[97] leiseste Anspielung verrieth jemals, daß man jener, einst die Gemüther so gewaltsam exaltirenden Verhältnisse, sich auf das entfernteste nur noch erinnere; es war als wären sie nie gewesen. Gewiß, gewiß, es konnte nicht anders sein, der Fürst, als er behauptete, der Bund sinke von nun an in sich selbst der Vernichtung zu, hatte weder sich noch Richard getäuscht; diese Überzeugung, die immer klarer sich ihm entgegen drängte, erfüllte ihn mit einem gewissen behaglichen Gefühle ruhiger Sicherheit, das seit seinem Eintritte in den Bund ihm ganz fremd geworden war, und ihm jetzt unbeschreiblich wohl that.


Seine genußreichsten fröhlichsten Stunden brachte Richard jetzt beim Kapellmeister Lange zu. Bei seiner übereilten Abreise hatte er die treuen Freunde verlassen müssen, ohne von ihnen Abschied nehmen zu können; er fand sie bei seiner[98] Wiederkehr zwar ruhiger, als sie gleich nach Juliens Flucht es gewesen, aber immer noch niedergebeugt, einsam, mit tief verletztem Gemüthe. Sein erstes Erscheinen, die freudige Botschaft, die er vom Kaukasus mitbrachte, wirkte auf Beide, wie, nach Monaten versengender Dürre, ein milder Regen auf die verschmachtende Pflanzenwelt wirkt.

Von neuem Jugendmuthe beseelt, erhoben sich Beide aus der ihnen so wenig natürlichen trübseligen Stimmung; Frau Karoline lachte und weinte in einem Athem, ehe sie für ihre Freude Worte fand; dem Kapellmeister fehlten diese ganz und gar; verstummend warf er seine goldbetroddelte Mütze von einem Ohre zum andern, riß sein Pianoforte auf und jubelte darauf so lange und kräftig herum, bis die Saiten es nicht mehr aushielten, tanzte und walzte mit seiner Frau, mit Richard, mit den Möbeln im Zimmer, bis keines derselben mehr auf seiner alten Stelle stehen[99] geblieben war, bis er zuletzt athemlos hinsank.

Ihr meint wohl, ich sei närrisch geworden? keuchte er endlich: und Gott sei Dank, ich bin es auch.

Alter! bin ich es denn nicht? wer über gewisse Dinge nicht den Verstand verliert, der hat keinen zu verlieren! spricht die Gräfin Orsina, fuhr Frau Karoline in ihrer gewohnten theatralischen Manier dazwischen, und brach hernach selbst über die seltsame Anwendung dieser Worte in lautes herzliches Lachen aus.

Daß ich das erlebe! daß ich wieder denken und singen und sagen kann, es giebt noch Treu und Glauben in der Welt! darum verlohnt es sich auch noch der Mühe, ein paar Jährchen in ihr es auszuhalten, sprach ihr entzückter Gatte indessen leise vor sich hin, und wiegte lächelnd das Haupt von einer Seite zur andern. Julie hat uns nicht hintergangen, ist brav und glücklich,[100] selbst Torson ist so pechschwarz nicht als er schien! Wie das Alles im Kopfe mir herumwirbelt! rief er, sprang auf, setzte sich wieder an den Flügel, und ließ nun in Tönen beredter als in Worten seine Freude, seinen Dank ausströmen; Richard und Karoline hörten in stiller Andacht ihm zu.

Von nun an war des Erzählens von der einen, des Fragens von der andern Seite kein Ende, so oft Richard sich zeigte; und dieser ließ selten einen Tag vergehen, ohne die treuen Freunde zu besuchen. Immer hatten sie Julien als ganz zu ihnen gehörend betrachtet, das Bewußtsein, ihr, wenn auch gleich nur in Gedanken, Unrecht gethan zu haben, machte sie ihnen noch theurer, und flößte für alles, was auf sie Bezug hatte, die lebhafteste Theilnahme ihnen ein. Die guten Leute sannen Tag und Nacht darüber nach, wie sie ihr eine Freude machen könnten, um das ihr zugefügte Leid, von welchem sie jedoch gar nichts empfunden, einigermaßen zu vergüten,[101] und wünschten nichts sehnlicher, als sie noch einmal zu sehen, um es ihr abzubitten.


Auf den Flügeln der herbstlichen Äquinoctialstürme entfloh der kurze nordische Sommer, und von allen Seiten kehrten die Reisenden an den heimathlichen Heerd zurück. Täglich gab es ein Fest des Wiedersehens zu feiern, und auch Richard ging dabei nicht leer aus, denn auch er begegnete bei jedem Schritte lange vermißten Freunden und Bekannten, bis endlich zur glücklichsten Stunde auch Helena mit den Ihrigen heimkehrte. Nur der Fürst und Eugen fehlten noch, und auch Graf Stephan, von den Leiden seiner geliebten Frau in Berlin festgehalten.

Richard verlebte jetzt Tage des ungestörtesten Glückes, ohne daß deshalb in seinen äußern Verhältnissen die kleinste Abänderung eingetreten wäre. Befreit von jenen quälenden Besorgnissen,[102] die ihn früher Tag und Nacht verfolgten, die selbst an der Seite der Geliebten ihn nur um so entsetzlicher peinigten, gab er jetzt der lang entbehrten seligen Gegenwart sich hin, und suchte jedem Gedanken an seine noch immer tief verschleierte Zukunft auszuweichen, selbst wenn der Fürstin Eudoxia sich immer gleichbleibende Nachsicht, ja ihr mütterliches Benehmen gegen ihn, als ein unbegreifliches Räthsel vor ihm stand, an dessen Lösung er nicht ohne bange Ahnung denken konnte.

Traue meinem Vater, der uns wohl will, und genieße der guten Stunden, die er uns gönnt, ohne weiter darüber nachzugrübeln; glaube fest, er weiß was er thut, und ist unfähig, das Glück unsers Lebens muthwillig aufs Spiel zu setzen; sprach dann lächelnd Helena, und wie gern gab er der holden Trösterin nach!

So ging die Zeit hin; das Karneval mit seinen glänzenden Festen nahte sich seinem Ende;[103] Frühlingsahnung regte sich in jeder Brust; denn obgleich der Winter noch immer das Regiment führte, schien er doch allmälig die Strenge desselben mildern zu wollen. Helena und Richard sahen still freudig der Rückkehr des Fürsten entgegen, die sie innerhalb weniger Wochen erwarten durften, doch von Eugen blieben sie ohne alle Nachricht. Keiner, auch nicht Eudoxia, kannte seinen jetzigen Aufenthalt, und da der Vater sich nicht geneigt bezeigte, sich über denselben in seinen Briefen zu äußern, so durfte Niemand es wagen, deshalb in ihn dringen zu wollen. Selbst die Fürstin war zu dieser zurückhaltenden Bescheidenheit von ihrem Gemahl früh gewöhnt worden.

Was wird es denn auch Großes sein! lächelte Helena: irgend eine neue Anstalt, eine Schule für Bauernkinder, oder eine ausländische Erfindung, mit der wir überrascht werden sollen, und über deren Ausführung Eugen die Oberaufsicht[104] übertragen worden ist. Warum sollten wir vorwitzig dem guten Vater diese Freude verderben?


Wunderlich genug hatte es gerade in dieser Zeit dem Strumpffabrikanten Wood, der jetzt ein in seiner Art sehr bedeutender, reicher Mann geworden war, gefallen, sich einmal seines Sohnes zu erinnern, an den er seit Jahren nicht gedacht hatte, so wenig als der geneigte Leser an den alten Herrn in Nottingham gedacht haben mag. Ein für ein Haus in Manchester Reisender kam mit Empfehlungen und Briefen für Richard an; eigentlich eine vornehmere Art Muster-Reiter, beladen mit Vorschlägen zu Speculationen und kaufmännischen Anerbietungen, zu deren Ausführung er durch Richards Fürwort zu gelangen angewiesen war.

Master Mitchell, so hieß der ehrliche John Bull, der gleich in der ersten Stunde dem armen[105] Richard ungemein lästig erschien, suchte auf seine Art sich so angenehm zu machen, als möglich; er packte mit großer Förmlichkeit ein paar Dutzend Briefe von Eltern, Geschwistern, Vettern und Basen aus, die er, nicht ohne einiges Risiko, über die Grenze geschmuggelt hatte; und wußte Unendliches von den Billys und Tommys und Peggys und Pattys zu erzählen, die alle auf Richards brüderliche Zärtlichkeit Anspruch machten, und deren Namen, ja zum Theil deren Existenz ihm nicht einmal bekannt war; denn seit seiner Entfernung aus dem väterlichen Hause hatte die damals schon große Anzahl seiner Geschwister sich noch beträchtlich vermehrt.

Solche zwar selten, aber doch im Verlaufe einiger Jahre immer wiederkehrenden Erinnerungen an seine Familie, ergriffen ihn allemal mit dem drückenden Gefühle versäumter Pflicht, indem sie zugleich seine eigentlich doch sehr unbestimmte, einzig und allein auf das fortgesetzte Wohlwollen[106] mächtiger Gönner beruhende Stellung, ihm wieder fühlbarer machten. Doch war bis jetzt, und auch diesmal, keine betrübende Nachricht ihm über's Meer zugekommen; seine Eltern lebten in täglich sich mehrendem Wohlstande, keines seiner Geschwister, deren Anzahl er selbst nicht mehr genau wußte, hatte der Tod ihm entrissen. Er fühlte es als schwere Verpflichtung, dieses als ein großes Glück anzuerkennen, und zürnte sich selbst, daß es ihm damit nicht recht gelingen wollte. Aber das Alles lag ihm so fern, war ohne sein Zuthun ihm so entfremdet, daß es ihm durchaus unmöglich blieb, den warmen Antheil daran zu nehmen, den er seinem Herzen aufzudringen sich fruchtlos bemühte.

Um aber doch einigermaßen seine Pflicht eines guten Sohnes zu erfüllen, that er alles nur Ersinnliche für seinen unbequemen Gast, der aber leider als durchaus nicht amüsabel sich auswieß.[107] Von allem was Richard ihm zeigte, gefiel ihm durchaus nichts, denn es war nicht wie in Alt-England; die Sitten und Gewohnheiten der großen englischen Kaufleute, in deren Häusern ihn Richard einführte, fand er so aus der Art geschlagen, daß er gewiß keinen Fuß wieder hinein gesetzt haben würde, hätte nicht die Hoffnung, irgend ein bedeutendes Geschäft mit ihnen zu machen, ihn dazu bewogen.

Indessen wollte Richard doch nichts unversucht lassen; um dem widerhärigen Insulaner wenigstens einen anschaulichen Begriff von der Größe, dem überschwänglich reichen Leben der prachtvollen Kaiserstadt zu gewähren, führte er ihn auf den großen Maskenball, den letzten in dieser Saison, und folglich auch den besuchtesten und glänzendsten, den selbst der kaiserliche Hof diesmal durch seine Gegenwart verherrlichte.

Als ob die Bevölkerung eines ganzen Landes in Lust und Freude sich versammelt hätte,[108] so drängen die vielen Tausende, deren Zahl auszusprechen man sich scheut, um nicht der Übertreibung beschuldigt zu werden, in weiten Sälen sich umher, deren Ende unerreichbar scheint. Der Fremde, der seinen Begleiter nur eine Secunde aus den Augen läßt, ist von dem Moment an verloren, wie ein Tropfen im Meere. Fortgerissen von dem unglaublichen Gewühle, kann er bis zum anbrechenden Morgen fortwandern, ohne ihn oder auch nur einen Punkt anzutreffen, der ihm einigermaßen sich zu orientiren dienen könnte. Diesmal erreichte Richard seinen Zweck. Das ist groß! das ist stupend! sprach Mr. Mitchell, und ließ, an Richards Arm fest angeklammert, sich wohlgefällig vorwärts schieben.

Croyan oder adhéran? flüsterte eine scharf betonte Stimme dicht an Richards Ohr. Ganz unwillkürlich sah er nach dem, der diese ihm ganz unverständlichen Worte gesprochen hatte,[109] sich um. Ein Ruck – und der unselige Engländer war im nämlichen Momente von ihm getrennt, kaum sah er noch weit vorne im Strudel der Menge ihn schwanken, dann war er verloren, ohne Hoffnung, ihn sobald wieder zu finden.

Ein riesengroßer Domino hatte an dessen Stelle sich gedrängt und Richards Arm ergriffen. Sei unbekümmert, Brüderchen, er ist wohl beschützt und wird zur rechten Zeit Dir wieder übergeben. Ich muß Dich sprechen und habe Eile, sprach leise, aber vernehmlich, der Domino ihm abermals in's Ohr.

Du bist's? Du wagst es? rief Richard überlaut, indem er jetzt die Stimme zu seinem großen Schrecken erkannte. Die Musik und das Geräusch um ihn her übertönten glücklicher Weise diese Worte; unwillig winkte die Maske ihm zu schweigen, zog ihn rascher mit sich fort, wand mit auffallender Lokalkenntniß auf allerhand[110] Seitenwegen sich mit ihm durch das Gedränge in einen abgelegenen Korridor, drückte gegen eine Wand, sie gab nach, eine verborgene Tapeten-Thür drehte unhörbar sich auf ihren Angeln.

Da wären wir nun, wo der Teufel selbst seine Jungen nicht fände! lachte Lunin, den die Alles errathenden Leser wahrscheinlich längst erkannt haben, indem er Richard in ein geräumiges aber schwach erleuchtetes Zimmer schob. Fünf oder sechs junge Leute, welche den Eintretenden nicht zu bemerken schienen, saßen bei Punsch und Würfelspiel in einer Ecke.

Und nun, Brüderchen, setze Dich hierher, brich los mit Schelten und Ermahnen, aber fasse Dich kurz: sprach Lunin, indem er Richard in ein entferntes Fenster zog, wo halb von den Draperien bedeckt Wein und Gläser bereit standen.

Lunin! rief Richard, hoffte ich doch Deine verhaßte Gestalt nie wieder zu sehn.[111]

Sei nicht unhöflich, erwiederte lachend Lunin: was hast Du gegen meine Gestalt, wenn sie mir nur recht ist? Die langen Beine da haben mir schon aus mancher Patsche geholfen! setzte er hinzu, indem er in seinem Sessel sich zurücklehnte, sie weit ausstreckte und in der Luft damit lustig herum vagirte. Aber nun zur Sache: was hast Du mir zu sagen?

Ich Dir? was hätte ich mit Dir zu schaffen? antwortete Richard mit dem Ausdrucke tiefster Verachtung.

So stehts? desto besser, dann kommen wir um so eher auseinander, erwiederte Lunin sehr gleichmüthig: ich aber habe allerlei Aufträge an Dich, von meinem Alten, Du weißt wohl. Ich gehe von hier gerade zu ihm nach Odessa; ich thue es nicht gern, aber ich muß wollen, wie er will, das Ding hat zwischen uns so seinen eignen Haken. Hast Du an ihn etwas zu bestellen? Nicht? auch gut. Dann soll ich mit[112] Feinheit von Dir herausbringen, aber das ist meine Sache nicht, also frage ich Dich lieber gerade heraus, in meines Alten Namen, bist Du Croyan oder schon zum Adhéran avancirt?

Du avancirst wohl mit nächstem ins Narren-Haus: erwiederte Richard ungeduldig auffahrend.

Also noch die pure liebe Unschuld? fuhr Lunin fort, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen: da kann ich also ohne weitere Umstände meinen Auftrag an Dich frei von der Leber weg ausrichten. Der mich sendet läßt Dir empfehlen wohl aufzumerken, wo Du jene Worte aussprechen hörst. Die böse Teufelssaat ginge wieder auf, und die sieben Köpfe der alten Hydra gewönnen wieder neues Leben. Fahr wohl! auf nimmer wiedersehn! mit Tagesanbruch bin ich auf dem Wege nach Odessa. Du bleibst ruhig hier, bis Dein Seekalb kommt, es wird nicht lange ausbleiben.[113]

Die Tapetenthüre drehte sich wieder, Lunin war verschwunden, Richard saß da und wußte nicht genau ob er wache oder träume. Ihm war grauenhaft zu Muthe, Lunins kurze gespensterartige Erscheinung, die wenigen Worte, die er von ihm vernommen, machten ihn zweifelhaft, ob man einen übel angebrachten Scherz mit ihm treiben wolle, oder ob jene Worte wirklich eine Bedeutung hätten, die in dem Sinne genommen, in welchem er sie zu nehmen habe, ihn von neuem mit den peinigendsten Besorgnissen erfüllen mußte.


Seit Lunin und Richard das Zimmer betreten, hatte die Gesellschaft am andern Tische, ohne großen Lärm dabei zu machen, ihr Wesen vor sich hin getrieben. Das Klappern der Würfel, daß Klingen der angestoßenen Gläser, ging so gleichförmig, man könnte sagen so taktmäßig[114] vor sich, daß es dadurch das Störende verlor, und von dem in seinem dunkeln Ecken sitzenden Richard eben so unbeachtet blieb als der das Fenster umsausende Nachtwind; im Gegentheil, es versenkte ihn nur noch tiefer in jene unbestimmten Träumereien, denen er beinah gedankenlos sich überließ, statt ihn daraus zu erwecken.

Wem es gelungen ist in der Nähe einer Mühle einschlafen zu können, der wird, wie man behauptet, nur um so fester schlafen, so lange die Mühle im Gange bleibt. Doch werden ihre Räder gehemmt, so erwacht er, und es ist um seinen Schlaf gethan. Ähnliches erfuhr Richard.

Die Punschquelle an jenem Tische war vermuthlich versiegt, die Spiellust befriedigt; das Klingen der Gläser, das Klappern der Würfel nahm plötzlich ein Ende, leise drehte sich wieder die Tapetenthüre: ein neu Ankommender gesellte[115] jener Gesellschaft sich zu. Die Stühle wurden dichter zusammengeschoben; mit den Ellbogen auf dem Tische, die Köpfe zusammen gesteckt, begann unter ihnen ein eifriges, flüsterndes Gespräch, weit leiser als die vorhin geführte Unterhaltung; Richard fuhr über diese plötzlich eintretende Veränderung aus seiner Versunkenheit in sich selbst auf, und erinnerte sich jetzt erst der Nähe einer Gesellschaft, deren Dasein er völlig vergessen gehabt hatte.

Jetzt erst fiel es ihm auf, daß auch er wahrscheinlich eben so unbemerkt geblieben sei, was in nicht geringe Verlegenheit ihn versetzte. Sein Gefühl für Ehre und Schicklichkeit erlaubte ihm nicht, noch ferner ohne Wissen der Anwesenden hier zu verweilen und verborgener Zeuge einer Unterhaltung zu werden, die mit immer steigendem Interesse geführt zu werden schien; verließ er aber das Zimmer, so konnte er kaum noch hoffen, in der ungeheuren Menschenmasse[116] seinen Begleiter aufzufinden, den hier zu erwarten er angewiesen war, und die vielleicht gefährlichen Verlegenheiten ließen sich gar nicht absehen, in welche dieser bei seiner widerhärigen Unbeholfenheit gerathen konnte, wenn er für den übrigen Theil der Nacht seiner eignen Leitung überlassen blieb.

Nach allen diesen Überlegungen hatte Richard zuletzt beschlossen hervorzutreten, um seine Gegenwart und die Veranlassung derselben kund zu thun, die ihn zwang, einen von ihm eingeführten, der Localitäten ganz unkundigen Fremden hier zu erwarten, als ein einziges Wort, deutlicher als alle übrigen sein Ohr traf, und augenblicklich an seinem Platze ihn festhielt: das Wort – Adhéran.

Leiseres unverständliches Geflüster folgte diesem, aus welchem nur einzelne Ausdrücke zu ihm herüber schollen, die er in keinen Zusammenhang zu bringen wußte. Auch Namen hörte[117] er nennen, die er anderswo oft vernommen. Er blickte schärfer nach der Gesellschaft hin und entdeckte zu seinem unsäglichen Entsetzen bekannte Gesichter aus jener Zeit, die er gern auf ewig vergessen hätte. In diesem heimlichen Winkel, so still verborgen im Gewühle vieler Tausende, wie eine einsame Felseninsel mitten im sie umbrausenden Gewoge des Weltmeers, an einem Orte, wo Lunin als völlig einheimisch sich benommen hatte, diese versammelt zu sehn, ergriff ihn mit grauenvollem Ahnen drohender, allgemeiner Gefahr.

Was er sah und hörte, mußte auf das Lebhafteste an jenen verhängnißvollen Abend ihn erinnern, an welchem ein unseliger Zufall, wider seinen Willen, ihn Mitglied eines Bundes werden ließ, den er seitdem bis zu diesem Augenblicke zu seiner großen Beruhigung für ganz aufgelöst gehalten hatte. War es Absicht oder Zufall was diese, einzig aus früheren Theilnehmern[118] an demselben bestehende Gesellschaft, hier zusammengeführt hatte?

Das einzige Wort Adhéran ausgenommen, ließ alles Übrige, was er von ihrer Unterhaltung bis jetzt verstanden, ihn das Letztere hoffen; doch wenn er der Warnung sich erinnerte, welche Torson durch Lunin ihm hatte zukommen lassen, so ergriff ihn eine ungeheure Angst, und bange Schauer durchrieselten ihm Mark und Gebein.

Der zuletzt Angekommene schien erst rechtes Leben in die Unterhaltung gebracht zu haben; ein langer hagrer Vierziger, von militairischem Anstand, mit dem Ausdrucke tief gewurzelten Mißmuths in den dunkeln, stark hervortretenden Zügen, auf dessen Namen Richard in diesem Augenblicke sich nicht besinnen konnte, der aber durch sein schweigsames Aufmerken auf Alles, was um ihn her vorging, ihm in den Bundesversammlungen oft aufgefallen war. Sein Betragen hier war ganz anderer Art; heftig gestikulirend,[119] wahrscheinlich von einem leichten Champagnerrausche etwas exaltirt, sprach er viel, aber so leise, daß keine Sylbe von dem, was er sagte, bis zu Richards Ohr gelangte. Einige von seinen Zuhörern schienen eben so eifrig, aber auch eben so leise ihm zu widersprechen; aller Vorsicht vergessend sprang er auf, und schlug mit geballter Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.

Und warum nicht? rief er mit überlauter Donnerstimme, warum nicht auf dem Balle? warum nicht an einem Tage wie heute? denkt einige dreißig Jahre zurück, denkt an Stockholm – Gelächter und Geschrei außerhalb des Zimmers erstickte den Rest seiner Worte.

Die Tapetenthüre drehte sich wieder, lachend drängte eine Gruppe Masken hinein, Richard glaubte des Engländers Stimme zu hören und eilte hinaus; da stand der edle Britte, so selig als man in dieser Welt es nur werden kann,[120] von zwei Personen unterstützt, die ihn sogleich in Richards Arme legten, und dann den übrigen in das Zimmer folgten, dessen Thüre augenblicklich verschlossen wurde.

Rule Britannia! lallte Mr. Mitchell mit schwerer Zunge und noch schwererem Kopfe, während Richard den Taumelnden in den Wagen transportirte, aus welchem er fest schlafend in sein Bette getragen, und am nächsten Morgen bei einem Kruge Sodawasser nicht müde wurde, die gestern erhaltenen Beweise russischer Gastfreiheit bis in die Wolken zu erheben.


Der Rausch war verschlafen, die Nachwehen desselben rein weggespült; Mitchell war wieder die nüchterne, nur auf ihren Vortheil bedachte, Gewinn und Verlust berechnende Krämer-Seele geworden, die er von jeher gewesen. Er ging treufleißigst seinem Berufe nach, ließ bei den[121] Bemühungen, seine Fabrikate zu empfehlen, weder durch kalten Empfang noch durch Äußerungen des Überdrusses sich zurückschrecken, und gehörte fast buchstäblich zu denen, von welchen man sprüchwörtlich zu sagen pflegt, daß sie zum Fenster wieder hineinkommen, wenn man sie eben zur Thüre hinaus gewiesen hat.

Seine Beharrlichkeit blieb nicht unbelohnt. Es gelang ihm, in den Comptoiren einiger bedeutender Häuser Eingang zu finden, wo er seine und seiner Korrespondenten Industrie vortheilhaft geltend machen konnte, und Richard wurde auf diese Weise zuweilen von der belästigenden Gesellschaft seines schwerfälligen Landsmanns befreit.

Dies war für ihn allerdings eine große Erleichterung, deren er jetzt zwiefach bedurfte. Es schien als ob seit jener, auf dem Maskenballe zugebrachten abenteuerlichen Nacht, die Folgen des Rausches, den Mitchell so glücklich verschlafen,[122] auf den wahrlich sehr mäßig gebliebenen Richard übergegangen wären, und keinem dagegen angewandten Mittel weichen wollten. Ihm war fortwährend wie einem aus schweren Träumen nur halb Erwachten, der noch nicht mit Sicherheit zu unterscheiden weiß, ob was ihm widerfuhr ein Wahngebilde, oder Wirklichkeit sei.


Noch immer war alles um ihn geblieben wie es gewesen; so oft er Helena sah, lächelte ein Himmel von Seligkeit aus ihren Augen ihn an, und durch das gegen ihn sich immer gleich bleibende Betragen der Mutter dazu berechtigt, verging ihm selten ein Tag, an welchem er sie nicht gesehen hätte.

Auch Kapellmeister Lange und Frau Karoline beeiferten sich, sein Leben zu verschönen. Mit innigem Vertrauen und warmer Herzlichkeit schlossen sie immer fester sich an den Jüngling an,[123] und wollten und verlangten nichts weiter für ihre liebende Treue, als daß er sie sich gefallen lasse. In seine übrigen Verhältnisse eindringen, mehr, als er unaufgefordert ihnen mittheilte, erfahren zu wollen, war ein Gedanke, der den bescheidenen Seelen nie in den Sinn kam.

In seinen Dienstverhältnissen fand Richard eben so wenig Stoff zur Klage, als in dem Betragen seiner Kameraden gegen ihn. Was war es denn, was bei jedem plötzlichen Geräusche in der Straße, bei jedem mit rauher oder fremder Stimme gesprochenen Worte ihn aufschreckte? warum bei ringsum heitrem Himmel athmete er so gewitterschwer?

Ach, dem kundigen Schiffer gleich, ahnete er in tiefer Windstille den nahenden Sturm; Lunins unheimliche Erscheinung, Torsons durch diesen ihm zugekommene Warnung, die abgebrochenen Worte, die er auf jenem Balle zu vernehmen gemeint, hatten ihn aufgeschreckt; er fürchtete,[124] er wußte selbst nicht was, und fand nirgends Rath, nirgends Erleichterung für sein sorgenvoll bedrücktes Gemüth.

Der Fürstin Eudoxia seine Besorgnisse anzuvertrauen, konnte ihm nicht einfallen, eben so wenig der Geliebten. Er hatte ja oft genug erfahren, wie Helena alles gewandt von sich abzuweisen wußte, was anzuhören ihr entweder nicht angenehm war, oder nicht erlaubt schien. Überdem schien ihm beide, Mutter und Tochter, mit unbestimmten Besorgnissen aus ihrem genußreichen Leben aufschrecken zu wollen, beinahe ein Verbrechen, gewiß eine Thorheit zu sein. Denn durfte er Lunin, durfte er Torson, durfte er überhaupt jenen Maskenball gegen sie erwähnen, dem auch sie, in den Umgebungen des kaiserlichen Hofes, ein paar Stunden unter ganz andern Verhältnissen beigewohnt hatten?

Und immer weiter ins Unbestimmte wurde des Fürsten Andreas Rückkehr hinaus geschoben,[125] sogar der Ort seines Aufenthaltes, den er, nach seinen kurzen Briefen zu schließen, sehr oft wechselte, war nicht mit Gewißheit zu bestimmen; von Eugen war man seit längerer Zeit ohne alle Nachricht geblieben, und doch zeigten Mutter und Schwester seinetwegen sich völlig unbesorgt.


Endlich, nach mehreren in beängstigender Ungewißheit hingebrachten Wochen, erfuhr Richard, daß Graf Stephan wieder angelangt sei. Zwar verletzte es ihn ein wenig, daß dieses nur zufällig geschah, doch ließ er sich dadurch nicht abhalten, sogleich zu ihm zu eilen.

Rath, Trost, Aufklärung des Dunkels, das ihn beängstete, hoffte er von dem Grafen zu erhalten, aber sein Muth sank gewaltig, indem er der Wohnung desselben sich näherte; sie sah nicht minder unbewohnt aus, als sie seit Jahr und Tag ausgesehen. Nichts im Äußern derselben[126] verrieth die Gegenwart des Pracht und Geselligkeit liebenden Besitzers; die Fensterblenden rings umher waren geschlossen, die bei Anwesenheit der Herrschaft sonst immer offen stehende Thorfahrt knarrte in rostigen, lange nicht gebrauchten Angeln, indem der graue Thorwärter sie für Richard öffnete, der einzige von der bunten Dienerschaar, der sich diesmal blicken ließ, die sonst in geschäftigem Müßiggange hier überall herum zu schwärmen pflegte.

In der Überzeugung, daß ein bloßes Gerücht ihn getäuscht habe, war Richard schon im Begriffe wieder umzukehren, als er zu seinem großen Schrecken bemerkte, daß der Hof fußhoch mit Stroh bedeckt sei. Wem galt dies unverkennbare Anzeichen schwerer Krankheit, vielleicht gar des Todes? Vergebens sah Richard sich nach Jemand um, der ihm darüber Auskunft geben könne; der alte Thorwärter, welcher eben beschäftigt war, die Thorflügel wieder sorgsam[127] zu schließen, blieb die einzige lebende Seele, die sich zeigte.

Rede und Antwort von ihm zu erhalten war aber schwer, tiefe Verbeugungen bis an den Boden, und stumme, zum Eintritt in die Halle einladende Bewegungen der Hand, waren alles, was Richard auf die dringenden Fragen erhielt, mit denen er ihn bestürmte.

Bin ich zurück in die Zeit der Feenmährchen versetzt, befinde ich mich in einem bezauberten Schlosse? würde in fröhlicherer Stimmung Richard gewiß sich selbst gefragt haben, während er die verödeten Wohnzimmer seines Freundes durchstreifte, und überall, bei dicht verhängten Fenstern, die nämliche Stille ihn umfing.

Endlich ließen doch Schritte eines Nahenden sich vernehmen; eine, in den abgelegensten Theil des Hauses führende Thür, wurde so geräuschlos als möglich geöffnet, und hinein sah ein blasses, abgehärmtes Gesicht, welches Richard[128] sogleich als das ihm wohl bekannte des treuesten und vertrautesten Dieners des Grafen Stephan begrüßte.

Doch auch dieser, so willkommen ihm Richard auch war, bezeigte sich wenig geneigt, ihm die Auskunft zu geben, nach welcher er so sehnlichst verlangte. Walter war von Geburt ein Deutscher, und, wie das in großen russischen Häusern oft der Fall ist, von Jugend auf seinem jetzigen Gebieter erst als demüthiger Spielgeselle, dann als Kammerdiener zugegeben worden. Soviel dieses mit seiner Stellung im Leben sich vereinigen ließ, hatte er mit seinem Gebieter gleiche Erziehung genossen, und hing jetzt mit aller Kraft seines redlichen Gemüthes an ihm und seinem Hause.


Oft hatte Richard die Wendung, die das Geschick mit ihm selbst genommen, mit der, des[129] in der ersten Anlage ihm so ähnlichen Schicksals dieses vorzüglich treuen, verständigen Mannes verglichen, und es gab manche Stunde in seinem Leben, in der er ihn glücklicher achtete als sich selbst.

Thränenschwer, aus tiefster Brust aufseufzend, aber schweigend führte Walter den Freund seines Herrn durch eine lange Reihe dunkler Zimmer, welche Richard nie zuvor betreten, in ein kleines, der Tageshelle fast hermetisch verschlossenes Gemach. Schwarze Teppiche bekleideten die Wände, auf hohen, in schwarzen Krepp gehüllten Kandelabern, brannten in den Ecken große Kerzen von gelbem Wachs, und verbreiteten ein trübes flackerndes Licht, wie in einer Todtengruft. Richard fühlte beim Eintritte in diesen, der tiefsten Schwermuth geweihten Aufenthalt das Blut in seinen Adern erstarren; es währte ziemlich lange, ehe sein an dieses Dämmerlicht noch nicht gewöhntes Auge die ihn zunächst umgebenden Gegenstände erkennen konnte.[130]

Mitten im Zimmer, auf einem breiten niedrigen Divan, lag Graf Stephan in tiefer Trauer, aber völlig gekleidet; und nach altrussischem Gebrauche in Trauerfällen stand rings um ihn her alles nur Ersinnliche aufgestellt, was an Früchten, Weinen und dergleichen ihn zum Genusse reizen konnte, ohne daß er es eines Blickes würdigte.

Da bist Du ja, mein Bruder, sprach er sehr mild und freundlich, und reichte Richard die Hand; ich ließ Dich nicht rufen, ich überließ es dem Geschick, ob es unser Wiedersehn uns gönnen wolle, denn ich habe nur Reue und Schmerz, aber keine Wünsche mehr. Nun bist Du von selbst gekommen; ich bin schon seit vielen Tagen in tiefer Verborgenheit hier, und habe immer Dein gedacht; es ist gut daß Du ohne mein Zuthun gekommen bist, es ist sehr gut.

Schmerzlichst ergriffen warf Richard neben dem Lager seines Freundes sich hin; er redete tröstend ihm zu, er wollte versuchen ihn aufzurichten;[131] doch seit mehr als Jahresfrist unbekannt mit dem Quelle seiner Leiden, verletzte er aus Unwissenheit statt zu heilen, gleich einem Arzte, der in dunkler Nacht einen schwer Verwundeten verbinden möchte, und blind herumtappend, wider sein Wissen und Wollen durch Berührung die Schmerzen vergrößert, die er zu lindern beabsichtigt.

Laß ab, laß ab mit Trösten, bat endlich Stephan; menschlicher Trost wie menschliche Hülfe sind an mir verloren; darum zog ich mit meinem Schmerze in Nacht und Einsamkeit mich zurück. Hier will ich schweigend untergehn; nur Dich möchte ich warnen, nur Dich retten, wenn Du noch zu warnen, zu retten bist; ich hoffe Gott will es, indem er von all' meinen Freunden Dich allein mir zuführte.

Ich leide gerechte Strafe für meinen weltklugen Vorwitz, für den frevelnden Übermuth, mit welchem ich dem stolzen Wahne mich überließ,[132] ich sei berufen in das Rad des Weltenganges einzugreifen: sprach Stephan, als die erste heftige Bewegung, in welche das Wiedersehen des Freundes ihn versetzte, allmälig verklungen war.

Ich dulde was ich verdient habe, aber mein Weib! meine unschuldigen Kinder! was haben die verbrochen? Du, mein Bruder, warst der heitre unermüdlich-freundliche Spielgeselle meiner Kinder, Du liebtest sie, Du kannst sie nicht vergessen haben; wo sind sie jetzt? Alle, Alle dahin, von wo keine Wiederkehr ist. Zwei von ihnen, die beiden jüngsten, waren mir noch geblieben, meine kleine lächelnde Anna, mein holder Knabe Eloa. Ich wollte sie nicht aus den Augen lassen, sie mußten nach Berlin mich begleiten. An dem zu meiner Abreise von dort bestimmten Tage erkrankten Beide; im Sarge haben ihre Leichen mich zurück begleitet, ich habe bei ihren Großeltern, bei ihren vorangegangenen[133] Geschwistern sie schlafen gelegt! Das, Richard, das war eine Reisegesellschaft! aber im märkischen Sande die lieblichen Knospen für die Ewigkeit bergen, wie hätte ich das vermocht!

Und nun ihre Mutter, fing nach einer Pause Stephan wieder an, dieser sanft duldende Engel! täglich muß ich Gott bitten, daß er ihm bald gewähren möge, die Flügel entfalten zu dürfen, um sich hoch über dieses Jammerleben hinaus, in Paradieseslüften zu unsern Kindern zu erheben. Was aber wird aus mir, wenn auch sie mich verlassen haben wird? Nach martervoller Nacht erweckt jeder Morgen sie zu neuer Todesqual, ein furchtbares Übel nagt langsam und unheilbar nahe an ihrem Herzen; die Kinder schlafen, die Mutter leidet und wacht!

Laut schluchzend sank Stephan auf sein Lager zurück; Richard weinte mit ihm, im Gefühle seines Unvermögens, hier Hülfe oder auch nur Trost zu gewähren.[134]

Nach so großem Jammer Dir noch von dem Untergange des Wohlstandes meines Hauses zu sprechen, scheint kaum der Mühe werth; und doch ist dieses, besonders in seinen Folgen, kein unbedeutendes Unglück, denn meine Schuld, meine Nachlässigkeit hat das Elend vieler tausend Armen veranlaßt, und auch ihr Schicksal liegt schwer auf mir.

Während ich thörichter Weise in weit aussehenden Plänen mich abmühete; Zeit, Geld und Kraft zu ihrer Ausführung vergeudete, und meine kränkelnde Eitelkeit mich selbst in heimliche Bewunderung der hohen edlen Opfer einwiegte, die ich dem Wohle meines geliebten Vaterlandes dadurch zu bringen wähnte, vergaß ich der Sorge für die, welche mir am nächsten stehen; ließ die Obhut über die Tausende von Seelen ganz aus der Acht, welche Gott selbst durch den Stand, in welchem er mich geboren werden ließ, an meine väterliche Vorsorge angewiesen. Viele,[135] viele Jahre lang ließ ich feile Miethlinge meine Stelle vertreten; mein Vermögen, meine Unterthanen, meine Ehre sind schamlosen Wucherern Preis gegeben; und eigentlich ist, von Allem was so glänzend mich umgiebt, nichts mehr mein.

Solche Früchte gehen auf aus solcher Saat! Wer bin ich? was bist Du? was ist Andreas und Sergius und sie Alle, daß wir glauben sollten, wir wären berechtigt, Kronen zu zerbrechen, über Kaiser und Könige zu Gericht zu sitzen, die Verfassung großer Reiche umzuschaffen, Alles nach unserer beschränkten Einsicht zu ordnen, und uns zu geberden, als habe der allmächtige Regierer der Welten uns zu seinen Statthaltern auf Erden eingesetzt? Ach ich möchte im Gefühle der schmerzlichsten Reue auf offnem Markte hintreten, alle meine Wunden aufdecken, und laut rufen: so weiß der Himmel weltklugen Vorwitz zu strafen!
[136]

Alle Zeit, die seine übrigen Verhältnisse ihm frei ließen, widmete Richard jetzt seinem unglücklichen Freunde; ihn zu trösten konnte ihm nicht einfallen, jeder Versuch es zu wollen, würde sogar als Verhöhnung des gerechtesten Schmerzes mit Widerwillen zurück gestoßen worden sein; aber Stephan hörte doch auf, ein trauriges Spiel mit den äußern Zeichen desselben zu treiben. Er gewöhnte sich sowohl das Licht der Sonne als den Wechsel, den Stunden und Tageszeiten im gewöhnlichen Gange des Lebens herbeiführen, wieder zu ertragen; und war zuletzt eben so sorgfältig bemüht, jeden Anstrich von Sonderbarkeit zu vermeiden, als er vorher ihn zu suchen geschienen.

Oft, wenn lebhafter erregte, trübe Erinnerungen vergangener Zeiten, oder heftigere Schmerzen der still duldenden Gräfin, den Schlaf von Stephans Lager verscheuchten, fand der anbrechende Tag beide Freunde noch bei einander.[137] Richard war sehr verwundert als er bemerkte, wie der Graf sich eifrig bemühte, ihn aus den Schlingen jenes gefährlichen Bundes loszumachen, denen er längst entronnen zu sein meinte, und an den er, ohne das letzte Zusammentreffen mit Lunin, kaum noch gedacht haben würde.

Wozu, ich bitte Dich, fragte er eines Abends, nachdem Stephan ihm umständlich dargestellt, wie er es angefangen, um von jener Verbindung sich los zu sagen, wozu aber alle diese Weitläuftigkeiten? dieses Zusammenberufen des Rathes der Alten? diese feierliche Erklärung Deines Entschlusses, aus dem Bunde auszutreten, der damals schon aufgelöst war? Und sollten auch jetzt, wie es beinahe den Anschein haben will, einige Überbleibsel der alten zerstückelten Schlange sich wieder regen, von diesen haben wir nichts mehr zu befürchten; das zertretene Ungeheuer zerfällt in Nichtigkeit, es wird uns nicht wieder umklammern.[138]

Zum Beweise seiner Behauptung theilte er dem Freunde den Inhalt jener letzten merkwürdigen Unterredung mit dem Fürsten Andreas mit. Jedes Wort derselben hatte seinem Gedächtnisse sich zu tief eingeprägt, als daß er nicht hätte im Stande fein sollen, dieses fast wörtlich zu thun.

Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte Graf Stephan, ohne ihn zu unterbrechen, ihn an, und schien eine Weile in tiefes Nachdenken zu versinken.

Nein, sprach er endlich, es ist unmöglich, ich kann den Glauben an Andreas nicht verlieren; er ist zu groß, zu stolz, zu rechtlich, um an die Möglichkeit absichtlicher Täuschung bei einem Character zu denken, dessen Fehler edler sind als die Tugenden vieler Andrer. Er will das Rechte und Gute, aber leider nicht immer weil es das Rechte und Gute ist, sondern weil er es nun einmal will, mit aller Kraft seines unbeugsamen Gemüthes es will; und diese Unbeugsamkeit[139] konnte uns Allen, und wird, wie ich leider fürchten muß, dereinst ihm selbst zum Verderben gereichen.

Ich behaupte nicht er wollte Dich irre führen, nein, mein Bruder, davor behüte mich Gott! ich bin überzeugt, daß er das nicht wollte; aber sein eingewurzelter, durch glühende Eifersucht genährter Haß gegen Pestel, bei weniger edlen Naturen dürfte man wohl Neid es nennen, hat in diesem Falle ihn selbst irre geführt.

Hoffen was wir wünschen, und dieses Hoffen bis zur gewissesten Erwartung sich steigern lassen, liegt uns ja so nahe, ist so innig mit unserer Natur verflochten, daß selbst ein so starker Character wie der des Fürsten Andreas, dieser Schwäche unterworfen sein muß. Daher der ungeheure Zwiespalt in seinem Wesen, der oft ein ganz falsches Licht auf ihn wirft. Er ließ Dich glauben, der Bund sei aufgehoben, weil er selbst sich bemühte zu denken, daß dem[140] so sei, obgleich in einem geheimen Winkel seines Herzens die Überzeugung des Gegentheils lauerte. Ich weiß nicht recht wie ich Dir begreiflich machen soll, wie ich es meine; ich kann Dir nur sagen, Andreas ist eine jener Zwitternaturen, die zwar eins mit sich selbst scheinen, in deren Innerm aber ein ewiger Zwiespalt herrscht. Nur dies noch zum Beweise: Dich versicherte er, der Bund sei aufgehoben; ich bin fest überzeugt, gewissermaßen glaubte er es damals selbst; und weißt Du wo er, wo Eugen jetzt sind? Wo beide, wenige Wochen nach Deiner Abreise sich hinwandten? und was noch jetzt, in dieser Stunde, sie festhält? Sie bereisen auf verschiedenen Wegen, von einander getrennt, die südlichen Provinzen, um für den neuen Bund, den sie errichten wollen, und der doch, obgleich anders genannt, nur der alte ist, Proselyten zu werben.

Es ist nicht, es kann nicht sein! es ist nicht! rief Richard todtenbleich.[141]

Es ist so, erwiederte Stephan sehr lebhaft; laß mich versuchen, das unerklärlich Scheinende Dir deutlich zu machen.

Andreas fühlte von jeher Pestels große Überlegenheit, ohne sie anders als ganz heimlich sich selbst eingestehen zu wollen. Die durch überwiegende Klugheit und Alles beseitigende Verachtung dessen, was andern heilig ist, gewonnene Oberherrschaft dieses Verruchten, war dem edlen Fürsten eben so furchtbar als verhaßt Öffentlich gegen ihn aufstehen konnte und wollte er nicht, aber all' sein Sinnen und Trachten ging dahin, der usurpirten Obergewalt des gefährlichen Führers ein Ende zu machen, und wo möglich die Zügel selbst zu ergreifen. Yakuchins allgemeines Entsetzen erregende Erscheinung in jener, durch meine thörichte Leichtgläubigkeit herbeigeführten nächtlichen Scene, scheuchte für den Augenblick alles aus einander. Der Bund schien wirklich aufgelöst; selbst Andreas konnte damals glauben er sei es, und mit gutem[142] Gewissen zu Deiner Beruhigung Dich davon zu überzeugen suchen.

Er selbst aber konnte nicht rasten noch ruhen; der Wahn, der mich elend machte, beherrscht ihn noch bis zu diesem Augenblicke nicht minder mächtig als er mich beherrscht hat, bis Alles unter mir zusammen brach. Andreas will auf seine edlere Weise vollenden, was wie er hofft Pestel nicht mehr vollenden kann; er hält ihn für wehrlos, für vernichtet, und wird dereinst furchtbar aus diesem Irrthume erwachen.

Bis jetzt hat das Glück ihm freilich noch nicht den Rücken gewendet wie mir. Sein reiferes Alter, seine Umsicht, seine Erfahrung, haben ihn vor Fehlgriffen bewahrt, die ich beging. Noch lebt Eudoxia in blühender Gesundheit; seine in Jugendkraft und Schönheit herangewachsenen Söhne und Töchter sind die Zierde und der Stolz seines edlen mächtigen Hauses, während ich – –[143]

Stephan verstummte; vom gerechtesten Schmerze übermannt, vermochte er nicht das Gespräch fortzusetzen.


Im Vereine mit einigen wenigen der eifrigsten, und zugleich wohlgesinntesten, der Mitglieder des jetzt angeblich erloschenen Bundes der ächten Kinder des Vaterlandes, war es dem Fürsten Andreas und mehreren seiner Vertrauten wirklich gelungen, unter dem Namen eines Bundes für das allgemeine Wohl eine neue Verbindung zu errichten, die unbemerkt immer weiter und weiter sich verbreitete.

Läge es irgend im Reiche der Möglichkeit, das hohe Ziel, das sie sich gestellt, auf solchem Wege zu erreichen, so würde diese Verbindung gewiß den schönen Namen, den sie sich gewählt hatte, vollkommen verdient haben; aber ihre Stifter vergaßen in ihrem Eifer, daß man nicht[144] an einem und dem nämlichen Tage säen und ernten kann; sie bedachten nicht, daß allgemein verbreitete Aufklärung unter dem Volke nur sehr allmälig durch Lehre und Beispiel herbeigeführt werden kann, und daß eine bedeutende Reihe von Jahren dazu gehört, ehe die Folgen einer verbesserten Erziehung in der heranwachsenden Generation merkbar werden.

Hingerissen von Plan zu Plan, wollten sie alles was sie für nützlich und wünschenswerth achteten, mochte es sich auch unter einander noch so sehr widersprechen, auf einmal bewirken; sie wollten den Einfluß der Fremden abwehren, Liebe zum Nationellen verbreiten, und zugleich mit dem Leben des Volkes seit grauer Vorzeit enge verwachsene Ansichten und Gebräuche abschaffen; sie wollten allen Monopolen sich widersetzen, und zugleich Kunstfleiß befördern. Ihr Verbesserungssystem dehnte nach allen Seiten sich hin und führte, zum Theil ihnen selbst unbewußt,[145] sie endlich zurück auf den alten Punkt, der nur zum Umsturze alles Bestehenden, und zugleich zu ihrem eignen Verderben sie leiten mußte.

Pestel, der seinerseits während der Zeit auf andrem Wege auch nicht unthätig geblieben war, und dabei was außer seinem Bereiche vorging nie aus den Augen verlor, fing allmälig an, sein altes Ansehen unter den Verbündeten wieder zu gewinnen, Um ihm kräftig entgegen zu arbeiten, trat jetzt Andreas, von den Bessergesinnten seiner Partei unterstützt, wirklich mit dem Vorschlage auf, den Kaiser um seine Bewilligung zur Errichtung dieses neuen Bundes anzusprechen; aber die Mehrzahl der Stimmen erhob sich mit gewaltigem Übergewichte laut dagegen. Die Lust, selbst das Regiment zu führen, war von neuem erwacht; man berieth sich in einzelnen, mehr oder minder zahlreichen Zusammenkünften, über die Nachtheile und Vorzüge der verschiedenen Regierungsformen, und, wie das[146] unter solchen Umständen immer der Fall ist, die republikanische trug den Preis davon, weil auch der Unbedeutendste unter den Verbündeten am liebsten sich selbst als Dictator auf dem Throne gesehen hätte.

Und von neuem wagte Pestel Äußerungen, halb ausgesprochne Worte, als Einleitung zur Ausführung gräßlicher Unthaten; die Meisten empörten laut sich dagegen; was Andre heimlich beschlossen, ist wenigstens noch nicht bekannt geworden, aber das Ärgste steht dennoch zu erwarten. Abermals scheint zwar für jetzt der Bund gelöset in sich selbst zu versinken, lebt aber dennoch, gleich dem im Gebälke des Palastes zu Kopenhagen fortglimmenden Funken, fort, um im nächsten günstigen Augenblicke mit verdoppelter Wuth hervorzubrechen, und das Werk der Zerstörung zu beginnen.

So, mein Bruder, so steht es jetzt um die[147] Sicherheit unsres geliebten heiligen Vaterlandes! sprach, Stephan zu seinem, vor Entsetzen sprachlos ihm zuhörenden Freunde, nachdem er in einer ruhigeren Stunde ihm weitläuftiger alles dieses aus einander gesetzt hatte. Wir alle leben über dem Krater eines Vulkans, fuhr er sehr bewegt fort: still und heimlich wüthet unter unsern Füßen die Hölle; wann und wo sie die dünne Decke sprengen wird, die jetzt noch vor ihrer Wuth uns schützt, müssen wir erwarten. Wie freudig ich mein Leben hingäbe, um die uns drohende Gefahr abzuwenden, schäme ich mich nur zu erwähnen; das Opfer das ich damit brächte ist der Erwähnung nicht werth; aber verzweifelnd stehe ich da, und weiß weder Hülfe noch Rath. Den einzigen Weg dazu verschließt mir jener fürchterliche Eid, der uns Alle fesselt. Ich kann meine unsterbliche Seele nicht opfern, ich kann, ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, alle meine geliebten Verlornen dort[148] oben wieder um mich versammelt zu sehen! setzte er in heftigster Bewegung hinzu.

Mit jedem Tage wächst die uns drohende Gefahr, nahm Graf Stephan nach einiger Zeit wieder das Wort; unsre Freunde, Andreas wie Eugen, wandeln in unseliger Verblendung am Rande des Abgrundes, in welchem sie ein Paradies erbauen zu können wähnen, und Pestel, dieser Unheil brütende Dämon, führt wieder das Ruder. Zwar hat er das allgemeine Vertrauen, durch das er mächtig wurde, größtentheils verloren; doch so verhaßt er geworden sein mag, erhält er sich doch durch seine überwiegende Geisteskraft in der Oberherrschaft über die Gemüther.

Der furchtbare Bund existirt nach wie vor; von Statuten, durch welche er zu einem Ganzen sich organisiren soll, ist kaum mehr die Rede; man ist des faden Spiels damit überdrüßig geworden. Die Mitglieder zerfallen jetzt in zwei Theile, in Adhérans und Croyans, Anhänger und[149] Gläubige; im Grunde sind's Namen für eins und dasselbe, einer davon gilt so viel als der Andre.


Getrieben von unsäglicher Unruhe, unfähig den Zustand von Ungewißheit, Zweifel, banger Erwartung, in dumpfer Unthätigkeit länger zu ertragen, entschloß Richard sich zu dem Versuche, alte Verbindungen, vor denen er im Innern seines Herzens zurück schauderte, scheinbar wieder anzuknüpfen; so viel dieses nämlich, ohne sich zu tief einzulassen, möglich war. Es schien ihm der einzige Weg, nicht ganz in Blindheit befangen, dem Verderben entgegen zu gehen; das Unternehmen war nicht leicht, aber von den Umständen begünstigt, gelang es über alle Erwartung.

Richard besuchte die eigentlichen Bundesversammlungen nicht, ließ weder als Gläubiger noch als Anhänger sich aufnehmen, gab sich aber[150] das Ansehen, als ob bei seinen bekannten früheren Connexionen dieses ganz überflüßig wäre. Er mischte sich unter seine alten Bekannten, nahm mit so viel scheinbarer Unbefangenheit an ihren Privatzusammenkünften, an ihren Gesellschaften, sogar an ihren oft an wilde Ausgelassenheit streifenden Gelagen Theil, als habe nur zufällige Abwesenheit ihn eine Weile von ihnen entfernt gehalten. Und wo er anklopfte, wurde ihm aufgethan; überall wo er sich zeigte, fand er unbedingt freundlichen Empfang.

Auch jetzt, eben wie ehedem, bestand die größere Anzahl der Verschworenen aus jungen Leuten, welche mit dem ihrem Alter eignen Unbedachte in diese gefährliche Verbindung sich hatten hineinziehen lassen, und darin verharrten; Richards gesellige Eigenschaften machten seinen Umgang ihnen wünschenswerth, Yakuchin hatten sie über neuere Ereignisse längst vergessen. Doch leider waren sie auch allmälig daran gewöhnt[151] worden, Dinge gleichgültig anzuhören, gegen welche früher ihr besseres Gefühl sich mächtig empört hatte. Selbst in ihren Privatzirkeln fanden jetzt oft genug Debatten statt, die man sonst unter Pestels Vorsitz nur bei geschlossenen Thüren und mit der größten Vorsicht im Rathe der Alten zu halten wagte. Wahrscheinlich aber sahen die meisten der jungen Leute nur Gelegenheit zu hochtönenden Reden darin, wie sie zur Zeit ihrer Väter beim Anfange der Revolution in Paris gehalten worden waren, und blieben weit davon entfernt, den furchtbaren Ernst sich zu denken, der darunter verborgen lag.

Was Richard den Tag über auf diese Weise erspähte, trug er Abends dem Grafen Stephan vor; beide saßen oft bis zum Anbruche des Tages beisammen und wurden immer trostloser, je länger sie über die Möglichkeit hier Rettung zu finden sich besprachen. Das nächtliche Dunkel das sie umgab, verdichtete sich zu immer[152] schwärzeren Schatten; täglich wuchs die wahnsinnige Wuth der Häupter der Verschworenen, und unverhüllt trugen sie in ihren Versammlungen sie zur Schau. Alle ihre Gedanken waren auf Mord und Verderben gerichtet. Vieles was sie ersannen, gränzte durch unausführbaren Unsinn an das Lächerliche, aber es verfehlte dennoch nicht, auf die leicht verführbare Jugend den gewünschten Eindruck zu machen. Hingerissen von dem rhetorischen Pompe, in welchem diese Erzeugnisse einer zu völliger Unnatur verwilderten Phantasie vorgetragen wurden, gestalteten die Gesinnungen sich immer verkehrter, bis Alle zuletzt völlig damit einverstanden waren, vor keiner Unthat mehr zurückzubeben.


Ruhig und gelassen im Äußern, wenn gleich innerlich schaudernd, stand Richard zufällig in einer nicht sehr zahlreichen Versammlung, in[153] welcher Wuth, Unsinn und Mordlust den höchsten Gipfel erreicht zu haben schienen, neben Sergius.

Kennst Du den? fragte Sergius leise, und wies auf eine auffallend lange, hagre Gestalt, welche gleich bei ihrem Eintritte in die Versammlung von den Bedeutendsten unter den Anwesenden umringt wurde.

Ich sah ihn oft, ohne jedoch seine nähere Bekanntschaft zu machen, oder auch nur seinen Namen zu erfahren; das letzte Mal traf ich ihn auf dem großen Maskenballe in einer geschlossenen Gesellschaft, in welche Lunin kurz vor seiner Abreise mich einführte; erwiederte Richard, der, um seinem Beobachtungssysteme unbeargwohnt folgen zu können, sich gern das Ansehn gab, als ob er mit Lunin und andern dieses Gelichters im besten Vernehmen stünde.

Der ist der Mann, sieh ihn nur recht darauf an, der wird ausführen, wozu Dein Narr[154] Yakuchin nicht taugte, der, Gott weiß wie, mit seinem sentimentalen Wahnsinne uns Alle aus der Fassung brachte; flüsterte Sergius noch leiser. Übrigens, fuhr er fort, war es gut daß es damals so kam, wie es gekommen ist, und ich selbst, wie Du Dich erinnern wirst, trug nicht wenig dazu bei. Es war noch nicht an der Zeit, obgleich Pestel von Ehrgeiz geblendet es meinte. Jetzt haben die Umstände sich verändert; was damals nur keimte, reift jetzt als Frucht der Ernte entgegen.

Richard war unfähig ein Wort zu erwiedern, kaltes Entsetzen durchrieselte ihn.

Daß Du den verrückten Schwächling so geschickt aus dem Wege zu bringen wußtest, Brüderchen, war ein Meisterstreich von Dir und Deinem Alten, den selbst Pestel und wir Alle Euch beiden, Dir und Andreas, hoch anrechnen, darauf verlaß Dich; zu seiner Zeit sollst Du Beweise davon erhalten; fuhr Sergius, ganz zutraulich[155] geworden, fort. Jener Mann ist übrigens der Kapitain Yakubowitsch, von dem Du schon gehört haben wirst; ein Charakter, der alten Römerzeit würdig, ein zweiter Brutus, wenn es jemals einen zweiten geben kann. Cäsars »auch du, Brutus?« würde im Augenblicke der That auf diesen eben so wenig Eindruck machen, als es auf den alten Römerhelden ihn machte; aber freilich hat unser Cäsar es nicht anders um ihn verdient.

Acht Jahre lang trägt diese feste stolze Seele das glühendste Verlangen nach Rache mit sich umher, giebt keinem andern Wunsche Raum, und wird sie erringen, oder im Versuche untergehen. Die Zeit naht, die Stunde wird schlagen, und bald!

Sergius, von einem leichten Champagnerrausche ein wenig aufgeregt, schien ein Bedürfniß der Mittheilung zu empfinden, das in seiner natürlichen Stimmung ihm sonst nicht gewöhnlich[156] war. Er zog mit dem willig und erwartungsvoll ihm folgenden Richard in eine Ecke sich zurück, und machte wirklich Anstalten als wolle er sein ganzes Herz vor ihm ausschütten. Der Anfang dazu war die Auseinandersetzung der Veranlassung des lange unauslöschlich gehegten Hasses gegen den Kaiser, welcher den Kapitain Yakubowitsch unwiderstehlich zu einem Verbrechen trieb, dessen Mißlingen, vielleicht auch dessen Gelingen, er nicht zu überleben entschlossen war.

An und für sich lag in der Behandlung, welche der Kapitain auf ausdrücklichen Befehl des Kaisers von Seiten der militairischen Behörden erfahren, nichts Außerordentliches. Die Strafe, die ihm zuerkannt wurde, war hart, aber unter den vorwaltenden Umständen keineswegs von der Art, daß er über Ungerechtigkeit sich hätte zu beklagen gehabt; doch dem krankhaften Gefühle wird die leiseste Berührung zum[157] stechenden Schmerze, und Ehrgeiz, durch einen Blick, durch ein unbedachtsam hingeworfenes Wort tödtlich zu verletzender Ehrgeiz, war die unheilbare Krankheit des Hauptmann Yakubowitsch. Schon die Möglichkeit einer Zurücksetzung war genug, um ihm das Leben zu verbittern, und für jede andre Gunst des Geschickes ihn fühllos zu stimmen.

Täglich sich häufende Übertretungen der Duellgesetze hatten vor mehreren Jahren den Kaiser bewogen, die strengere Ausübung derselben ausdrücklich und ernstlich anzuempfehlen; und es ward beschlossen, bei dem ersten Übertretungsfalle diejenigen, welche sich dessen schuldig machten, ohne Ansehen der Person, genau nach dem Buchstaben des Gesetzes, exemplarisch zu bestrafen. Leider traf Yakubowitsch das Loos einer von diesen zu sein.

Nicht als Hauptperson, aber doch wegen thätiger Theilnahme an einem Duelle, dessen unglücklicher[158] Ausgang ein sehr vornehmes Haus seines hoffnungsvollen Erben beraubte, und viele der ersten Familien des Landes tief betrübte, wurde er von der Garde, bei welcher er stand, zu einem andern Regimente versetzt. Unter den vorwaltenden Umständen konnte diese, ihn freilich degradirende Strafe, in den Augen seiner Kameraden durchaus nichts seiner Ehre Nachtheiliges haben; eher hätte diese, nach dem allgemeinen Begriffe von Ehre, darunter gelitten, wenn er den einzig offnen Weg ihr zu entgehen eingeschlagen hätte, indem er seine Theilnahme an dem Duelle verweigerte, oder gar, um es zu verhindern, als Angeber desselben auftrat. Dennoch brachte sein tief verletzter Ehrgeiz ihn darüber dem Wahnsinne nahe. In wildem unaustilgbarem Ingrimme über das, was er eine himmelschreiende Ungerechtigkeit nannte, erklärte er, ein Leben nicht länger fortschleppen zu können, das von nun an auf ewig ehrlos geworden sei, und[159] würde gewiß in seiner Verzweiflung es freiwillig beendet haben, wäre er nicht gerade im entscheidendsten Augenblicke dem Obrist Pestel in die Hände gefallen.

Pestel war gewiß nicht fähig, die große Brauchbarkeit dieses Mannes, als Werkzeug zur Beförderung seiner Absichten, zu verkennen. Hastig fuhr er auf den Unglücklichen los, wie eine giftgeschwollene Spinne auf die arme Mücke losfährt, die im Vorüberstreifen ihr Gewebe berührt. Fein und gewandt wußte er von allen Seiten ihn zu umgarnen, umklammerte den künstlich Gefesselten mit aller Riesengewalt seines ihm himmelweit überlegenen Geistes, blies jeden in der Brust desselben glimmenden Funken zur unvergänglich lodernden Flamme alles verzehrenden Rachegefühls an, und ließ acht Jahre lang von ihm nicht ab, um seiner gewiß zu bleiben, sobald er ihn bedurfte.

Er ist fest entschlossen, die erste Gelegenheit[160] zur Rache zu ergreifen, und wenn die That mißlingen sollte, mit einer zweiten, bereit gehaltnen Kugel ein Leben zu enden, dessen Last er schon lange unwillig trägt; setzte Sergius seiner, freilich in ganz anderm Tone gegebenen Darstellung der Verhältnisse des Kapitain Yakubowitsch hinzu.

Und, Brüderchen, die Gelegenheit auf die er wartet, steht vor der Thüre: höchstens noch zwei kurze Monate und unsre Zeit beginnt! flüsterte er mit vor Entzücken heiserer Stimme, mit funkelnden Tigeraugen und einem überkräftigen Händedrucke ihm ins Ohr; Du kennst ja die Festung Beleja Tserkoff? – Du kennst sie nicht? – gleichviel, Du wirst sie kennen lernen, fuhr Sergius in seiner halb berauschten Stimmung fort, die ihn fortwährend zur Mittheilung trieb: dort soll Revue gehalten werden, doch wer sie halten wird? und über wen sie gehalten werden soll? das ist ja eben der Spaß dabei, davon lassen[161] gewisse Leute sich nichts träumen. Die werden sich wundern! lachte er frohlockend in sich hinein.

Dann erzählte er sprachselig weiter, wie der Kaiser mit jener Revue, die zu Anfang des Sommers Statt haben solle, eine Art ländlicher Fête für die in jener Zeit zahlreich um ihn versammelte kaiserliche Familie zu verbinden beabsichtige. Ein großer Park in der Nähe jener Festung wurde zu diesem Zwecke eingerichtet; sowohl der Kaiser selbst als seine hohen Gäste sollten in einzelnen, im Parke zerstreut liegenden Pavillons vertheilt, jeder mit seiner Dienerschaft für sich allein, die Nacht zubringen, und schon wurde Alles aufgeboten, diese Gebäude zu kleinen Feenpalästen umzuwandeln, in welchen der ausgesuchteste Luxus unter dem einfachen Scheine idyllischer Ländlichkeit, wie die Großen sie lieben, sich verbarg.

Bei nächtlicher Zeit sollten in gemeine Soldaten verkleidete Verschworene in diesen, der[162] Freude geweihten Aufenthalt einfallen; dort sollte unter dem Alles verhüllenden Schleier der Dunkelheit das Gräßliche vollbracht werden; ohne Schonung des edelsten unschuldigsten Blutes, waren dreizehn Opfer jener Nacht schon gezählt; schaudernd wenden wir uns von diesen Gräuelbildern ab, auch wenn sie nie zur Ausführung kommen; wer möchte bei ihnen verweilen?


Sobald er sich ohne Verdacht zu erregen von Sergius losmachen konnte, eilte Richard hinweg; er war nicht im Stande die vertraulichen Mittheilungen, die ihn überströmten, länger auszuhalten. Der hellerleuchtete Saal wurde ihm darüber zur düstern Mörderhöhle; die Gesellschaft, die ihn umgab, erschien ihm würdig eine solche zu bewohnen; und die Luft die er athmete roch wie Blut. Er eilte ins Freie, draußen umwehte ihn frische Kühle, doch er empfand[163] sie nicht. Zürnend blickte er empor zum prachtvoll gestirnten Himmel, und ballte in ohnmächtigem Ingrimm die Fäuste und wünschte, wie einst Samson, die das Dach tragenden Säulen mit einem Rucke zusammenreißen zu können, um die unter demselben hausende Rotte und müßte es sein, sich selbst mit unter den Trümmern desselben zu begraben. Er schalt den Mond und die Sterne, weil sie so klar und freundlich auf diesen Inbegriff Abscheu erregender Gräuel hinabblickten; doch was konnte das Alles helfen?

Die Nacht war schon weit vorgerückt; aber wie hätte Richard es ertragen können, mit den Schreckbildern, die seine überreizte Phantasie erfüllten, sich zwischen den vier Wänden seiner einsamen Wohnung einzusperren? Schon allein der Gedanke war ihm fürchterlich. Zwecklos irrte er in den stillen verödeten Straßen der gewaltigen Kaiserstadt umher; Zufall oder Gewohnheit führten ihn, ehe er es gewahr wurde, an das[164] Hotel des Grafen Stephan, jetzt der einzige Punkt auf der ganzen weiten Erde, wo er hoffen durfte, für das was so entsetzlich ihn bedrängte ein offnes Ohr, ein theilnehmendes Gemüth zu finden.

Einige Fenster waren ungeachtet der sehr späten Stunde noch hell erleuchtet. Der Anblick zog mächtig ihn an; das Thor stand noch offen, Richard flog die Treppe hinauf, zwischen die schnarchenden Diener hindurch, die in Decken und Mäntel gewickelt, sich überall hingebettet hatten, wo sie ein dazu bequem taugliches Plätzchen zu finden meinten.

Oben trat ihm Walter entgegen: Sie wollen zu meinem Herrn? er kann Niemand, er kann auch Sie jetzt nicht sehen.

Für mich ist er immer sichtbar, das weißt Du ja, alte Seele; ich sehe er ist noch wach, und habe höchst Wichtiges ihm vorzutragen; erwiederte Richard und wollte an ihm vorbei.[165]

Seit diesem Morgen ringt die Gräfin mit dem Tode; sprach Walter mit tiefer bebender Stimme, kaum vernehmbar, und vertrat ehrerbietig aber entschlossen ihm den Weg.

Erbleichend vor der Todesbotschaft taumelte Richard zurück, die Sinne vergingen ihm. Walter wurde in das Innere der Zimmer abgerufen, und nach einigen, in bewußtlosem Zustande hingebrachten Minuten, fand Richard, er wußte selbst nicht wie, auf der Straße unter freiem Himmel sich wieder.

Der Tag begann so eben zu grauen, die Stadt lag noch in tiefen Schlaf begraben; nur hin und wieder wankten in der Ferne einige, in ihre Mäntel dicht eingewickelte Gestalten still ihren Wohnungen zu. Nur zwei davon schritten Arm in Arm, leise und eifrig mit einander sprechend, ziemlich nahe an Richard vorüber, ohne ihn zu bemerken.

Wir übergeben ihren Staub den Winden,[166] flüsterte Einer von Beiden; die Stimme war Bestujeffs, an dem Gange seines Begleiters glaubte Richard den Obrist Pestel zu erkennen.

Und wie von verfolgenden Furien vorwärts gejagt, setzte er von Neuem seinen einsam traurigen Lauf fort. Von seinem Herzen getrieben, kehrte er wieder und immer wieder zu Stephans Wohnung zurück, weilte ängstlich aufhorchend unter den erleuchteten Fenstern, hörte das Todesröcheln der Sterbenden, die laute Jammerklage seines verzweifelnden Freundes, doch nur in seiner Phantasie. In der Wirklichkeit war Alles still, nur einmal sah er Walter am Fenster stehend, in betender Stellung, die Hände zum Himmel erhoben.

Der erquickende Hauch des immer lichter anbrechenden Morgens, der jeden nach schlaflos hingebrachter Nacht Erschöpften einzulullen pflegt; verbunden mit Richards nach unerhörter Anstrengung doch endlich ermüdeter physischer Kraft,[167] fingen zuletzt an, ihre Rechte geltend zu machen. Nur einmal noch wollte er das Dach sehen, in dessen Nähe er sich eben befand, unter welchem Helena vielleicht von ihm träumend schlummerte, und dann von freundlicheren Bildern begleitet zu Hause gehen, um selbst, wenn gleich nur auf kurze Zeit, Ruhe und Vergessenheit auf seinem Lager zu suchen.

Zu seinem Erstaunen sah er, indem er dem fürstlich Andreas'schen Palais sich näherte, die Thorflügel desselben weit geöffnet; im Hofe wie in der Vorhalle war Alles in lebhafter Bewegung, angefüllt mit Wagen und Pferden und der emsig durcheinander wogenden Dienerschaft. Der ihm wohlbekannte Reisewagen des Fürsten wurde so eben in die Remise geschoben. Wenige Augenblicke früher hätte Richard ganz unvermuthet Augenzeuge der unerwarteten Ankunft seines väterlichen Freundes und Wohlthäters werden können. Jetzt war Alles rings umher Lust und[168] Leben, Alles verkündete die glückliche Heimkehr des Gebieters.

Gott sei Dank! Gott sei Dank! betete Richard unter Freudenthränen aus tief bewegter, mächtig erleichterter Brust, sah noch eine Weile dem fröhlichen Tumulte zu, und eilte dann in seliger Erwartung des morgen den Tages seiner Wohnung in einer Gemüthsstimmung zu, die jemals wieder zu gewinnen er noch vor einer halben Stunde kaum für möglich gehalten.


Selten genug mag einem von uns ein Morgen aufgegangen sein, der völlig ungetrübt, ohne jede herbe Beimischung, alle die goldenen Hoffnungen erfüllte, die wir am Abende zuvor von ihm hegten, und alle die Knospen in voller Blüthenpracht sich erschließen ließ, von denen wir beim Untergange der Sonne es erwarteten; diese Erfahrung machte am folgenden Tage auch Richard.[169]

Mit tief zerrissenem Gemüthe, ermattet bis zum Umsinken von den heftig auf ihn einstürmenden Ereignissen der vorigen Nacht, war er durch die unverhoffte Ankunft des Fürsten Andreas plötzlich aus einem Extreme in das andre geworfen worden. In seiner damaligen Stimmung wirkte überraschende Freude auf ihn, wie ein Rausch auf einen durch langes Entbehren aller Kraft Beraubten wirken mag; lieber noch möchte ich einem hartbeängsteten Kinde ihn vergleichen, das, obgleich noch immer in drohender Gefahr schwebend, jubelnd meint, nun wäre alles gut, weil es die Mutter kommen sieht.

Auf das ihm eingeräumte Sohnesrecht sich verlassend, eilte Richard lange vor der üblichen Besuchsstunde zum Fürst Andreas, und kam doch nur eben zeitig genug an, um die Hinterräder der Staatskutsche desselben um die Ecke beugen zu sehen. Bei der kräftigen, keine Ermüdung kennenden Natur des alten Herrn, und[170] der unermeßlichen Anzahl von Besuchen, die nach so langer Abwesenheit abzustatten ihm oblag, konnte niemand etwas Auffallendes hierin finden; dennoch fühlte Richards leicht verletzbare Empfindlichkeit durch das, was gewiß nichts weiter als Zufall war, sich unangenehm berührt. Sinnend stand er ein paar Augenblicke im Portal, und überlegte ob er versuchen solle den Fürstinnen seinen Glückwunsch zu bringen, obgleich er wohl im voraus wissen konnte, daß sie in dieser frühen Morgenstunde noch nicht sichtbar wären; ein leises Geräusch bewog ihn sich umzuwenden, hinter der großen Treppe in Dunkelheit verborgen, öffnete sich eine kleine Thüre; Richard kannte sie wohl, sie führte gerade in's Kabinet des Fürsten und nur seine Vertrautesten hatten den Schlüssel dazu. Jetzt schlich eine in ihren Mantel gehüllte Gestalt vorsichtig hinaus, und suchte durch die in den hintern Theil des Gebäudes führenden Gänge sich zu verlieren.[171] Mit leisen weit ausholenden Schritten eilte Richard dem Manne im Mantel nach, der ihn erwartend stille stand, sobald er ihn kommen sah. Es war Sergius.

Du schon hier? wie hast Du seine Ankunft so frühe schon wissen können? fragte Richard hastig auf ihn einfahrend.

Ich war weit früher hier als er selbst. Seine fürstliche Gnaden ließen sich erwarten, und das war mir eigentlich ganz recht; ich gewann dadurch Zeit den kleinen Rausch auf seinem Diwan verdampfen zu lassen, den Du vermuthlich mir wirst gestern Abend angemerkt haben: erwiederte Sergius sehr heiter.

Aber wie kamst Du denn dazu ihn hier erwarten zu wollen: rief Richard aufs Höchste gespannt.

Wie ich dazu kam? lustige Frage! lachte Sergius: wie kommt man dazu einer Einladung Folge zu leisten? ich erwartete ihn hier, weil er[172] wünschte, daß ich ihn erwarten sollte, und Ort und Zeit mir dazu bestimmt hatte.

Weil er es wünschte! Ort und Zeit bestimmt, Dir? wiederholte Richard, ganz außer aller Fassung.

Aber wie kommst Du mir denn heute vor? krank bist Du nicht, und an ein Räuschchen ist bei Dir nüchterner Seele besonders in so früher Tageszeit gar nicht zu denken; erwiederte Sergius, und sah sehr verwundert ihn an. So wie Du zu Andreas stehst, kann es Dir doch kein Geheimniß geblieben sein, daß er dem Bunde seine Ankunft am heutigen Tage vorher gemeldet hat? obgleich er seine Familie durch dieselbe zu überraschen Willens war. Doch halt! nun ich es recht bedenke, Du gehörst ja gewissermaßen doch auch zu derselben; darum, darum! daran habe ich gar nicht gedacht!

Richards Gesicht erheiterte sich bei dieser Bemerkung; aber Du? noch immer begreife ich[173] nicht, wie Du dazu kamst, ihn schon in der Nacht hier zu erwarten? fragte er nochmals.

Weil er durch einen besondern Expressen mich ganz insgeheim dazu aufgefordert hat; war die Antwort. Es sollte ein Geheimniß zwischen uns bleiben, denn wir sehen nicht ein, warum Pestel überall und in Allem die Finger haben muß; darum habe ich es auch Dir verschwiegen, obgleich ich voraus setzen konnte, daß Du in Deinem bekannten Verhältnisse zu Andreas darum wüßtest. Nimm's nicht übel, Brüderchen, doch Vorsicht ist immer gut, und Pestel noch etwas schlauer als der Teufel selbst.

Richard war wie aus den Wolken gefallen.

Aber ich verweile hier zu lange, fuhr Sergius fort: Lebe wohl, Brüderchen, auf glückliches Wiedersehen!

Du gehst? wohin? rief Richard, den Forteilenden beim Arme ergreifend.

Stehenden Fußes nach Mohilov: war die[174] Antwort, ich mußte nur noch vorher mit Andreas Rath pflegen; nun ist alles in Ordnung, und nun laß mich gehen.

Apropos! setzte er noch einmal umkehrend hinzu, wir haben auch Deinen Yakuchin todtgeschlagen, Andreas und ich; unterwegs werde ich nebenher seinen Todtenschein besorgen; es ist so am besten, auf diese Art sind wir ihn, und er uns mit guter Manier los.

Ungeheuer! schrie Richard, und packte ihn wüthend bei der Brust.

Oho! oho! ob Du dumm bist! ob Du ein Narr bist! hast nicht einmal so viel Verstand, so etwas figürlich zu nehmen! plagt Dich der Teufel? rief lachend Sergius, machte sich von ihm los, und lief davon.

Erstarrt, versteinert stand Richard da, bis die unheimliche Erscheinung am Ende des dunkeln Ganges seinen Blicken entschwand. Er fühlte als durchbohre ein heftiger stechender Schmerz[175] ihm das Herz, als zöge es in kurzen Schlägen ängstlich flatternd zu eisiger Kälte sich zusammen, um gleich darauf hochanschwellend, ihm Luft und Athem rauben zu wollen. In der peinlichen Überraschung, in welche dieses seltsame Zusammentreffen ihn versetzt hatte, wußte er nicht mehr das innere Gefühl, das ihn übermannte, von blos physischem Schmerze zu unterscheiden. Was so am Herzen ihm nagte, waren die giftigen Bisse der Schlange des Argwohns, des Mißtrauens, die Sergius mit lachendem Muthe, absichtlich oder unabsichtlich hinein geworfen hatte. Sollte, mußte er dem Glauben an den Mann entsagen, zu welchem er von Jugend auf gewöhnt war, wie zum Schutzgeiste seines Lebens hinauf zu blicken? Konnte Andreas mit dem Jünglinge, den er Sohn nannte, wirklich ein unwürdiges Spiel treiben, während er einen Sergius in den geheimsten Rath seiner[176] Seele eindringen ließ? Es war unmöglich, und doch, sprach nicht der Augenschein dafür?

Ängstlich sah er nach Hülfe in dieser Seelennoth sich um, nach Rettung vor den Zweifeln, die sein besseres Gefühl verwarf, und die doch unabwendbar sich ihm aufdrängten. Nur einer, außer seinem lang entbehrten Freunde Eugen, lebte auf Erden, der im Stande gewesen wäre, ihn hier gegen sich selbst in Schutz zu nehmen, seinen wankenden Muth zu stärken, das unerklärlich Scheinende zu erklären, die fein gesponnene List, die ihn umgarnen sollte, an's Licht zu ziehen, und ihn zu lehren Lüge von Wahrheit zu unterscheiden: Graf Stephan!

Zu ihm eilte er ohne Säumen; Walter hatte ihn kommen sehen und trat ihm unten an der Treppe entgegen. Zu eigner höchster Beschämung mußte der Anblick des kummerbleichen, treuen Dieners an die erhöhten Leiden der Gräfin ihn erst erinnern, an die er über Alles was[177] in den letzten Stunden über ihn herein gebrochen, nicht mehr gedacht.

Ich wußte wohl daß Sie heute Morgen nicht ausbleiben würden; die Wahrheit zu gestehen, ich erwartete sie schon früher: rief Walter ihm entgegen.

Sie lebt? fragte Richard ängstlich hastig.

Noch lebt sie, und kann nach dem Ausspruche der Ärzte noch viele Tage, ja selbst wochenlang in diesem qualvollen Zustande der Erlösung harren: war die Antwort. O beten Sie mit mir zu Gott, daß er bald ende! mein unglücklicher Herr möchte sonst noch vor ihr seinem unsäglichen Jammer erliegen! Wenn Sie jetzt ihn sähen, Sie würden ihn nicht wieder erkennen.

Ich muß ihn sehen, o laß mich zu ihm, bat Richard: ich will in die Pflege der geliebten Kranken mich mit ihm theilen, mit ihm weinen, mit ihm klagen; doch sehen, sprechen[178] muß ich ihn, und ich weiß es thut ihm wohl, wenn er es gleich nicht glauben mag.

Richard wollte an Walter vorbei eilen, doch dieser hielt ihn abermals zurück: Ich darf, ich kann es nicht zugeben, sprach er bittend aber entschlossen. Das Verbot meines Herrn muß in seinem Elende mir heilig sein, seinen Befehlen gehorchen ist ja leider alles was ich für ihn thuen kann, habe ich doch sogar vor kaum einer Stunde den Fürsten Andreas abweisen müssen.

Andreas! er war schon hier? rief Richard sehr überrascht.

Er wollte nur noch einen Besuch machen und dann wieder kommen, war die Antwort: ich sollte unterdessen alles anwenden, um ihm Zutritt zu meinem Herrn zu verschaffen, doch sehe ich dazu keine Möglichkeit vor mir, er hört, er empfindet nichts als – dem armen Walter brach die Stimme, er konnte nicht vollenden.[179]

Ach Gott, es ist doch aber auch zu viel! das Leiden ist zu groß! setzte er schluchzend noch hinzu: Tag und Nacht liegt der Graf vor dem Sterbebette, auf dem Boden, für alles andre gefühllos; sogar die Nachricht von der Ankunft des Fürsten, seines ältesten Freundes, machte keinen Eindruck auf ihn.

Er kommt! Er kommt! dort die Straße hinauf: rief Richard freudig, und stürzte hinaus, dem Wagen des Fürsten entgegen: dieser hielt, der Kutschenschlag wurde aufgerissen, Richard sprang hinein.


Im engsten Raume der verehrten Gestalt seines väterlichen Beschützers gegenüber, wichen Argwohn, Mißtrauen, alle jene gehässigen Empfindungen, welche Sergius diesen Morgen in ihm zu erwecken gewußt, aus Richards Herzen.[180] Nur unbeschreibliche Freude des Wiedersehns nach so langer Trennung erfüllte es ganz. Auch der Fürst empfing ihn, wie ein Vater den lange entbehrten geliebten Sohn; drückte umarmend ihn an die Brust, streichelte liebkosend seine lichten Locken und lobte den klugen Einfall, ihn gleichsam so im Fluge aufzufangen; denn, sprach er lächelnd, an ein ungestörtes, wirklich genußreiches bei einander Sein, ist für uns sobald noch nicht zu denken. Doch laß den ersten Tumult nur geduldig vorüberstürmen; unsre Zeit wird auch kommen, wenn erst alles Wichtige und Unbedeutende beseitigt ist, das im wunderlichsten Durcheinander mich kaum zu mir selbst kommen läßt.

Jetzt nahte auch Walter; sehr bewegt vernahm Andreas seinen Bericht, drang nochmals ernstlich aber vergeblich darauf, Zutritt bei seinem Freunde zu erhalten, und setzte endlich, nachdem er Richard aus dem Wagen steigen lassen und ihm zugerufen, sich ja zur Mittagstafel[181] einzustellen, seine pflichtmäßige Visitenreise durch Petersburg fort.

Der heutige Tag war und blieb für Richard ein den widersprechendsten Gefühlen Preis gegebener, an welchem Freud und Leid sich wunderlichst durchkreuzten. Jede Stunde desselben schien etwas Neues bringen zu wollen – am Ende löste doch alles in Nichts sich auf, und während Richard ungewöhnlich viel zu erfahren und zu erleben meinte, blieb es im Grunde doch beim Alten.

Daß er unter solchen Umständen es nicht bis zur Langenweile bringen konnte, ist wohl leicht zu erachten; aber es kamen doch Momente vor, wo es ihn bedünken wollte, als habe ein zweiter Josua die Sonne in ihrem Laufe still stehen heißen, und werde es für heute gar nicht Abend werden. Denn ohne daß sie deshalb, im Sinne des gewöhnlichen Sprachgebrauchs, uns lang würde, erscheint die Zeit uns nie länger,[182] als wenn in einen bestimmten Abschnitt derselben vielerlei, eigentlich nicht bedeutende, aber wechselnde Ereignisse sich zusammen drängen. Ist heute denn schon wieder Sonntag? fragen wir nach einer in gemüthlicher Einförmigkeit vorüber geschlichenen Woche, und im entgegengesetzten Falle: sind es denn wirklich erst acht Tage, daß wir die Reise antraten?

Den ganzen Tag über hatte es Richard nicht gelingen wollen, nur zu einem unbelauschten Worte mit Helenen zu gelangen; er fand sie sowohl als ihre Mutter fortwährend von Glück wünschenden Herrn und Damen umringt; denn die Nachricht von der glücklichen Ankunft des Fürsten hatte schnell wie ein Lauffeuer sich verbreitet; wirkliche Theilnahme, Etikette oder Neubegier, zogen die Besuchenden schaarenweis herbei, und nur aus der Ferne konnte Helena ihren Freund in ihren Augen lesen lassen, wie glücklich sie heute sich fühle.[183]

Auch bei der Mittagstafel, auf welche Richard sein Hoffen zuletzt gestellt hatte, ging es ihm nicht besser; der Fürst sah von der großen Anzahl der Eingeladenen sich dermaßen umlagert, daß er kaum Zeit zu einem Händedruck und ein paar freundlichen Worten für seinen Pflegesohn übrig behielt. An einem solchen festlichen Tage den gewohnten Platz Helenen gegenüber an der Tafel behaupten zu wollen, wäre übrigens, in Richards Verhältnissen, eben so unschicklich als schwer durchzuführen gewesen; und so blieb denn für dieses Mal ihm nichts weiter übrig als geduldiges Entsagen, und Hoffnung auf eine günstigere Zukunft.

Doch viele Tage schwanden, ohne die mindeste Aussicht zur Erfüllung dieser Hoffnung zu gewähren. Richard sah in nie befriedigter Erwartung sie vorüber gehen. Sein Verhältniß zu Helenen blieb zwar unverändert, sie schenkte ihm jede Stunde, die sie dem mit der Anwesenheit[184] ihres Vaters verbundenen geräuschvolleren Leben abmüßigen konnte. Heitrer, schöner, liebender als je, war sie seine Freundin, seine Beratherin, die innigste Vertraute seiner Gedanken; aber sie blieb auch dem Vorsatze getreu, jeden Versuch das Gespräch auf Gegenstände zu lenken, die sie unerwähnt lassen wollte, zu vereiteln. Er sah, er fühlte, daß er die Schranken nicht überschreiten dürfe, die sie einmal für allemal ihm gestellt hatte, und ergab sich, zum Theil durch Gewohnheit bezwungen, endlich gelassen darein.


Mittlerweile nahmen dringende, nicht aufzuschiebende Geschäfte, Besuche, Feste aller Art, die Zeit des Fürsten fortwährend dermaßen in Anspruch, daß er nur höchst selten eine Stunde für die Seinigen übrig behielt. Richard erhielt täglich[185] neue Beweise seiner fortgesetzten väterlichen Fürsorge; doch für die Aufklärung so manches ihm dunkel Gebliebnen, die er mit Recht erwarten zu dürfen glaubte, für die Befreiung von quälenden ihm unwiderstehlich sich aufdringenden Zweifeln, nach welcher er mit ungeduldiger Sehnsucht verlangte, wollte wochenlang kein günstiger Augenblick sich finden lassen.

Richard benutzte jede dazu sich bietende Gelegenheit, dem Fürsten den Wunsch darnach vorzutragen, wurde aber immer, zuweilen mit gebietendem Ernste, meist aber mild und freundlich, zurück und auf eine nahe günstigere Zukunft hingewiesen.

Ich errathe, was Du willst; doch warum quälst Du Dich vor der Zeit mit unnützen Sorgen? beruhige Dich, vertraue mir, und wenn Du mich unruhig werden siehst, so will ich Dir erlauben es ebenfalls zu werden.

So sprach der Fürst sehr heiter und gelassen[186] etwa vierzehn Tage vor dem, zu jener entsetzlichen Revue angesetzten Tage.

Beleja Tserkoff! Yakubowitsch! flüsterte Richard mit bebender Stimme ihm leise zu.

Andreas sah mit durchdringendem Blicke lange und forschend ihn an.

Du willst es wohl darauf anlegen, hundert Jahre alt zu werden? denn kluge Kinder leben nicht lange, sagt man; daß aber solch ein alter Knabe wie Du sich noch mit dem Popanz einschüchtern lassen will, heißt doch die Sache etwas zu weit treiben; erwiederte der Fürst, ein wenig gezwungen scherzend, aber doch freundlich.

Von nun an glaubte Richard das Absichtliche in des Fürsten Betragen sich nicht mehr verhehlen zu können; er sah wie so manche, der vertraulicheren Mittheilung günstige Stunde nicht nur unbenutzt vorüber gelassen, sondern sogar jede Gelegenheit dazu vermieden ward, und litt darüber mehr, als in Worten sich ausdrücken läßt.[187]

Des Fürsten Betragen ließ übrigens keine Abänderung seiner Gesinnung persönlich gegen ihn befürchten; es schien im Gegentheil, als ob Andreas durch Verdoppelung der Beweise seiner väterlichen Liebe für das, nur in diesem einzigen Punkte ihm entzogene Vertrauen, ihn zu entschädigen wünsche; gerade dies aber war es, was ihn in Verzweiflung setzte.

Und Graf Stephan war noch immer an das Lager der peinlich langsam hinscheidenden Gattin gefesselt, und jetzt wirklich geistig unfähig, an irgend etwas andrem in der Welt Antheil zu nehmen!


Endlich wurde Richard eines Abends zum Fürsten gerufen; erwartungsvoll trat er ins Zimmer, und sah Mr. Mitchels gemeine Figur, in breiter Aufgeblasenheit und tiefer Demuth über die ihm widerfahrene Ehre, hinter einem großen[188] Tische etablirt, der mit Proben neu erfundner Fabrikate bedeckt war; mit Modellen, Zeichnungen von Ackergeräth, Eisenbahnen, Tunnels, Dampf- und Spinnmaschinen und ähnlichen Wundern unsrer erfindungsreichen Zeit.

How do you do? krächzte die widerliche Erscheinung ihm entgegen.

Es war als führe ein Dolchstich ihm in die Brust, er glaubte auf das bitterste sich verhöhnt, wandte sich, wollte zur Thüre, am liebsten zum Leben hinaus, wußte aber in der Verwirrung selbst nicht was er wollte, fühlte von zwei ihn umschlingenden Armen sich gehalten, und sah dicht vor sich die geliebten Züge, die freundlichen Augen des ihn umfangenden Fürsten, fast bittend ihn anlächeln.

Das war nicht meine Absicht, gewiß das war sie nicht! sprach Andreas, indem er ihn fester an sich drückte, ehe er ihn los ließ und nur Mitchels starr auf ihn gerichteter Blick verhinderte[189] ihn, sich unter Thränen der Reue an die Vaterbrust zu werfen, wie er als Kind so oft gethan.

Gewöhne das verwünschte Gerührtsein Dir ab, es steckt an wie der Schnupfen; flüsterte der Fürst ihm zu, hustete ein wenig, griff deshalb nach seinem Taschentuche, und näherte mit Richard sich dem Tische, auf welchem Mitchel seine Raritäten ausgebreitet hatte.

Wie konntest Du dem Zufalle überlassen, ob es ihm belieben würde, mir die höchst schätzbare Bekanntschaft Deines Landsmannes zuzuführen oder nicht? Verdient diese Vernachlässigung nicht einige Strafe? sprach Fürst Andreas mit seiner gewohnten verbindlichen Art gegen an Rang ihm untergeordnete Fremde, und laut genug, daß Mitchel es hören konnte. Wäre mein Kammerdiener nicht so glücklich gewesen, Herrn Mitchel im Zeitungsklubb anzutreffen, und nicht so gescheit gleich einzusehen, welchen unschätzbaren[190] Werth seine Bekanntschaft für mich haben müsse, ich hätte sie vielleicht zeitlebens entbehrt: fuhr er auf die nämliche Weise fort. In der That, Herr Mitchel ist für mich eine wahre Fundgrube von Allem, was mich erfreut und interessirt.

Ich bitte, lassen Sie uns nochmals den Plan des Tunnel vornehmen, und – doch vorher noch ein Wort mit Dir, Richard: setzte er hinzu, indem er mit diesem ein wenig seitwärts trat.

Du weißt, der Braune mit den weißen Füßen, der Dir so wohl gefiel? sprach er halblaut: Du findest ihn morgen in Deinem Stalle, ich habe ihn hineinführen lassen. Keinen weitläuftigen Dank; daß ich weiß, daß ich Dir eine Freude damit mache, ist mir genug; obgleich Du ihn für jetzt noch nicht sobald nöthig haben wirst, als wir es meinten, denn der Kaiser hat die Revue wieder abbestellt.

Die Revue? Die Revue? rief Richard heftig.

Nun ja, die Revue bei Beleja Tserkoff, die[191] nächsten. Dienstag über acht Tage gehalten werden sollte. Sie ist ganz aufgegeben, wird wahrscheinlich nie Statt haben, in diesem Jahre wenigstens gewiß nicht; antwortete der Fürst und setzte gleich darauf im gleichgültigsten Tone von der Welt hinzu: jetzt, Herr Mitchel, sind wir ganz zu Ihren Diensten.

Vater! o mein Gott! ist es möglich, rief Richard außer sich, wie verwildert vor freudigem Erstaunen.

Ob Du ein Kind bist! über ein neues Spielzeug, über ein artiges Pferd so in Entzückung zu gerathen! lächelte der Fürst, indem er Richards ungestümen Freudenbezeigungen sich zu entziehen suchte. Glückliches Alter! nicht wahr, Herr Mitchel? wer das auch noch so könnte!

Noch ehe der Fürst diese Worte vollends ausgesprochen, war Richard schon zur Thüre hinaus, zu Helenen.

Er fand sie in ihrem, nur ihm und ihren[192] nächsten Freunden zugänglichen Arbeitszimmerchen, in welches sie sich Abends unter irgend einem Vorwande zurückzog, so oft sie schicklicher Weise es konnte, um von der betäubenden Nichtigkeit des Lebens in der großen Welt sich zu erholen.

Fröhlich trat sie ihm entgegen, ohne über seinen stürmischen Eintritt zu erschrecken, und rief, sich ein wenig wendend: siehst Du, Alte? Hatte ich nicht Recht, als ich Dir im Voraus sagte, daß die Freude über meines Vaters Geschenk ihn noch heute Abend zu uns führen würde?

Und zu seinem nicht geringen Verdrusse mußte jetzt Richard aus der dämmrigsten Ecke des nur von einer einzigen Lampe schwach erhellten Kabinets die gebeugte, eisgraue Gestalt der Amme sich entwickeln sehen, an die er seit langer Zeit eben so wenig gedacht hatte, als meine geneigten Leser es gethan haben mögen; denn die gute Frau hatte in den letzten Jahren, wenn gleich[193] nicht geistig, doch körperlich sehr gealtert, und verließ jetzt nur sehr selten das ihrer Thätigkeit besonders angewiesene Revier in den innern Gemächern der Fürstin Eudoxia.

Schick sie fort! o schick sie fort! bat Richard in englischer Sprache, welche Frau Elisabeth nicht verstand, die indessen mit durch die Jahre wahrlich nicht verminderter Redseligkeit, in Freudensbezeugungen über das lang entbehrte Wiedersehen ihres Lieblings sich ergoß. Helena, wie konntest Du mir so etwas anthun! denn Du erwartetest mich doch! o schick sie fort! Erlaube meinem übervollen Herzen nur ein einzigesmal sich vor Dir zu ergießen; Du siehst ja, mir ist wie dem Galeerensclaven, dem nach unendlich peinvoller Zeit die Ketten abfielen.

Warum willst Du der armen Elisabeth es nicht gönnen, Dich zu sehen, den sie so lieb hat! sie kommt so selten aus ihrem Zimmer; erwiederte Helena in der nämlichen Sprache, und[194] wandte sich dann an die Amme. Nicht wahr, Mütterchen, Du hast auch Richards neues Pferd gesehn?

Ob ich es gesehn! war die Antwort: hieß Fürst Andreas mich nicht expreß ans Fenster rufen, als er im Hofe es sich vorführen ließ? Das schöne Thier, mit den netten zierlichen Füßen, wie tanzte es, wie brüstete es sich als es meine junge Gebieterin trug! Aber das sage ich Dir, Richard, in Beleja Tserkoff muß sie es wieder reiten, Du mußt es ihr leihen.

Dich, Helena, Dich hat es getragen? rief Richard entzückt.

Weißt Du nicht mehr welche muthige Reiterin ich bin? erwiederte sie: übrigens ist das Pferd fromm wie ein Lamm, und doch voll Muth und Feuer; Dir gönne ich es, sonst Niemand auf der Welt.

Und wie sie sich darauf ausnimmt! wie hingehaucht, so schlank, so leicht; nahm die Amme[195] wieder das Wort: so etwas, Richard, hast Du nie gesehn. Wie die kleinen Händchen den Zügel fassen! wie sie das Pferd zu regieren weiß, wie sie es tummelt! und wie das kluge Thier jedem ihrer Winke sich fügt und unter ihr einher tanzt, schnell, gewandt, behend wie ein Sonnenstrahl, oder vielmehr wie ein Blitz. Das muß der Kaiser, die Kaiserin, der ganze Hof, meinetwegen die ganze Welt muß das sehn!

Weder die Welt, noch der Hof wird dieses wundervollen Schauspiels sich erfreuen, denn es giebt diesmal bei Beleja Tserkoff weder Revue noch Fêten, der Kaiser hat diesen Mittag alles wieder abbestellt, fiel Helena der in ihrem Lobe sich verjüngenden Amme lachend ein.

Die Alte brach in bittre Klagen darüber aus, und Richard benutzte diesen Augenblick, um nochmals um nur eine ungestörte Viertelstunde mit Helena anzuhalten, doch abermals vergebens.

Du siehst mich so glücklich! wahrlich, nur[196] Erfreuliches solltest Du heute von mir vernehmen, keine Frage sollte Dich belästigen, warum darf ich Dir nicht mittheilen, was mein ganzes Herz so freudig bewegt, warum Dir nicht zeigen, welche zentnerschwere Last ihm abgenommen ward? bat er.

Ich freue mich mit Dir, ohne den Grund dazu erfahren zu wollen; erwiederte Helena freundlich aber fest, und Richard fühlte zum erstenmale durch den kalten Ernst, mit welchem diese wenigen Worte ausgesprochen wurden, sich verletzt. Unfähig, den Mißmuth gänzlich zu unterdrücken, der in ihm sich mächtig zu regen begann, eilte er sich zu entfernen, um Helenen zu verbergen, wie schwer es ihm falle den Zwang zu ertragen, der gerade in dem Augenblicke, wo er ihrer Theilnahme am bedürftigsten war, den Mund ihm verschloß.
[197]

Wie immer, wenn das äußere Leben ihn drückte, führte sein Herz ihn zu seinem Freunde Stephan, obgleich er wenig Hoffnung hatte, bis zu ihm selbst durchzu dringen. Diesmal fand er den Vorhof und die untern Räume des Hotels wunderbar verödet; überall herrschte die ungestörteste Stille, keine lebende Seele ließ sich blicken, sogar der Portier hatte seinen gewohnten Platz verlassen.

Unheimlich schaudernd, mit unhörbar leisem Schritte stieg Richard die breite Treppe hinan, ging durch die lange Reihe von Zimmern und Sälen, alle standen offen, alle waren öde und leer, bis er in die Nähe des zu dem Appartement der Gräfin gehörenden Vorsaals gelangte. Hier weiter zu gehen wagte er nicht; Weihrauchdüfte quollen durch die verschlossene Thüre ihm entgegen, ein seltsam dumpfes Geräusch, wie unterdrücktes Weinen und Schluchzen vieler Stimmen wurde hörbar, er glaubte dazwischen[198] den tiefen murmelnden Ton leise betender Priester zu unterscheiden, und fühlte von bangen Vorahnungen sich ergriffen.

Jetzt flogen die Flügelthüren auf: er sah die ganze hier versammelte Dienerschaft des Grafen dicht zusammen gedrängt den weiten Vorsaal erfüllen. In Thränen, leise jammernd und schluchzend, lagen sie Alle auf den Knieen, tief gebeugt berührten ihre Häupter den Boden. Eine leichengleiche Gestalt wurde sorgsam zwischen den Weinenden hindurch getragen, Graf Stephan; bis zum Unkenntlichen durch langen Schmerz entstellt, lag er in den Armen seiner Diener; selbst einem Sterbenden ähnlich wankte Walter neben seinem geliebten Herrn einher, zu entkräftet, um einen Theil der Last auf sich nehmen zu können.

Todt! todt! rief Richard, und eilte auf die entseelte Gestalt des seit vielen Wochen entbehrten Freundes zu.[199]

Ruhe! Ruhe! gebot der ihn zurückhaltende, ihm wohlbekannte Hausarzt: noch lebt er, aber ein einziger unvorsichtiger Hauch kann den schwachen Lebensfunken auf immer verlöschen. Blicken Sie dorthin, die Gräfin ist so eben verschieden, und gönnen Sie ihrem armen Freunde den todtenähnlichen Schlummer, die starre Gefühlslosigkeit, durch welche die immer gütige Natur über diesen fürchterlichen Augenblick ihm hinaushilft.

Stephan hatte muthig bis zum letzten Hauche der Sterbenden ausgehalten; seine zitternde Hand hatte die Augen zugedrückt, welche bis dahin die Sonne seines Lebens gewesen, und erst nachdem er dieses vollbracht, war er zusammen gesunken. Die Dienerschaft war als Zeuge des letzten, zum Übergange in die Ewigkeit sie einweihenden Sacraments, an das Sterbebette ihrer Herrin berufen worden; die treuen Seelen hatten jede zu laute Äußerung ihres Schmerzes, aus Schonung für ihren Gebieter, bis dahin[200] unterdrückt; doch jetzt, da sie auch ihn anscheinend entseelt durch ihre Reihen tragen sahen, glaubten sie sich doppelt verwaist, und brachen in lautes herzzerreißendes Jammergeschrei aus.

Richard warf einen Blick über die zum Boden gebeugten Häupter der Knieenden hinweg in das Sterbezimmer, dessen weit geöffnete Thüren die in schmerzloser Ruhe still da liegende Hülle der Freundin ihm zeigten, die als rührendes Beispiel duldender Ergebung ihm stets vorgeleuchtet, deren milde Rede, deren sanftes Auge, einst auch ihm Trost und Hoffnung in das Herz gesprochen. Der Tod hatte jede Spur der jetzt überstandenen herben Leiden vertilgt, die Anmuth in ihren Zügen war wieder erblüht, die in glücklichen Jugendtagen als eine der lieblichsten Erscheinungen sie bezeichnete.

Das vom hellen Scheine hoher geweihter Kerzen beleuchtete Sterbezimmer, war ein heiliger Tempel geworden; umgeben von Priestern in[201] ihrem reichen, im Glanze der Kerzen hell schimmernden Ornate, schien ihr Lager, vor Kurzem noch der Zeuge unsäglichen Leidens, jetzt zum Altar umgewandelt, auf welchem sie selbst als das rührendste Bild einer schlummernden Heiligen ruhte.

Ein Strahl belebenden Trostes dämmerte bei diesem Anblicke in Richards weherfülltem Gemüthe auf; das Grab nebst seinem düstern Grauen vergessend, sah er hier nur den Eingang zum Hafen ewiger Ruhe, und sank weinend aber hoffend neben den laut jammernden Dienern auf die Kniee.


Still nachdenkend saß Richard in der Frühe des folgenden Morgens in seinem Zimmer allein, den widerstrebendsten Empfindungen hingegeben. Freude, Trauer, Mißmuth, Hoffnung und Sorge durchwogten sein Gemüth; er hatte[202] den größten Theil der Nacht am Bette seines noch immer in bewußtlosem Schlummer hinbrütenden Freundes durchwacht, und suchte jetzt für die Obliegenheiten des Tages sich vorzubereiten, und seine Gedanken, wie seine ziemlich erschöpften Kräfte zu sammeln.

Das unangenehme Knarren seiner Thüre fiel ihm verdrießlich auf; er ging sie zuzumachen, und sah ein paar unheimliche, glühende Augen durch die Spalte derselben ins Zimmer hinein starren, als wollten sie sich vergewissern, daß er sich allein in demselben befinde.

Richard stutzte einen Augenblick bei dieser Entdeckung, und schnell wie der Blitz sprang ein in einen Mantel gehüllter Mann ins Zimmer hinein, verschloß von innen die Thüre, ließ aber den Schlüssel darauf stecken, und trat dann hastig auf ihn zu.

Mit bleichem verzerrtem Gesicht, himmelan sich sträubendem Haar, Wuth entbrannten Augen,[203] die weißen verbissenen Zähne grausig fletschendem Munde, stand der Entsetzliche dicht neben ihm, und Richard glaubte schaudernd in dem unheimlichen Gaste einen der Haft entsprungenen Wahnsinnigen vor sich zu haben.

Verloren! verrathen, Du, ich, wir Alle! stöhnte dieser mit hohler, kaum verständlicher Stimme, und sank am ganzen Leibe konvulsivisch erbebend, in den ihm zunächst stehenden Sessel.

Jetzt erst konnte Richard den Grauen erregenden Besuch schärfer in's Auge fassen. Es war Mathias Apostol, Bruder des Sergius. Nie hatte Richard mit diesem in näherer Verbindung gestanden als der, welche der unselige Bund, zu dem sie beide gehörten, unumgänglich erforderte; nie hatten sie mehr als jene stereotyp gewordenen Redensarten mit einander gewechselt, wie der gesellige Verkehr überall sie herbeiführt. Das finster Abstoßende, das in Apostols ganzer Persönlichkeit sich aussprach,[204] hatte Richarden immer von dem ältern Bruder zurück geschreckt, während er von dem mittheilend lustigen Humor des jüngern, Sergius, wenn gleich stets widerwillig, zuweilen sich hinreißen ließ.

Mathias blieb eine Weile, ohne ein Wort aufbringen zu können, mit hoch aufarbeitender, schwer nach Luft ringender Brust, in seinem Sessel liegen, während Richard in der Meinung, er sei plötzlich erkrankt, ihm die Weste aufknöpfte und alles nur Ersinnliche anwandte, um dem Leidenden Erleichterung zu verschaffen. Mathias ließ sich das Alles gefallen; nur wenn Richard Meine machte die Schelle zu ziehen, um seinen Diener zur Hülfe herbei zu rufen, hielt er mit riesig starker Faust beim Arme ihn fest.

Alles ist verloren! rief Mathias endlich, sobald er nur einigermaßen wieder zu Athem gekommen war, und sprang mit der Geberde wildester Verzweiflung von seinem Sitze auf.[205]

Richard starrte voll Entsetzen ihn an.

Setze Dir selbst das Alles säuberlich zusammen: fuhr Mathias höhnisch lachend fort: Seit mehreren Wochen ist mein Bruder abwesend, und noch immer ist kein Wort bis zu uns gelangt, das Nachricht von ihm brächte; gestern wird plötzlich, ohne einen Grund dafür anzugeben, die Revue bei Beleja Tserkoff abgesagt, wir vernehmen aus sicherer Hand, daß die Anstalten zu einer längst projectirten Reise des Kaisers Hals über Kopf beschleunigt werden. Wohin geht die Reise? Zur Flucht! zur Flucht! Alles ist klar wie der Tag, blind müßte man sein, es nicht einzusehen. Die Verschwörung ist entdeckt! Feile Verräther finden sich überall; Sergius, mein Bruder, ist gefangen, ist todt! brüllte er, zerraufte sein Haar, warf sich auf den Boden hin, und verbarg, heulend wie ein wildes Thier, sein Gesicht in die Kissen des Diwans.[206]

Ein Ausweg bleibt uns, sprach er, sich wieder vom Boden aufraffend: ein einziger, uns zu retten, den gemordeten Bruder zu rächen. Sie sind zu feig gleich thätig einzuschreiten, sie wollen jene Reise erst abwarten, um sicherer zu gehen. Sicher! rief er wieder auflachend, sicher! o ja, ich bereite Euch die Bahn zur ewigen Ruhe, wartet nur, dort seid ihr sicher genug. Ich komme Euch zuvor, bevor Ihr den Muth habt, den Schlag fallen zu lassen, der uns zerschmettern soll. Ich, ich allein, wartet, wartet nur, ein günstiger Moment, ein einziger, und es ist vollbracht. Mein Auge trügt nie, meine Hand trifft immer das Ziel.

Es giebt eine Waffe, fing er nach einer Pause scheinbar in ruhigerem Tone wieder an, während Richard vor ihm stand, noch immer unschlüssig, ob Wahnsinn oder Überzeugung aus dem Furchtbaren spreche: eine Waffe, fuhr Mathias fort, ohne Knall, ohne verrathendes Aufblitzen;[207] gleich dem leisen unhörbaren Pfeile des Wilden, führt sie die Kugel zum Ziel. Du, Du bist der Einzige, der dem Befehle entgegen zu handeln wagt, welcher ihren Besitz hoch verpönt; ich habe diese Waffe in Deinen Händen gesehen, nun fordere ich sie von Dir, und Du hast nicht das Recht sie mir vorzuenthalten. Du bist mein Bruder durch jenen heiligen Schwur, der uns beide zur Rettung unsers Vaterlandes verbindet; gehorche dem Gebote des Bundes.

Richard besaß wirklich eine kleine, aber auserlesene Sammlung seltner Waffen, die aus seiner frühesten Jugendzeit herstammte, wo er, halb ein Knabe noch, mit ungemeinem Eifer sie zusammen brachte, theils durch Tausch mit Freunden seines Alters, doch mehr noch durch Geschenke, welche von allen Seiten dem Lieblinge des ganzen Hauses zuströmten. Das zuletzt erhaltne war der reich verzierte Türkendolch, welchen[208] Eugen, bei Richards Eintritt in die Kaserne, diesem verehrt hatte.

Seitdem hatte die Lust sich mit solchen Spielereien ernstlich zu beschäftigen bei ihm sehr abgenommen; die Waffen wurden an der Wand eines an sein Zimmer anstoßenden Kabinets zur glänzenden Trophäe auf das geschmackvollste geordnet; sein Blick weilte zwar oft und gern auf denselben, doch nur als auf einem sehr werthen Andenken früherer Tage.

Diese Trophäe, von welcher eine vom Fürsten Isidor einst zufällig erhaltne Windbüchse den Mittelpunkt bildete, welche aber theils wegen der geringen Zierlichkeit ihrer Form, theils wegen des auf ihr ruhenden Verbotes, von anderen glänzenderen Waffen fast ganz verdeckt wurde, war gerade der offen stehenden Thüre des Kabinets gegenüber angebracht, und Mathias brauchte nur die Augen aufzuschlagen, um sie zu bemerken.[209]

Doch würde er in seinem leidenschaftlichen Zustande sie vielleicht fortwährend übersehen haben, hätte nicht die Eile, mit welcher Richard jetzt jene Thüre schließen wollte, seine Aufmerksamkeit dorthin gewendet.

Den Gegenstand den er forderte entdecken, und mit einem gewaltigen Sprunge Richarden zuvorzukommen suchen, war das Werk eines Augenblickes; doch gelang es dennoch dem behenderen Richard, seinen Zweck zu erreichen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die nun fest verschlossene Thüre und gelobte mit einem hohen theuern Eide, jenes gefährliche Werkzeug niedern Meuchelmordes nur mit seinem Leben sich entreißen zu lassen.

Mathias, unter Fluchen und wüthenden Beschuldigungen der Untreue gegen den Bund, warf sich über ihn her, um seinen Widerstand zu bewältigen; ein Ringen entstand, bei welchem nur Richards große persönliche Gewandtheit[210] es ihm möglich machte, der ihm überlegenen, durch wahnsinnige Wuth noch gesteigerten Körperkraft seines Gegners nicht gleich zu erliegen.

Daß ein anfangs gemäßigt leises, dann immer lauter werdendes Klopfen an der äußern Thüre, unter diesen Umständen von den Kämpfenden nicht vernommen werden konnte, war natürlich; doch dieses Pochen ging allmälig in laut donnernde Versuche über, die schon krachende Thüre gewaltsam zu erbrechen; Mathias hielt einen Augenblick mit Ringen ein, und Richard gewann dadurch Zeit sie zu öffnen.

Plagt Euch alle beide der Teufel? was treibt ihr hier in aller Frühe für ein Specktakel, ungezogene Buben, wißt Ihr nichts Besseres zu thun? rief lachend Sergius. In Lebensgröße, ganz unbeschädigt stand er vor ihnen; Mathias schrie laut auf, und stürzte ihm in die Arme, während Richard die Windbüchse von der Wand riß, und sie zertrümmerte. Daß die Fehde zwischen[211] ihm und seinem Gegner jetzt beendet war, versteht sich von selbst.

Übrigens hielt Sergius es eben nicht für nothwendig die Gründe anzugeben, die ihn bewogen hatten, sowohl seine Brüder als die Häupter des Bundes so lange Zeit ohne ein einziges Zeichen seines Daseins zu lassen. Er erzählte nur ganz in der Kürze, daß er, nach seiner am gestrigen Abend spät erfolgten Ankunft, sich sogleich zum Fürsten Andreas begeben, bei welchem er bis tief in die Nacht hinein verweilte, und dann reisemüde die Ruhe suchte.

Ungeachtet er, eben so wenig als seine Brüder, mit Richard jemals in näherem Umgange gestanden, hatte dennoch ein übrigens nicht bedeutender Auftrag des Fürsten, bei seinem nächsten Ausgange am folgenden Morgen ihn zu demselben geführt, und so war er denn glücklicher Weise, ein ächter deus ex machina, in jene tragikomische Scene zur Beendigung derselben hinein gefallen.[212]

Der Auftrag des Fürsten an Richard bestand hauptsächlich in der Versicherung, daß ganz gleichgültige, unbedeutende Ursachen, hauptsächlich der Überdruß davon so unablässig sprechen zu hören, den Kaiser bewogen, jene Revue aufzugeben. Übrigens setzte Sergius noch hinzu, daß er die feste Überzeugung mitgebracht habe, daß Niemand weder in noch außerhalb Petersburg an Verrath denke, und Alles so ruhig sei, als es unter solchen Umständen nur immer möglich wäre.


Die sorgsamste Pflege hatte in physischer Hinsicht die Gesundheit des unglücklichen Grafen Stephan zwar einigermaßen wieder hergestellt, doch sein von so vielen schnell auf einander folgenden Schlägen hart getroffnes Gemüth konnte nicht wieder genesen. Vergebens mühete Richard sich in Versuchen ab, ihn wieder dem wirklichen Leben zuzuführen, er war für die wichtigsten Angelegenheiten[213] desselben völlig gefühllos geworden. Seine geistige Kraft war abgestumpft, sein Gefühl für alles außer seinem unwiederbringlichen Verluste war ertödtet, und Vaterlandsliebe, die ihm früher die Brust mit glühender Begeisterung erfüllte, war ihm jetzt nur ein leerer Klang, ohne Sinn und Bedeutung. Das sonst für alles Große, Gute und Schöne so warme Herz, lag kalt und erstorben ihm in der Brust, ohne Hoffnung, wie ohne Wunsch, weder Freude noch Leid konnten es wieder wecken. Er verlangte mit dem äußern Leben weiter keine Gemeinschaft zu haben, seine Seele war bei den Todten. Und doch, und zwar in der allerwiderwärtigsten Gestalt, drängte dieses Leben, das ihn anekelte, in den eng abgeschlossenen Kreis seiner Gedanken und Gefühle sich ein.

Habsüchtige entfernte Verwandte, welche jetzt einige Hoffnung gewonnen hatten, den Kinderlosen einst zu beerben, meinten dadurch sich jetzt[214] schon berechtigt, in die Verwaltung seiner Angelegenheiten und seines Vermögens eingreifen zu dürfen. Sie machten sogar schon einige Anstalten den schwermüthigen Vetter, den sie gern für blödsinnig ausgegeben hätten, für's erste wenigstens unter Vormundschaft zu stellen, und quälten und verfolgten ihn auf das widerwärtigste mit ihren endlosen Zumuthungen.

Schon waren sie nahe daran, den ganz Muthlosen durch Überdruß zur Erfüllung von allem was sie verlangten zu bewegen; doch Fürst Andreas oft erprobte Freundschaft erhob sich jetzt in lobenswerther Thätigkeit zu seinem Schutze. Von seinem treuen Walter begleitet, ging Graf Stephan auf Zureden seines edlen Freundes nach Italien, um unter einem milderen Himmel, entfernt von allem was allzu herbe Erinnerungen in ihm aufregen mußte, einstweilen unter fremdem Namen, ein stilles Leben zu führen. Fürst Andreas aber nahm während der[215] Zeit mit dem ihm eigenen Eifer der Leitung und Ordnung der Angelegenheiten seines Freundes sich an, die er in einem zwar vielfach verworrenen, aber doch bei weitem nicht so hoffnungslosen Zustande fand, als Graf Stephan selbst es gemeint hatte.

Richard mochte es sich selbst kaum gestehen, welche Erleichterung seines, auch in anderer Hinsicht nichts weniger als beneidenswerthen Zustandes, die Entfernung des Grafen Stephan ihm gewährte. Sie befreiete ihn von der täglich wiederkehrenden Pein, das längst als hoffnungslos Aufgegebene immer von neuem aufnehmen zu müssen, und immer mit gleich schlechtem, ihn tief betrübendem Erfolge.

Jetzt hatte er wenigstens einige Hoffnung, unter Walters sorgsamer Pflege der Genesung des geliebten Leidenden entgegen sehen zu dürfen. Längst schon war aus dem treuen verständigen Diener der kein Opfer scheuende Freund[216] seines unglücklichen Gebieters geworden; Fürst Andreas selbst erkannte und würdigte ihn als solchen, und überließ ihm ohne Bedenken die Sorge für seinen Herrn, wie die Anordnung einer Reise, die Walter schon früher einmal mit demselben gemacht hatte.


In auffallendem Contraste mit dem fast zum Scheinleben herabgesunkenen Grafen Stephan trat jetzt Fürst Andreas in immer weiter um sich greifender Thätigkeit auf.

Alex, Eugen, alle vertrautesten Jugendgefährten des ganz vereinsamten Richard, waren, wenigstens für den Augenblick, ihm verloren. Zu einer Zeit, wo er mehr als je des Rathes, der Mittheilung, des Trostes bedurfte, sah er mit allen seinen ahnungsvollen Sorgen und Zweifeln sich einzig an den väterlichen Führer und Beschützer seines früheren Lebens gewiesen.[217]

Vertrauend eilte er zu ihm mit seinem bis zum Überfließen vollen Herzen, harrte in unermüdlicher Geduld auf den günstigen Augenblick, es in den Busen seines väterlichen Freundes sich ergießen zu lassen, und stand, wenn er einen solchen endlich errungen zu haben meinte, vor ihm, wie vor einem verschlossenen Schreine.

Für Alle und für Alles hatte Fürst Andreas Zeit, war zugänglich für Jeden, der seiner bedurfte, nur für den geliebten Sohn seiner Wahl, wie Richard noch immer und bei jeder Gelegenheit von ihm genannt wurde, wollte es ihm niemals gelingen, nur eine einzige kleine vertrauliche Stunde zu finden.

Richard wurde unter Vorwänden, von denen der letzte immer der nichtigste zu sein schien, von einem Tage zum andern fortwährend vertröstet. Und wollte sich in der Eile nichts anderes ausfindig machen lassen, so saß Mr. Mitchel mit seinen endlosen Verbesserungen, Vorschlägen[218] und Erfindungen im Vorzimmer, neben seinem Busenfreunde dem Kammerdiener, bei dem er sich förmlich etablirt hatte, und war auf den kleinsten Wink bereit, mit etwas Neuem aufzuwarten.

Für Richard war es unter solchen Umständen keine ganz leichte Aufgabe, in unwandelbarer Liebe und Ehrfurcht an dem Wohlthäter seiner Jugend festzuhalten, ohne sich im Glauben an ihn irren zu lassen. Doch er bestand die schwere Probe; sein Gemüth war und blieb jeder, in seinen Augen den Fürsten und ihn selbst erniedrigenden Regung des Mißtrauens unzugänglich; doch anders war es mit der Sorge, daß das freie, offne, edle Naturell desselben gemißbraucht, daß Andreas durch List und Trug irre geleitet, von Neuem in Verhältnisse verwickelt werden könne, aus denen dann kein Rücktritt möglich wäre.

Auf sich allein zurückgewiesen, ohne Möglichkeit,[219] durch Rede und Gegenrede mit theilnehmenden verständigen Freunden zu größerer Klarheit seiner eigenen Gedanken zu gelangen, versenkte und verlor der ganz Verlassene sich immer tiefer in trübes Nachsinnen, das ihn nur beängstigen konnte, ohne ihn weiter zu bringen; es war eigentlich mehr ein dumpfes Gefühl von Noth und Gefahr, das fortwährend ihn verfolgte, ohne sich in deutliche Worte fassen zu lassen.

In sorgenvoll durchwachten Nächten erhob das gräßliche Bild des Mord und Verrath athmenden Mathias sich neben ihm. Der Eindruck, den jener schaudervolle Besuch auf Richards Gemüth gemacht hatte, wurde ihm jetzt erst recht fühlbar, seitdem seine Gedanken und seine Zeit nicht mehr so ganz ausschließend von der Sorge für Graf Stephan in Anspruch genommen wurden.

Waren die Schrecken, welche jenen damals bis an den Rand des Wahnsinnes getrieben,[220] wirklich nur das Phantom einer beängsteten, durch Befürchtungen der gräßlichsten Art auf das höchste gesteigerten Phantasie gewesen? Wer konnte hier entscheidend auftreten und behaupten, dem sei so!

Daß Fürst Andreas die Ausführung der drohenden Feste bei Beleja Tserkoff wirklich zu hintertreiben gewußt habe, wie er allerdings zu verstehen gegeben, wenn gleich nicht in deutlichen Worten, war eben nichts Unmögliches; aber auch andre Gründe konnten hier leicht vorgewaltet haben, andre, gefährlichere, mit den Befürchtungen zusammenhängende, durch welche Mathias Apostol zu seinem verzweiflungsvollen Thun getrieben worden war.

Des Kaisers nahe bevorstehende Reise in die südlichen Provinzen seines unermeßlichen Reiches, war jetzt längst kein Geheimniß mehr, die Anstalten zu derselben wurden eifrig und offenbar betrieben; doch über die eigentliche Veranlassung[221] derselben waren sehr verschiedene Meinungen in Umlauf. Die Mehrzahl wollte sie in der Gesundheit des Monarchen finden, welche ein milderes Klima verlangte; doch konnte er nicht auch auf diese Weise, ohne Aufsehen zu erregen, sich dem Schauplatze von Ereignissen entziehen wollen, die er vielleicht nur dunkel ahnete, ohne daß jedoch eine Entdeckung der Gefahren wirklich Statt gehabt hätte, die seinem Leben droheten?

Seinem Leben, des Kaisers geheiligtem Leben! Richard dachte es mit Schaudern.

Er ist nicht aufgelöst, der fürchterliche Bund! rief er, von wilder Angst ergriffen, der ihn rings umgebenden Einsamkeit, der einzigen Vertrauten seiner innern Qual entgegen. Er selbst, Andreas selbst ist tiefer als jemals in denselben verflochten; um ihn gefahrlos zu gestalten, behauptet er! Kann seine, kann irgend eine menschliche Kraft jetzt, in diesem Augenblicke noch dazu ausreichen?[222]

Eugens fortwährende, geheimnißvolle Entfernung! dachte er ferner, des Sergius nicht minder geheimnißreiche Reise, wohin? zu welchem Zwecke? zu wem? Wenn nicht zu ihm, zu dem geliebten Freunde meines Herzens, zu Eugen. O Eugen! auch Du wirst das Opfer eines ungeheuren Irrwahnes Deines Vaters werden, der uns Alle dem Untergange zutreibt: rief er laut!

Der Bund wäre ganz gefahrlos, bis zur Ohnmacht entwaffnet! behauptet der Fürst; wodurch wäre er es? fuhr Richard in seinen Überlegungen fort, wodurch wäre er es? Und wenn nun Sergius nicht im entscheidenden Augenblicke gekommen wäre; der tollkühne, wüthende Mathias das furchtbare Signal zum Ausbruch der beschlossenen Gräuel wirklich gegeben hätte? Wo ist die irdische Gewalt, welche alle die vielen Tausende mordlustiger Verschworenen zu bändigen vermocht hätte, welche nicht nur in Petersburg,[223] welche durch das ganze Reich, durch alle Stände in demselben verstreut sind, bereit zum Werke der Zerstörung?

Ich soll nicht glauben, nicht sehen, nicht hören! soll die Gräuel nicht achten, die jetzt ohne Schleier in jenen schändlichen, Mord und Verbrechen predigenden Zusammenkünften der Verbündeten vorgetragen werden; ich soll ihre Reden für sinnlose Erzeugnisse einer verdorbenen, ohnmächtigen Phantasie, ohne alle weitere Bedeutung hinnehmen! – Wer kann das Unmögliche von mir fordern!

Zwiespalt, Unzufriedenheit, Wankelmuth werden schon jetzt unter ihnen laut; eidbrüchige Verräther giebt es überall, in allen Verhältnissen; und wenn nun geschieht, was bis jetzt nur durch ein Wunder verhindert worden sein kann; wenn Einer, ein Einziger nur von jenen Vielen, von Reue, Eigennutz oder Furcht getrieben, den Weg zum Kaiser findet, den Bund verräth?[224]

Richard ward starr vor Entsetzen über den Gedanken, der jetzt in furchtbarer Klarheit vor ihm aufleuchtete!

Verloren! verloren! unrettbar Kaiser und Volk; Alle! Alle! Alle! schrie er laut; Abgrund, unergründlicher Abgrund rings umher! kein Ausweg mehr!

In wilder Verzweiflung zerraufte er sein Haar, warf auf den Boden sich hin.

Keine Rettung, wohin den Blick ich wende! nicht einmal die Möglichkeit eines Wunsches, denn die ewige Allmacht selbst kann Geschehenes nicht ungeschehen machen! Wo waren meine Augen, meine Sinne, mein gesunder Verstand, daß ich es nicht früher begriff! Verrath rettet Kaiser und Reich, der Bund geht zu Grunde, mit ihm Andreas und die Seinen!

Helena! kreischte er auf; ihm vergingen die Gedanken.

Dann suchte er sich wieder zu fassen. Bleibt[225] Alles, steht kein Verräther unter uns auf; – die Möglichkeit davon liegt vor Augen, denn bis jetzt hat noch Keiner sich gefunden; nun dann – dann, dann knirschte er, und lachte wild auf, dann ist ja Alles auf das Herrlichste! dann geht der Tanz los, Volkswuth führt den Reigen, und Pestel ist der siegende Held des Tages!

Wie jede Überspannung, sobald sie gehörig ausgetobt hat, so löste auch Richards Zustand sich allmälig in Erschöpfung auf, und machte gelassenerer Überlegung Raum. Er ließ Alles, was seit des Fürsten Andreas Heimkehr in der letztvergangenen Zeit sich wirklich begeben, an seiner Erinnerung vorüberziehn, und fand, daß außer dem Widerrufe des Befehls zu der bei Beleja Tserkoff beabsichtigten Revue und der Erscheinung des Mathias Apostol bei ihm in seiner Wohnung, sich doch eigentlich gar nichts zugetragen habe, was die Muthlosigkeit rechtfertigen könne, von der er so plötzlich ergriffen worden war.[226]

Seiner jetzigen Ansicht nach konnte des Mathias Besuch und Benehmen nur einem plötzlichen, durch übertriebene Sorge um seinen Bruder herbeigeführten Ausbruche von Wahnsinn zugeschrieben werden.

Und warum sollte Richard lieber in unbestimmten Zweifeln an seinen Pflegevater sich verlieren wollen, als in Hinsicht auf jene Revue den Andeutungen desselben Glauben schenken?

Richard war gewöhnt sich selbst der strengste Richter zu sein, und konnte in diesem Augenblicke, tief beschämt, den bedeutenden Einfluß sich nicht verhehlen, den sein durch des Fürsten Verschlossenheit verletzter Stolz auf die Beurtheilung der Handlungsweise desselben in der letzten Zeit geübt habe.

In solchem Falle ist es edleren Naturen immer schwer das rechte Maaß zu halten, aus übertriebener Großmuth nicht gegen sich selbst ungerecht zu werden, und so einen zweiten Fehler[227] zu begehen, indem man den ersten allzu überschwänglich gut machen will. Daher konnte Richard es nicht unterlassen sich selbst auf das allerhärteste zu verdammen, und die edelsten Gründe dem, wenigstens sehr auffallenden Betragen des Fürsten unterzulegen, die man schweigend ehren müsse, selbst wenn sie unbegreiflich erschienen.

Er gelobte sich selbst den Maaßregeln und Verheißungen seines edlen Pflegevaters mit ruhigster Zuversicht zu vertrauen; doch diese vortrefflichen Entschlüsse vermochten nicht die Unruhe ganz zu beschwichtigen, die ungeachtet aller Mühe, die er sich deshalb gab, noch immer in seinem Innern tobte, und ihm nicht erlauben wollte, dem Gange der Begebenheiten in ruhiger Unthätigkeit zuzusehen.

Er konnte die Verrath verkündenden Reden des Mathias Apostol nicht vergessen; wie, wenn nun die Behauptungen jenes mordlustigen Frevlers[228] dennoch auf mehr als bloßer Einbildung beruhten? dachte er: Wahrscheinlichkeit spricht mehr dafür als dagegen, und wer wird bei gesundem Verstande den Fallstricken eines eidbrüchigen Verräthers sich nicht zu entziehen suchen wollen, so lange dieses möglich ist?

Die edle großartige Natur meines hohen Freundes ist freilich leicht zu betrügen, sie kann keine Ahnung der niedrigen Verworfenheit jener im Dunkel hausenden Rotte in sich aufnehmen, sprach er seiner alten Gewohnheit nach laut zu sich selbst. Doch ich will für ihn sehen, ich will sein Auge werden, da er auf andre Weise meine Hülfe verschmäht. Ich will statt seiner die Schlupfwinkel des Lasters durchspähen, die ihm unzugänglich sind, und es immer bleiben müssen.

Man sagt ja, die kleine behende Eidechse suche die Klüfte auf, in welchen die giftige Otter hauset, und eile durch Gras und dürres Laub vor ihr her, um durch ihr Rascheln schlafende[229] Menschen warnend zu wecken, setzte er lächelnd hinzu.


Von nun an ergriff Richard auf das eifrigste jede Gelegenheit, die zu näherer Bekanntschaft mit einzelnen Verbündeten führen konnte. Während er von ihren eigentlichen Zusammenkünften sich etwas zurückzog, ließ er um so öfterer bei Trinkgelagen sich finden, selbst bei solchen, wo weder Mäßigkeit noch feinere Sitte den Vorsitz zu haben pflegten. Er ließ in Klubbs und Spielhäusern, auf Bällen und öffentlichen Tanzböden sich einführen, besuchte Kaffeehäuser, Weinhäuser, Billards, lauter Orte, wo man früher ihn nie gesehn, zeigte als täglicher Gast sich in Gesellschaften, wo bis jetzt man gewohnt gewesen war ihn als eine höchst seltne Erscheinung zu begrüßen, und suchte so die Gesinnungen einzelner Mitglieder des Bundes genau kennen zu lernen, um[230] jeden von fern drohenden Verrath gleich beim Entstehen zu entdecken.

Auf diese Weise konnte er nicht verfehlen eine sehr ausgebreitete Bekanntschaft unter Leuten sich zu erwerben, mit denen er bis dahin in keiner Art von Verkehr gestanden; er gerieth zugleich in den Ruf eines leicht und locker hinlebenden jungen Gesellen, auf dessen Gegenwart seines Gleichen keine besondere Rücksicht zu nehmen nöthig hatten, sondern im Gegentheil sich nach Lust und Belieben ganz zwanglos gehen lassen konnten, was Richards Beobachtungen ungemein erleichterte.

Nebenbei lernte er hier eine ihm fast unbekannt gebliebene Seite des Lebens kennen, machte auch die Entdeckung, daß zwischen dieser ihm neuen Welt und der vornehmeren, in welcher er bis dahin sich bewegt hatte, der Unterschied mehr in der Form, der äußern Vergoldung, als in ihrem wahren innern Gehalte zu finden sei; doch[231] das, wonach sein Forschen eigentlich strebte, vermochte er nicht zu entdecken. Nirgends zeigte sich die kleinste Spur beabsichtigter Verrätherei unter all den Verschworenen, die von allen Seiten sich an ihn drängten, weil sie ungeachtet der republikanischen Gesinnungen, die sie zur Schau trugen, durch den Umgang mit ihm sich gehoben glaubten, den sie bis dahin immer nur in den Umgebungen der Vornehmsten des Reiches gesehen.

Die Ausgezeichnetsten unter Richards neuen Freunden suchten Anfangs meistens nur aus Prahlerei und Eitelkeit, seltner durch wirkliches Wohlgefallen an seiner Persönlichkeit, sich den Schein inniger Vertraulichkeit mit dem Allgefeierten zu geben; doch gar bald ging dieser Schein in Wahrheit über, denn Gewohnheit trägt am Ende immer den Sieg davon; sie vergaßen der vorsichtigen Schlauheit, die sie im vertraulichen Umgange mit ihm zu üben gemeint, und[232] zeigten sich ohne Hehl wie sie eben waren. Es ging ihnen mit ihm, wie es vor vielen Jahren den Bewohnerinnen einer ehemaligen freien Reichsstadt erging, denen die nahe Ankunft einer Königin angekündigt wurde, welche in ihren Mauern einige Tage zu verweilen gedachte.

Die Damen geriethen über die Beobachtung der an Höfen üblichen Etikette, besonders über die richtige Anbringung des Wortes Majestät, in Todesangst, und behaupteten mit der hohen schönen Frau nimmermehr sprechen zu können. Und als diese nun in ihrer Mitte war, gütig und freundlich gegen Jedermann, nannten die Geängsteten, in der Freude ihrer erleichterten Herzen, sie ohne weitere Umstände »meine liebe.«


Richard benutzte die sich ihm bietende Gelegenheit zur Beobachtung seiner Umgebungen auf das Beste. Unzufriedenheit, Ungeduld über zu[233] langes Verzögern des einmal Beschlossenen, Haß und Mißtrauen gegen die Häupter des Bundes, besonders gegen Pestel, entdeckte er in aller Gemüth, doch immer nur als schnell vorübergehende, durch irgend ein neueres Ereigniß hervorgebrachte Erscheinung.

Die heute Unzufriedenen, zeigten sich morgen in ganz entgegengesetzter Stimmung, die Ungeduldigen waren besänftigt, und hofften auf einen, mit nächstem zu fassenden, alles mächtig fördernden Beschluß. Die Einen hatte Pestel freundlich gegrüßt, die Andern Sergius, oder Mathias Apostol angeredet, und damit war alles gut gemacht.

Je länger dieses währte, je unsichrer wurde Richard in Zusammenstellung der aus seinen Beobachtungen hervorgehenden Resultate. Einigemal glaubte er dem in der Mitte der Verbündeten lauernden Verräther auf der Spur zu sein, und ehe er sich dessen versah, löste die angebliche[234] Verrätherei in einen albernen, frostigen Scherz sich auf.

Es gab Stunden und Tage, wo andre Gedanken ihn beschäftigten; es schien ihm oft, als ob man höheren Ortes dem sogenannten Bunde der ächten Kinder des Vaterlandes von selbst auf der Spur sei, und heimliche Anstalten treffe, ihn gefahrlos und sicher aufzulösen; was Richard allerdings als das Allererwünschteste betrachtete das sich ereignen konnte, sobald Fürst Andreas selbst in dieses Staatsgeheimniß eingeweiht, und mit Lösung des Bundes beauftragt war, den er und seine Freunde einst selbst in der lobenswerthesten Absicht gestiftet, und der allein durch dessen weit um sich greifende Vergrößerung ausgeartet, jetzt freilich eine höchst bedrohliche Gestaltung angenommen hatte.

Nur so allein glaubte Richard des Fürsten wiederholte Versicherung der völligen Gefahrlosigkeit des Bundes erklärt, und die Wahrheit[235] derselben bestätigt zu sehen; und doch regte sich etwas in seinem Gemüthe, das diesem Glauben widersprach: denn es wurde ihm schwer eine solche künstliche, an Falschheit gränzende Halbheit, mit dem großen edlen Charakter seines väterlichen Beschützers zu vereinen. Daher steigerte die Angst um ihn und die Seinen sich oft bis zur Verzweiflung, wenn die Möglichkeit ihm vorschwebte, daß etwas dem Ähnliches ohne Vorwissen desselben im Werke sein könne.

So fuhr er denn in seinem unruhigen ängstlichen Treiben fort, suchte, was zu finden er weder wünschte noch hoffte, während alle seine Freunde und näheren Bekannten die Veränderung höchst auffallend fanden, die mit ihm und seiner Art zu leben vorgegangen war. Sogar Andreas bemerkte sie und spielte zuweilen scherzend zwischen Lob und Tadel darauf an; wußte aber dennoch jeder Erklärung, die Richard ihm geben wollte, mit gewohnter Gewandtheit auszuweichen.[236] Nur Helena, mochten auch noch so seltsame Gerüchte über ihn ihr zu Ohren kommen, nur sie allein ließ auf keine Weise von dem Glauben an ihren Freund, an seine Liebe, an seine Treue, an seine reine Sittlichkeit sich abwendig machen. Aber auch sie wollte nie ihn anhören, wenn er über manches sich zu erklären suchte, das seiner Meinung nach in ihren Augen ihn herabsetzen konnte.

Ich glaube gar Du willst von Deinem Thun und Lassen mir Rechenschaft ablegen? rief sie lächelnd; wissen wir etwa die uns spärlich zugemessene Zeit des ungestörten Beisammenseins nicht besser zu benutzen? oder glaubst Du, ich wäre so ungerecht nicht begreifen zu wollen, daß Du während der Abwesenheit Eugens zuweilen anderer Erholung bedarfst, als unsre doch immer etwas formelle Societät Dir gewähren kann? Ich selbst, setzte sie scherzend hinzu, möchte zuweilen die Fürstin gern ein wenig bei Seite[237] schieben und mich, wäre es auch nur der Abwechselung wegen, mitten in ein einfach ländliches oder stillbürgerliches Verhältniß versetzen, wie Novellen-Dichter, besonders deutsche, es so anlockend beschreiben.

Richard wollte dessenungeachtet noch etwas über sein jetziges Benehmen einzuschieben suchen, doch Helene drückte ihm die Hand auf die Lippen.

Qui s'excuse s'accuse, weißt Du wohl: sprach sie freundlich. Hast Du es wirklich einmal so weit gebracht, daß Du bei mir einer Entschuldigung bedarfst, dann erst ist eine jede recht überflüßig; denn entweder alles ist zwischen uns niedergerissen, ohne Möglichkeit der Wiederherstellung, oder ich bleibe bei meinem Glauben an Dich, ohne daß eines von uns beiden ein Wort darüber verliert. Was sollen Worte zwischen uns, wenn man sich ohne sie versteht?
[238]

Was giebt es Neues? fragte Mitchell, nachdem er eine Weile mit inhaltschwerem Gesicht sich in seinem Sessel hin und her gewiegt.

Nichts Besonderes, das ich eben wüßte: antwortete Richard, der des langweiligen Besuches schon von Herzen müde war, obschon dieser jetzt selten ihn belästigte.

Hm! brummte Mitchell, besann sich wieder ein Weilchen, bemühte sich ungemein gescheit auszusehn, und rückte vertraulich mit seinem Sessel dicht neben Richard hin.

Es laufen doch mitunter sonderbare Gerüchte in der Welt umher, fing er an, man darf nur nicht immer trauen, noch weniger alles glauben. Aber die Sache wäre doch zu erwägen und eigentlich bin ich hier, um mir in einer wichtigen Angelegenheit bei Euch als meinem Landsmanne Rath zu erholen. Aber sagt mir vor allen Dingen, Mr. Wood, wißt ihr wirklich nichts Neues? Fällt denn in diesem großen Lande gar nichts[239] in der Politik vor? Freilich, hier ist kein Parlament, aber gewiß doch Opposition, denn die findet sich überall, in jedem Haushalte, und bestünde er nur aus zwei Personen. Aus Mann und Frau, meine ich. He he he he! setzte er, seinen eignen Witz belachend, hinzu.

Der Kaiser ist in Taganrog glücklich eingetroffen, höre ich; das ist die neueste Neuigkeit so viel ich weiß: erwiederte Richard.

Aha! nun gebt Ihr es schon näher! sprach Mitchell und sah außerordentlich pfiffig dazu aus: und weiter wüßtet Ihr wirklich nichts? gar nichts? habt nichts vernommen? nichts von einem dem Ausbruche nahen Revolutiönchen? flüsterte er plötzlich sehr leise ihm in's Ohr.

Richard fuhr zusammen, und blickte ihm starr in's Gesicht. Ihr erschreckt? Ihr wißt also noch von nichts, wie ich merke, am Ende was geht es Euch auch viel an? Ihr bekümmert Euch um Eure Pferde und um Eure Liebesaffairen,[240] damit gut. Ich kann Euch das nicht verdenken, ein junger Officier hat bei dergleichen weder viel zu gewinnen noch zu verlieren: in meiner Lage muß man schon vorsichtiger sein, und die Augen hinten und vorne haben. Im Vertrauen, große Dinge sind im Werke, und da will ich, wie gesagt, als Euer Landsmann, um Eure Meinung bitten, wie ich mich zu verhalten habe, wenn das Ding zum Ausbruch kommen sollte, setzte er mit leiser Stimme hinzu. Wie werden bei Euch die Revolutionen gemacht? sind sie sehr gefährlich? ich meine für's Eigenthum, für Hab' und Gut, denn mit dem Leben hat es so viel nicht zu sagen, ein kluger Kopf weiß sich schon zu salviren.

Erklärt Euch deutlicher, und seid von meiner Discretion wie von meinem guten Willen fest überzeugt, erwiederte Richard so ruhig als es ihm möglich war.

Nun so hört, fing Mitchell sehr leise flüsternd[241] an. In Petersburg selbst hat eine weit ausgebreitete Gesellschaft sich heimlich organisirt, deren Hauptzweck darauf hinaus geht, in Handel und Wandel allerhand Verbesserungen einzuführen, besonders in Hinsicht auf das Zollwesen; denn eben damit thut es vor allem noth. Der ehrlichste Kaufmann muß ja zum Schmuggler – doch das gehört nicht hierher. Genug die Gesellschaft, oder nennt es Verschwörung, ist da. Seht mich nicht so ungläubig an, ich will es Euch nur gestehen, sie haben mich selbst in ihren Klubb, oder, wie sie es nennen, in ihren Bund aufnehmen wollen, und ich habe mich verdammt drehen und wenden müssen, um mich davon los zu machen, ohne meine Freunde zu beleidigen, denn so etwas paßt nicht in meinen Kram. Der Tanz kann eben so gut heute als morgen los gehen, alle Verschworene sind auf's Äußerste vorbereitet, und ohne etwas Unruhe, vielleicht etwas Brand und Blutvergießen, wird[242] es schwerlich abgehen. Glaubt Ihr, daß es sehr gefährlich damit wird? Ein Engländer, meine ich, hätte weniger zu riskiren als ein Anderer, man nimmt doch immer einige Rücksicht. Nun ich hier einmal eingewohnt bin, möchte ich nicht gern sobald fort. Doch freilich, wenn Gut und Leben gefährdet sind: – setzte er bedenklich seufzend und die Achseln zuckend hinzu.

Ja! man kann das so eigentlich nicht vorher wissen – an Eurer Stelle – wenn es wirklich ist, wie Ihr saget, und Ihr Euch nicht irrt – die Schifffahrt ist jetzt gefahrlos und offen, das Sicherste wäre immer sich bei Zeiten aus dem Wege machen: stotterte Richard und wußte selbst nicht, was er sprach.

Das Alles wäre schon ganz recht, aber es ist dabei doch noch manches Andre zu bedenken, erwiederte Mitchell. Ich habe hier gute Geschäfte gemacht, und die Aussicht auf noch bessere gewonnen, das kann ich Euch, der Ihr dabei gar[243] nicht betheiligt seid, wohl gestehen. Mein edler ehrenwerther Beschützer, Fürst Andreas, ist ein sehr weiser unternehmender Herr, er hat große ausgebreitete Pläne gefaßt für Unternehmungen, die er unter meiner Leitung auf seinen Herrschaften ausführen lassen will. Ihr begreift, dabei läßt sich etwas gewinnen, das man nicht gern aufgiebt. Die Revolution ist ein Sturm, der schnell vorübersaust, den könnte man wohl im sichern Verstecke abwarten, und es kann obendrein kaum fehlen, daß nicht bei dergleichen manches abfiele, was des Aufnehmens werth wäre. Ein recht Gescheiter kommt in unruhiger Zeit nicht leicht zu kurz, wenn er Gelegenheiten wahrzunehmen weiß. Genug, mit der Revolution allein möchte ich es schon wagen – aber, aber! es ist noch etwas dabei, eine ganz verteufelte Geschichte: setzte er seufzend hinzu, heftete den starren Blick auf den Boden, ließ den Kopf bis auf die Brust hängen, die gefalteten Hände[244] sanken ihm in den Schoos und beide Daumen fingen an, sich in blitzschneller Geschwindigkeit um einander zu drehen.

Nun? fragte Richard, in ängstlicher Spannung.

Bürgerkrieg! erscholl es wie ein Orakelspruch aus Mitchells tiefster Brust: Bürgerkrieg! da geht alles drunter und drüber; und das währt jahrelang, wie wir der Beispiele genug davon haben. Der Fremde mit seinem Eigenthume fällt zwischen beide Parteien, wie zwischen die beiden Klingen einer Scheere, und wird von beiden als gute Beute behandelt.

Bürgerkrieg! wiederholte Richard.

Bürgerkrieg: erwiederte Mitchell: hört mich an, und Ihr werdet finden, daß meine Befürchtungen nicht grundlos sind. Ich will Euch nichts verhehlen, alles was ich weiß sollt Ihr erfahren, dann mögt Ihr selbst urtheilen und auch Eure Maaßregeln nehmen, denn als Militair habt Ihr doch einiges zu riskiren.[245]

Richard wollte vor Ungeduld vergehen, aber es half ihm nichts. Mitchell räusperte sich ganz bedächtig, dann fing er vertraulich leise an: Noch vor dem Ausbruche wird die Verschwörung an den Kaiser verrathen werden, das sage ich Euch vorher, traut meinem Worte. Natürlicher Weise bricht dann der Lärm gleich los. Erst hängen, köpfen, dann Widerstand, Aufstand, zwei Parteien, Krieg, Blutvergießen, offne Rebellion, jahrelang, wie in der Vendée, wie in Spanien, wie überall wo der Teufel freies Spiel gewinnt.

Deutlicher! deutlicher! um Gotteswillen deutlicher! woher wißt Ihr, vermuthet Ihr? o sagt mir alles! bat Richard in höchster Angst.

Woher? nun, wie es sich denn zuweilen wunderbar fügen muß, – nahm ich heute bei Caffarelli mein zweites Frühstück ein, wie gewöhnlich. Viel Gesellschaft war versammelt, es wurde viel getrunken. Vormittags ist das meine Sache[246] nicht; ich hatte meine Geschäfte im Kopfe; im Saale wurde es mir zu heiß, zu laut, ich setzte mich mit meinem Taschenbuche in die Ecke einer der kleinen Logen oder Lauben in dem Gärtchen hinter dem Pavillon, um eine wichtige Speculation zu berechnen, die mir eben angetragen worden war. Auf einmal wird es in der Loge dicht neben der meinen laut, viel lauter, als es dem Inhalte des Gesprächs nach zu urtheilen wahrscheinlich geworden wäre, hätten die Herren vorhin nicht zu tief ins Glas gesehen; glücklicher Weise sprachen sie französisch, um nicht von Jedermann verstanden zu werden. Wahr ist's, Mäßigkeit und Umsicht sind nicht Jedermanns Sache, aber – –

Den Inhalt! den Inhalt! um Gottes Barmherzigkeit willen, den Inhalt: flehte Richard ihn unterbrechend.

Es waren ihrer Zwei. Und was konnte der Inhalt ihres Gesprächs anderes sein, als jene[247] Verschwörung, in die sie auch mich gern hineingezogen hätten: fuhr Mitchell fort. Erst kamen Klagen über die Häupter derselben, dann Zweifel an dem Gelingen, dann Reue über den Verrath an dem Kaiser, dann Angst vor den Folgen, bis sie endlich gerade heraus darüber eins wurden, der einzige Weg zu ihrer eigenen Rettung wäre, dem Kaiser alles schriftlich zu entdecken, die Liste der Verschworenen, besonders der Häupter derselben ihm einzusenden, und so für sich selbst Verzeihung auszuwirken, möge aus den Übrigen werden was da wolle. Seht, das ist es eigentlich was mich so stutzig machte; und nun sprecht, was denkt Ihr davon?

Weiter, weiter, das Ende: rief Richard.

Aber was ist es mit Euch? Ihr seid todtenblaß, Ihr seid krank? fragte Mitchell ihn aufmerksam betrachtend.

Nichts, nichts; war die Antwort: plötzlich ein Stich in die Brust, ich habe das zuweilen,[248] es geht aber schnell vorüber; ich bitte Euch, fahrt fort.

Nun denn, viel ist nicht mehr übrig zu erzählen: der Eine wollte gleich den Brief an den Kaiser abfassen, der Andre, wahrscheinlich vom Trinken weniger erhitzt, suchte einige Tage Aufschub von ihm zu erhalten. In der Hauptsache waren Beide eines Sinnes; sie gelobten einander Treue und Verschwiegenheit. Dann kamen mehrere aus der Gesellschaft hinzu, von andern Dingen wurde gesprochen, und ich benutzte die erste Gelegenheit, um mich ungesehen aus meinem Schlupfwinkel fortzuschleichen. Aber Mr. Wood, Ihr werdet immer bleicher!

Nicht doch, nicht doch; ich bin wohl, ganz wohl, der kleine Anfall geht schon vorüber; erwiederte Richard: aber die Namen jener Beiden, Ihr kennt sie doch? Auf die Namen kommt viel an.

Die gehören zu den unaussprechbaren, wie[249] die meisten in diesem Lande, war die Antwort. Doch die Personen Beider sind mir wohl bekannt; wahrscheinlich sind sie heute Abend wieder bei Caffarelli, wenn Ihr mich begleiten wollt, so zeige ich sie Euch. Doch nun sprecht, entscheidet, soll ich gehen? soll ich bleiben? rathet mir was ist zu thun! sie führen ihren Entschluß aus, davon bin ich überzeugt; was sie sprachen war so fest, so besonnen alles überlegend.

Weiß der Fürst um die Verschwörung, und um Eure heutige Entdeckung? fragte Richard.

Wo denkt Ihr hin! das wäre vollends schön! da käme ich gut an! das wäre ja als ob man eine brennende Lunte in ein Pulverfaß werfen wollte! Da müßte ja alles Unheil gleich auf der Stelle hereinbrechen. Haltet Ihr mich für ein Kind? oder für ein altes Weib das nicht schweigen kann? fuhr Mitchell halb beleidigt auf.

Verzeiht, so war es nicht gemeint, erwiederte Richard. Eure Nachricht hat mich überrascht,[250] ich leugne es nicht; ich muß mich erst fassen, gebt mir nur einige Zeit, nur bis ich ein wenig über das Alles nachgedacht habe, dann soll es an meinem guten Rathe in dieser wichtigen Angelegenheit Euch nicht fehlen. Und nun kommt zu Caffarelli.

Mit diesen Worten faßte Richard in einem jener Anfälle von Verzweiflung, die der muthigsten Entschlossenheit wie ein Tropfen Wasser dem andern gleich sehen, Mitchells Arm und zog ihn mit sich fort. Mitchell mußte ihm folgen, er mochte wollen oder nicht.

Sie fanden wirklich die, welche sie suchten, am bestimmten Orte im Dominospiele vertieft. Richard war ihnen oft in den Versammlungen des Bundes begegnet; Beide waren Offiziere, der eine hatte Frau und Kinder, der andre für eine bejahrte Mutter zu sorgen.

Richard, indem er sie aufmerksamer jetzt beobachtete, begriff kaum wie es zugegangen sein[251] könne, daß nicht so manches unheimlich-geheimnißvolle in ihrem Wesen und Betragen, besonders in dem des Ältesten unter ihnen, eben der, welcher zufolge Mitchells Aussage, die Entdeckung noch aufgeschoben wissen wollte, nicht schon längst auf diese Beiden den Argwohn geleitet habe, der ihm in diesem Augenblicke fast zur Gewißheit wurde.

Die Abendgesellschaften bei Caffarelli pflegten gewöhnlich in ziemlich wilde, oft bis zum grauenden Morgen währende Orgien auszuarten. Während Mitchell, Richard alles allein überlassend, sich frühzeitig zurückzog, um morgen mit hellem Kopfe an seine Geschäfte zu gehen, hielt jener diesesmal ganz bis ans Ende dabei aus. Soviel er, ohne daß es auffallend wurde, es konnte, folgte er den ihm Verdächtigen wie ihr Schatten, bis zum Aufbruche der Gesellschaft; sah, wie sie im Laufe des Abends absichtlich sich von einander entfernten, um nicht ihr gar zu enges Zusammenhalten[252] bemerkbar werden zu lassen, und hatte dann wieder vielfache Gelegenheit, halbe Worte, Winke, Blicke aufzufangen, die zwischen ihnen fielen, wenn sie, scheinbar zufällig, an einander vorüber streiften.

Er bemühte sich von ihren Bekannten etwas Näheres über ihre häuslichen Verhältnisse zu erfahren; sie waren der Art, daß, wenn es möglich wäre, daß Verrath und Meineid, wie sie ihn im Sinne hatten, vor menschlichen Augen Entschuldigung finden könnte, diese ihnen vor tausend Andern werden mußte.

Beide waren arm, in so drückend-unfreier Lage, daß ihre Verbindung mit den Verschworenen sie in jedem Falle dem Untergange zuführen mußte; und nicht nur sie, sondern auch ihre Familien, deren Existenz auf sie allein begründet war.

Zehn Uhr? flüsterte, indem er die Gesellschaft verließ, der Eine dem Andern im Vorübergehen[253] zu: im weißen Kreuz bei Sutoff, antwortete dieser.

Durch die ängstliche Spannung, in der er auf alles um ihn Vorgehende achtete, waren Richards Sinne bis zu dem Grade geschärft worden, daß selbst diese, jedem Anderen unhörbar leise gesprochenen Worte, seinem Ohre nicht entgingen; und hätte er keinen Laut davon gehört, er hätte sie wahrscheinlich den Sprechenden von den Lippen gelesen.

Die angedeutete, in einer entfernten Vorstadt gelegene, elende Kneipe, war zufälliger Weise ihm bekannt; er hatte vor einigen Tagen, während eines heftigen Gewittersturms, in ihr Schutz suchen müssen.


Noch hatte der Glockenschlag die zehnte Stunde des folgenden Morgens nicht verkündigt, als schon Kapitain Mayboroda, der älteste jener beiden[254] Offiziere, in der niedrigen, von Myriaden von Fliegen durchschwärmten Gaststube des weißen Kreuzes, leise hastige Worte vor sich hinmurmelnd, mit weiten Schritten auf- und abstürmte, bis sein Freund, der Unterlieutenant Rostowzoff sich zu ihm gesellte. Beide waren in ganz unscheinbarer bürgerlicher Kleidung; sie hatten sich hierher beschieden, um ungestört und unbelauscht, umständlicher als es bis jetzt geschehen konnte, sich zu besprechen und zu berathen.

Wir sind nicht allein! rief Rostowzoff plötzlich, als er an der Seite seines Freundes auf- und abgehend, zufällig einen Blick hinter den riesig großen Ofen warf.

Ein Bauerknecht in seinen Schlafpelz gewickelt, das Gesicht durch die übereinander geschlagenen Arme bedeckt, um es gegen das Heer der ihn umsummenden Fliegen zu schützen, lag auf der Ofenbank hingestreckt; die Überreste eines schwarzen Bauerbrotes, einige Gurken, und[255] ein umgestürztes Glas, aus welchem der Branntwein noch tropfenweise auf den Boden fiel, bewiesen, daß ein überreichliches Frühstück, mit dem er nicht einmal hatte fertig werden können, dem Schläfer gar zu wohl geschmeckt habe.

Laß den Klotz liegen: lachte Mayboroda, nachdem er und Rostowzoff sich an ihm müde gerufen und geschüttelt hatten, ohne ihn erwecken oder auch nur aus seiner Lage bringen zu können: der wird uns weder belauschen noch verrathen, dafür stehe ich Dir. Ohne sich weiter durch ihn stören zu lassen, setzten sie ruhig ihr Gespräch fort, und begaben sich dann nach ein paar Stunden, jeder auf andrem Wege, nach Hause.


Richards Gemüthszustand, die wilde Aufregung aller herzzerreißenden Gedanken und Empfindungen beschreiben zu wollen, welche nach[256] Überstehung eines weder angenehmen, noch ganz gefahrlosen Abenteuers sich sinnverwirrend seiner bemächtigt hatte, wäre ein gar zu undankbares, schwer gelingendes Unternehmen.

Ich bin fest überzeugt, daß meine alles gleich errathenden Leser in seinem schmutzigen Schaafspelze, und den übrigen noch weniger einladenden Requisiten der Maske eines betrunkenen russischen Bauerknechts, sowohl meinen Helden, als den Zweck, zu welchem er diese Verkleidung anlegte, sogleich erkannten. Denn das ist eben aller Roman- und Novellendichter große Verzweiflung, daß es mit Aufbietung aller uns zu Gebote stehenden Phantasie, doch in diesen, an geistiger Kultur überreichen Tagen, fast unmöglich wird, sie durch einen Theatercoup zu überraschen, oder durch Erwartung des ungewissen Ausgangs der Geschichte in angenehme Spannung zu versetzen. Ihr Scharfsinn sieht leider nur zu gut und zu genau alles längst vorher! ich möchte sagen: früher,[257] als der Autor selbst damit im Klaren ist, wäre dieses nicht einem irischen Bull gar zu ähnlich.

Gewißheit hatte Richard auf diese Weise zu erhalten gesucht, Gewißheit dessen, was nur als möglich sich zu denken, mit Angst und Grausen ihn erfüllte. Er hatte sie jetzt erhalten, im vollsten Übermaaße erhalten, und war nahe daran, unter der Last der Erfüllung seines Wunsches zu erliegen! Mayboroda und Rostowzoff hatten in der schmutzigen, niedrigen Gaststube zum weißen Kreuz vollkommen deutlich, umständlich, und ohne allen Rückhalt sich gegen einander ausgesprochen; jeder Zweifel an ihrem ernsten Vorsatze, zu erfüllen was sie beschlossen, wäre offenbarer Wahnsinn gewesen; schaudernd sah Richard an seinem dünnen Faden das Schwert über den Verbündeten schweben; was sollte, was konnte er thun, um den Fall desselben aufzuhalten, ohne vielleicht nicht auch zugleich über Millionen[258] Menschen ein weit umgreifenderes Unheil herabzurufen!

Nur einen einzigen kurzen Augenblick war der Gedanke in ihm aufgestiegen, unter möglichst mildernden Umständen Pestel oder Sergius mit der dem Bunde drohenden Gefahr bekannt zu machen, und diesem dann die Abwendung derselben zu überlassen; aber sein edleres Naturell ließ eine solche Entheiligung seines eigenen Wesens nicht zur That sich gestalten.

Das, das, rief er über sich selbst entrüstet, das ist der Fluch jener halben Verhältnisse, die auf dem engen zwischen Gut und Böse schwankenden Pfade in geheimnißvollem Dunkel hinschleichen, daß jedes feinere Gefühl für Recht und Unrecht durch sie allmälig in uns abgestumpft wird; daß es sich nicht mehr regt, wenn wir strauchelnd nicht unterscheiden, auf welcher Seite unser Fuß von der schmalen Bahn abglitt. Wehe dem, der durch sie gezwungen ward,[259] über sich und seine Thaten den Schleier des Geheimnisses zu ziehn! Wer nicht mehr vor Gott und der Welt frei auftreten und laut eingestehen darf: das habe ich gethan, das will ich thun, ist schon mehr als halb verloren.

Ach, und wer an Wänden und Thüren hinlauschend, die Geheimnisse Anderer zu erspähen suchen muß, was ist der? Und habe ich nicht selbst so tief, und weit tiefer noch, mich herabgewürdigt! Ich mußte es! Da war kein Ausweg mehr, ich wich dem Gebote strenger Nothwendigkeit. Aber daß ich fähig war, wenn auch nur einen kurzen Augenblick, den Gedanken zu fassen, das von mir erlauschte Geheimniß jenen Tigern zu verrathen, denen das Leben eines einzelnen Menschen wie Spreu vor dem Winde ist! – in den Mittelpunkt der Erde möchte ich vor mir selbst mich verbergen, wenn ich das recht bedenke.

Der niedrige Angeber bedrängter Hausväter[260] werden, die von häuslicher Noth schwerer That zugetrieben – o mein Gott, mein Gott! ist ihr Vorsatz denn wirklich Verbrechen und das Gegentheil desselben Tugend zu nennen? – und bin ich es, der über die Unglücklichen den Stab brechen darf?


Ein einziger armer Trost, an dem er sich einigermaßen ermuthigen konnte, war ihm noch geblieben; er hatte noch acht Tage Zeit vor sich, um den Entschluß, den er doch nothwendig ergreifen mußte, zu überdenken. Acht Tage! eine kurze Frist, wie das Gesetz zuweilen dem Verurtheilten sie zugesteht, um Abänderung des wider ihn gesprochenen Todesurtheils zu erflehen, und während welcher dieser zwischen Furcht und Hoffen tausendfältig Todesangst in Qualen der Ungewißheit erduldet.

Zwischen Mayboroda und Rostowzoff herrschte[261] in jeder Hinsicht die vollkommenste Übereinstimmung ihrer Ansichten und Pläne. Der einzige Punkt, über welchen sie sich nicht gleich vereinigen konnten, betraf die Absendung des Briefes, der die wichtige Entdeckung enthielt, welche sie als den einzigen Weg zu ihrer eigenen Rettung betrachteten.

Richard hörte wie sie, in vollster Überzeugung unbelauschter Sicherheit, den Entwurf jenes Briefes mit einander lasen und Punkt für Punkt durchgingen. Das Schreiben enthielt nicht nur die Statuten des Bundes, von dessen erster Entstehung an bis zu der jetzigen Ausartung desselben, auch die Liste der bedeutendsten Mitglieder war sehr umständlich ihm beigefügt. Fürst Andreas, Eugen, Alex, waren an der Spitze als Häupter desselben neben Pestel genannt, neben Sergius, neben Mathias Apostol, neben Bestuscheff Romin!

Ob dieses Schreiben mit der Post geradezu[262] an des Kaisers Majestät abgehen solle, den ein unverbürgtes Gerücht so eben in Tangarog hatte anlangen lassen, oder dem Minister Fürst ***** der in Petersburg selbst anwesend war, übergeben werden, das war die große Frage, über die sie sich nicht gleich vereinigen konnten.

Mayboroda, als der ältere und vorsichtigere, war für den ersteren, der jüngere heftigere Rostowzoff für den zweiten, schneller zum Ziele führenden Weg. Er fand es unendlich schwierig, ein so wichtiges Papier in so weiter Entfernung schnell, sicher, unverletzt, in die Hände des Monarchen zu bringen, der, im Andrange der Geschäfte, es vielleicht lange ungelesen und unbeachtet liegen lassen würde, indem er die Wichtigkeit desselben unmöglich ahnen könne.

Nach langem für und wider Streiten, kamen beide mit einander überein nichts zu übereilen, sondern über diesen Punkt noch acht Tage Bedenkzeit sich zu gönnen.[263]

Und wenn nun diese Frist verstrichen ist, wenn jene acht Tage vorüber sind, was dann? fragte Richard sich.

Gott wird helfen! seufzte er; doch die Hoffnung, welche in jenen frommen Worten liegt, an denen er so gern fest gehalten, fand in seinem angsterfüllten Herzen keinen Raum.


In Kämpfen mit immer steigender, immer qualvoller sich aussprechender Unentschlossenheit, in Überlegungen, welche nur zu beklemmender Geistesdumpfheit, aber zu keinem bestimmt festzuhaltenden Resultate führten, verlor Richard viel von der ihm spärlich zugemessenen Zeit, und wäre vielleicht auf gutem Wege gewesen auch den Verstand darüber zu verlieren, hätte er nicht, ehe es damit zu spät war, sich gewaltsam zusammen genommen.[264]

Kein Ausweg! keiner! keiner! rief er: so geschehe denn was geschehen muß! Andreas, mein Vater und mein Gebieter, ich kann Deinem Verbote nicht länger gehorsamen, ich kann nicht länger Dich schonen! Mir bleibt keine Wahl, ich breche jede Scheidewand nieder, die Du zwischen uns beide gestellt hast; gegen Deinen Willen dringe ich zu Dir durch, und lege die Last, die ich nicht zu lüften vermag, in Deine starke Hand. Es war mein erster Vorsatz, wie es der natürlichste ist. Was ich damit aufs Spiel setze? Ich weiß es wohl! Ach wäre es nur blos mein Leben, und mit diesem Opfer alles beendet!

Richard traf den Fürsten Andreas nicht daheim; er kehrte am nämlichen Tage in dessen Hôtel zurück, zwei, dreimal, zuletzt sogar zu später Nachtzeit; immer vergebens, er fand ihn nicht. Er überzeugte sich, daß Andreas sich nicht verleugnen lasse, wie es wohl zuweilen geschehen sein mochte, und wie Richard auch jetzt[265] es befürchtete; aber der Fürst war wirklich seit dem Morgen dieses Tages nicht wieder nach Hause gekommen.

Auch bei den Damen war keine Nachricht von ihm zu erhalten; den Tag über fand Richard sie von Besuchen umringt, Abends war Kartenassemblée bei der Fürstin Eudoxia, wodurch die Abwesenheit ihres Gemahls, der solchen Festen gern aus dem Wege ging, freilich einigermaßen motivirt wurde. Eine alte, sehr vornehme und sehr verdrießliche Dame, deren Parthie die Tochter des Hauses gewöhnlich machen mußte, weil dergleichen keinem andern zuzumuthen war, hielt die arme Helena am Whisttische fest; und nur durch ein kleines, unmerkliches Achselzucken, von einem tragikomischen Lächeln begleitet, konnte sie diesmal ihren Freund aus weiter Ferne begrüßen.

Nach in peinlichster Sorge durchwachter Nacht wandte Richard alles an, die Fassung zu erringen,[266] deren er bedurfte, um heute gewiß, selbst gegen den ausgesprochensten Willen des Fürsten, bis zu ihm durchzudringen. Fünf Tage, nur noch fünf Tage! rief es unaufhörlich in seinem Innern; in unaussprechlicher Seelenangst, mit dem Gefühle des Verurtheilten, dem der Richter das Ziel seines Lebens, zu Stunden und Minuten berechnet, vor Augen gestellt hat, sah er den Zeiger seiner Uhr vorwärts rücken. Da wurde ein Billet des Fürsten ihm gebracht; schon von weitem erkannte er die Handschrift: in zitternder Hast brach er es auf.

»Sehr leid thut es mir, lieber Sohn, daß Du mich gestern wiederholentlich verfehlen mußtest: schrieb der Fürst: um so mehr, da vielleicht zehn bis vierzehn Tage vergehen werden, ehe ich und Du – –

Der Boden wankte unter Richards Füßen, er vermochte nicht weiter zu lesen, riß die Thüre auf: mein Pferd, rief er überlaut, eilt, eilt als[267] gälte es auf Leben und Tod! mein Pferd, die Droschke, um Gotteswillen eilt, eilt!

Dann nahm er das verhängnißvolle Blatt wieder zur Hand, aber die Zeilen, die Schriftzüge wogten und wirrten vor seinem unstäten Blicke in und durch einander. Glücklicher Weise hatte er schon am vorhergehenden Abend zu früher Morgenzeit anzuspannen befohlen; ohne Zögern konnte er daher in die Droschke sich werfen, und mit verhängtem Zügel dem Hotel des Fürsten zujagen.

Schon lange vor Tagesanbruch war Andreas mit Postpferden abgereist, keiner der Diener wußte genau wohin; Einige wollten Riga, Andre Dorpat, noch Andere Mitau als das Ziel der Reise nennen gehört haben; Bestimmtes wußte Niemand anzugeben; Mitchell und der Kammerdiener waren seine einzigen Begleiter.

Eisige Kälte rann schaudernd bei dieser Nachricht dem unglücklichen Richard durch Mark und[268] Bein; er zog den Zettel des Fürsten wieder hervor, und war jetzt im Stande weiter zu lesen.

»- zehn bis vierzehn Tage vergehen werden, ehe ich und Du uns wiedersehen: denn ich stehe im Begriff mit Deinem Landsmann eine nothwendige Geschäftsreise anzutreten, die mich leicht so lange von Petersburg entfernt halten kann: war der Schluß jener oben abgebrochenen Periode. Bei allen seinen Seltsamkeiten und Langweiligkeiten: hieß es ferner: kann dieser Mensch als treffliches Werkzeug dienen, um mit seiner Hülfe ungemein viel Nützliches für das allgemeine Beste zu wirken. Rechne es mir nicht zu, mein Sohn, daß ich in der letzten Zeit von meinen Lieblingsplänen zu erfüllt war, deren Ausführung ich jetzt rasch entgegenschreite, Du kennst mich ja! Ist Mitchell nur erst in voller Thätigkeit, dann kommt auch Deine Zeit. Bis dahin lebe wohl, auf glückliches Wiedersehn.«

Glückliches Wiedersehn! Nacht wurde es[269] bei diesen Worten in Richards Seele. Er wußte nicht was er zuerst ergreifen solle. Zu Eudoxia, von ihr den Aufenthalt ihres Gemahls erforschen, und dann ihm nach, selbst ohne Urlaub, wenn es sein muß, und kostete es Leben und Ehre. Etwas einem solchen Entschlusse Ähnliches dämmerte in ihm auf. Er vergaß daß die Sonne kaum aufgegangen sei, eilte dem von der Fürstin bewohnten Flügel zu, und fand dort noch alles in tiefe Nacht versunken. Außer einigen mit Reinigen der Zimmer beschäftigten Weibern, regte in diesem Theile des Hotels sich für jetzt noch keine lebende Seele.

Unmuthig wandte er sich dem Rückwege zu – da brach dicht neben ihm ein feines Stimmchen, hell wie ein Silberglöckchen, in halb ersticktes Lachen aus; leichtfüßig huschte wie auf Socken etwas an ihm vorüber. Die kleine Zoë war es, Helenens zierliches Spielwerk; ein armes Griechenkind, dem sie wie einem artigen, buntgefiederten[270] Lieblingsvögelchen, im Innern ihrer Zimmer herum zu flattern erlaubte, und zugleich mit großer Liebe zu ihrem persönlichen Dienste es sich heranzog.

Ei Herr! so früh am Tage? fragte die Kleine und schlug die langen dunkeln Wimpern auf, um mit den großen hellen Kinderaugen ihn von oben bis unten zu betrachten. Und sieh'st obendrein wie ein aufsteigendes Gewitter aus. Der fahlgraue Überrock, in welchem ich Dich in meinem Leben noch nicht gesehen habe, schlottert wirklich wie eine Regenwolke um Dich her; da muß man sich ja fürchten Dir nur einen guten Morgen zu bieten! setzte Zoë lachend hinzu.

Schläft Sie noch? fragte Richard, ohne auf die kleine Schwätzerin zu hören.

Sanft und süß; denn nach Deiner Toilette, und nach dem Tone in welchem Du frägst zu schließen, meinst Du doch wohl unsre Amme, Frau Elisabeth, war Zoës neckende Antwort.[271] Meinst Du aber uns etwa: so wisse, daß wir in dieser schönen Sommerzeit immer mit der Lerche auffliegen. Aber unsichtbar bleiben wir darum doch. Bilde Dir nicht etwa ein, daß Du mich wirklich jetzt siehst; Gott bewahre, damit hat es noch einige Stunden Zeit.

Zoë, süßes liebes Kind, bat Richard, der jetzt wieder zu einiger Besinnung gelangt war, ich muß Deine Herrin sehen, sprechen, jetzt gleich; es hängt weit Wichtigeres davon ab, als ich Dir sagen, als Du begreifen kannst. Ich beschwöre Dich bei allem, was Dir lieb und heilig ist, bei dem Andenken Deiner Mutter, bei dem grauen Haupte Deines Vaters beschwöre ich Dich, bringe mich zu ihr, nur auf wenige Minuten.

Zoë stand vor ihm, halb erschrocken über den Ernst, mit welchem er in sie drang; doch ihr kindischer Muthwille gewann bald wieder die Oberhand. Sehen? sprechen? und in dieser Regenwolkenhülle? fragte sie: machte ein altkluges[272] Gesichtchen, neigte das Köpfchen nach einer Seite, wendete die Fläche der kleinen in einander gefaltenen Hände mit vorgestreckten Armen dem Boden zu, und wiegte sich bedächtig von einem Füßchen auf das Andre.

Nein, es geht doch nicht: fuhr sie plötzlich auf: sprechen? unmöglich! aber sehen? nun es kommt darauf an, setzte sie schalkhaft lächelnd hinzu, was giebst Du mir wenn – bist Du dumm! rief sie heftig mit dem Fuße aufstampfend, indem sie bemerkte daß Richard nach der Halskette griff, an welcher er seine Uhr trug, und wandte ihm unwillig den Rücken.

Doch besann sie sich bald wieder eines Bessern, drückte, durch dies Zeichen Schweigen gebietend, den Finger auf die Lippen, nickte lächelnd aus klugen Augen ihn an, wandte sich, winkte ihm ihr zu folgen, und schritt, leise leise, auf den Sammtpfötchen eines Kätzchens, behende[273] vor ihm her, einen Weg den er nie gekommen war, über schmale Treppen bald auf, bald ab, bis vor eine von innen verhängte Glasthüre.

Dort ließ sie ihn stehen, ihr beredtes bittendes Mienenspiel ermahnte ihn nochmals zum lautlosesten Schweigen, dann verschwand sie, eben so unhörbar leise, als sie gekommen war.

Der in einer Ecke etwas verschobene Vorhang hinter der Glasthüre vergönnte einen Überblick des sehr kleinen, kapellenartig eingerichteten Kabinets, vor welchem Richard stand. Die Wände desselben waren mit Marmor in verschiedenen Farben bekleidet, eine goldne, sogenannte ewige Lampe schwebte von der hochgewölbten Decke herab, und beleuchtete, nie verlöschend, das uralte auf Goldgrund gemalte Muttergottesbild über dem kleinen Hausaltare von Malachit, den kunstvolle Stickereien und die köstlichsten Spitzen aus Brabant zwar bekleideten, aber nicht verdeckten. Frische Sträuße von blühenden Myrten[274] und weißen Lilien prangten vor dem Altargemälde in gleich Diamanten blitzenden Vasen vom reinsten Bergkrystall, und ein golddurchwirkter persischer Teppich lag unter dem Betschemel vor dem Altare hingebreitet.

Zu Richards finstern Gedanken, welche unablässig Tag und Nacht ihn verfolgten, wollte diese unerwartete ihm entgegen leuchtende Pracht wenig stimmen. Geblendet senkte er die Augenlieder; der bis zu ihm dringende Weihrauch und Lilienduft wirkte betäubend auf seine Sinne, ihm wurde sonderbar zu Muthe, als sei nun alles überstanden, als schwebe er, von jeder Sorge entfesselt, an der Schwelle einer höheren Welt.

Ausruhend wollte die müde Seele in einen traumähnlichen Zustand schon sich versenken, als ein blendenderes Licht Richards halbgeschlossene Augen fast schmerzhaft berührte. Er fuhr[275] auf, die höher steigende Morgensonne hatte in diesem Augenblicke die in alter Glasmalerei prangenden Scheiben eines großen Fensters, dem Altare gegenüber, erreicht, und übergoß nun das Innere des Tempels mit einem, in allen Farben des Regenbogens glühenden Lichtstrome.

Jetzt erst, umgeben von diesem Meere von Glanz, wurde Richard einer wahrhaft himmlischen Gestalt gewahr, die halb knieend in betender Stellung auf dem Betschemel vor dem Altare hingesunken dalag. Im ersten Augenblicke glaubte er einer Erscheinung aus höheren Sphären gewürdigt worden zu sein, denn er sah das schöne Köpfchen von einer Strahlenglorie umgeben, wie Maler ihren Heiligen sie verleihen, um von gewöhnlichen Erdensöhnen und Töchtern sie zu unterscheiden.

Es war Helena, die hier in heiliger Morgenfrühe zu Gott sich wandte, ehe sie dem Treiben des geräuschvolleren Weltlebens sich überließ.[276] Die durch das gefärbte Glas hinter ihr einfallenden Sonnenstrahlen, die in den noch nicht gefesselten Locken gleichsam gefangen, jedes einzelne Haar in magischem Lichtglanze verklärten, brachten jene anmuthige Täuschung hervor. Der übrige überschwängliche Reichthum von Locken und Flechten war größtentheils durch eigene Schwere dem Kamme entschlüpft, der ihn zusammen halten sollte, und wallte in reizender Unordnung über dem schneeweißen, wie aus Luft gewobenen Morgenkleide hin, das die liebliche Gestalt in breiten malerischen Falten umfloß, fast bis zu den von den zierlichsten seidenen Pantöffelchen nur eben umfangenen Spitzen der Füßchen.

Schöner, lieblicher, ich möchte sagen, anbetungswürdiger, wenn das nicht gar zu altmodisch klänge, als in dieser ungesucht-einfachen, jeden Reiz bezeichnenden, und doch so bescheiden züchtigen Kleidung, hatte Richard seine Helena nie gesehen. Aller Hoheit entäußert, durch welche[277] Reichthum und Rang in der Welt sie auszeichneten, und die sie im täglichen Leben mit so viel Würde und Anmuth geltend zu machen wußte, erschien sie ihm hier, in anspruchsloser rührender Einfachheit, ein Lieblingskind der Natur, leichter, jünger sogar als sonst, ein lächelnder Engel, an der Gränze der Kindheit, mit klaren hellen Augen, mit rothgeschlafenen Wangen, so ruhig, so heiter, als habe ihrem kurzen schönen Leben weder Sorge noch Widerwärtigkeit jemals genaht, als ob sich und Andere erfreuen der einzige Zweck ihres Daseins wäre, als könne kein Morgen anders als Glück verkündend ihr aufgehn.

Die schön geformten, in dieser frühen Tageszeit weder mit Ringen noch Spangen belasteten Hände, ruhten zu beiden Seiten auf den Blättern des auf Pergament geschriebenen Gebetbuchs, das in alterthümlicher Pracht, in Sammt und Gold, Emaille und Edelsteinen prangend, auf dem Betpult aufgeschlagen vor ihr lag;[278] fromm und ernst hafteten ihre Augen auf den von längst in Staub zerfallenen Händen zierlich gebildeten Schriftzügen. Leise flüsternd, bewegte sich der liebliche Mund in unbeschreiblicher Anmuth. Die nämlichen Gebete, in der nämlichen Form, mit den nämlichen Worten, wie sie von Jugend auf ihr gelehrt worden waren, strömten ihr sowohl von den Lippen, als aus dem Herzen, und dies gerade war es, was der übrigens so Hochgebildeten etwas jedes Gefühl tief Ansprechendes verlieh.

Vom reinsten Glauben durchdrungen, war das fromme Mädchen der festen Überzeugung, daß Gott ihr Bitten verstehe, ohne daß sie nach Worten zu suchen habe, um ihm ihre Wünsche ausdrücklich auseinander zu setzen. Und so hielt sie sich an der von Alters her ihr lieb gewordenen Formel, aus welcher ein erquicklicher Hauch ihrer Kinderjahre ihr entgegen wehte.

Obgleich die mit leiser, man könnte sagen,[279] innerlicher Stimme geflüsterten Worte, zum größten Theile unvernehmlich an ihm vorüberrauschten, so hörte Richard tief bewegt doch deutlich die Namen von Helenens Eltern und Geschwistern, wie sie nach dem vorgeschriebenen Formular der Kirche vor Gott in Demuth sie nannte; der Name des Kaisers aber, der gleich darauf folgte, ergriff ihn mit einer Gewalt, für welche es schwer wäre Worte zu finden. Die Kniee brachen unter ihm zusammen, sein Herz entbrannte in unbeschreiblicher Inbrunst zum heißen Gebet um Abwendung jeder dem geliebten Herrscher drohenden Gefahr. Jetzt aber, jetzt hörte er und glaubte zu träumen, auch seinen Namen; und seiner selbst nicht mehr mächtig, im Gefühle schmerzlicher, Alles überwältigender Wonne, hatte er eben nur noch Besinnung genug, diese heilige Stunde nicht durch plötzliches Erscheinen vor der Geliebten zu entweihen.

Einige Minuten später rief ein leises Geräusch[280] ihn zu hellerem Bewußtsein zurück. Zoë stand, ihm winkend, in der geöffneten Thüre, durch welche sie ihn früher hinein geführt hatte. Richard warf noch einen Blick auf den jetzt verlassenen Platz vor dem Altare, und folgte seiner jungen Führerin, die leicht wie eine Libelle vor ihm hinschwebte, immer noch den Finger auf die rosigen Lippen gedrückt.

Sie athmete schwerer, eine Thräne glänzte in dem großen dunkeln Auge, aber sie blieb stumm wie das Grab, bis sie an die Stelle gelangt waren, wo sie Richard seiner eignen Führung überlassen wollte; hier wandte sie sich plötzlich gegen ihn, und sah lächelnd unter Thränen ihn an.

Hat Zoë es recht gemacht? hat sie Dein Auge nicht erblicken lassen, was jedem Andern verborgen blieb? fragte sie; doch ich sollte Dich schelten, setzte sie mit aufgehobenem Finger drohend hinzu. Du, so groß, so alt! so klug, und[281] so ungeschickt! Hat die Fürstin Dich nicht gehört? und als sie aufgeschreckt an der Glasthüre vorübereilte, Dich sogar gesehen? Was Du eben gethan weiß ich nicht, aber sie hat darüber geweint, glaube ich; wenigstens sehen ihre Augen so aus. Und ich soll dergleichen mich nicht wieder unterfangen, gebietet sie, sonst – Dir aber sendet sie einen guten Morgen, und dazu den freundlichsten Dank, dafür, daß Du so bescheiden Dich betragen hast. Und das ist ihr für Dich noch nicht einmal genug! Auch dieses soll ich Dir noch geben: zum Andenken an heute, sagt sie.

Mit diesen Worten reichte Zoë ihm ein frisches weißes Lilienblatt aus dem Strauße auf dem Altare, und war verschwunden.
[282]

Ein Schreiben von Mitchells Hand, welches Richard in seiner Wohnung vorfand, entriß ihn leider nur zu bald dem kurzen Vergessen, das nach so vielen peinlich verlebten Tagen einige Rast ihm gewährt hatte. Er versank von Neuem in jene dumpfe Verworrenheit, jene immer und ewig nach einem Auswege vergeblich suchende Unentschlossenheit, mit einem Worte, in jene innere Hölle, die er ohne eigentliches Verschulden mit sich herum tragen mußte.

Auch dieser Brief enthielt in den ersten Zeilen die Nachricht, daß Mitchell im Begriffe stehe den Fürsten Andreas auf einer Reise nach Riga, vielleicht noch weiter, vielleicht sogar bis Memel zu begleiten. Die Veranlassung zu dieser Reise war persönliche Besorgung sowohl des Ausladens, als des weiteren Transports mehrerer aus England angekommener Modelle, Spinn- und Dampfmaschinen, neu erfundenen Ackergeräthes und ähnlicher Gegenstände, welche Mitchell[283] auf des Fürsten Verlangen, mit großen Kosten und Überwindung bedeutender Schwierigkeiten, aus England hatte kommen lassen. Er bedauerte übrigens sehr, die Zeit seiner Ankunft in einer jener beiden Städte nicht im Voraus bestimmen zu können, da er und sein Reisegefährte Willens wären, unterwegs einige in der Nähe liegende Mühlen und andre Anstalten und Baulichkeiten zu besuchen. Endlich ermahnte er seinen sehr geehrten Landsmann und Freund, sich des Gegenstandes ihres letzten Gesprächs zu erinnern, denselben ja nicht aus den Augen zu verlieren, und dabei der strengsten Verschwiegenheit, wie auch der größten Vorsicht sich zu befleißigen.

Der treffliche Mann schloß mit der ziemlich selbstsüchtigen Bemerkung, daß das Anerbieten dieser Reise ihm zwiefach willkommen gewesen wäre, weil, selbst wenn etwa während der Dauer derselben jener gefürchtete Sturm losbrechen[284] sollte, er unter dem Schutze seines mächtigen und vornehmen Reisegefährten sich für vollkommen gesichert halten dürfe.


So war denn Alles dem Unglücklichen unter den Händen entschwunden, woran er seine letzte Hoffnung zu knüpfen gewagt hatte! Den Fürsten einholen zu können, war reine Unmöglichkeit, jeder Gedanke seine Hülfe in Anspruch zu nehmen, wirklicher Wahnsinn. Und ohnedem, durfte, konnte Richard in dieser gefahrvollen Zeit von Helena und ihrer Mutter sich entfernen?

In all seiner überirdischen Glorie trat noch einmal das Bild der betenden Helena ihm vor die Seele; er meinte vor Mitleid mit ihr, und auch mit sich selbst zu vergehen; dennoch trachtete er jedes entnervende Gefühl zu überwinden, denn er fühlte es unläugbar, daß die ganze Last, die er auf Andreas zu übertragen Willens gewesen[285] war, jetzt auf ihn allein zurückgefallen sei; jeder unnütz vergeudete Augenblick Zeit konnte die entsetzlichsten Folgen nach sich ziehen.

Unter Todesqualen hätte er sein Herzblut freudig vergießen mögen, wenn damit jene Gräuel von ihr hätten abgewendet werden können; von ihr, die er seit jener letzten herzerhebenden Stunde inniger als jemals, gleich einer Heiligen verehrte.

Untergang, Schmach, Schande drohten ihr und ihrem Hause, drohten Allem, was nur in irgend einer Beziehung ihr theuer war, und Helena in ihrer kindlichen Arglosigkeit ging, ohne eine Ahnung davon zu haben, dem Unheil lächelnd entgegen, das innerhalb weniger Tage über sie hereinbrechen konnte!

O könnte ich aus einem Leben flüchten, das in so drohender Gestalt sich vor mir ausbreitet! Dürfte ich ins stille Grab mich betten, und nichts von Allem erfahren, was auf der schweren, über mich hingebreiteten Decke sich ereignen[286] mag! seufzte Richard. Doch diesen einzigen Ausweg aus aller Qual zu wählen, war ihm versagt: er durfte nicht zugleich mit dem Leben die schwere Verantwortlichkeit abwerfen, die jetzt auf ihm lastete!

Möglichst ruhig und besonnen bemühte er sich nochmals die ganze Lage der Dinge zu überdenken, zu ordnen, zusammenzustellen, was zusammen gehörte. Noch war nichts geschehen, noch stand es bei ihm das Geheimniß, das er im Gasthofe zum weißen Kreuz erlauscht hatte, zu verschweigen, zu vergessen, gänzlich zu ignoriren. Niemand konnte auf den Gedanken verfallen, daß er darum wisse; es stand in seiner Macht jene Beiden ihr Vorhaben ungehindert ausführen zu lassen, und zu erwarten, was daraus erfolge.

Dieser Erfolg – er ließ im Voraus sich berechnen; das geheiligte Leben des Kaisers blieb erhalten, abgewendet war unsäglicher Jammer, Tod und Verderben von Millionen.[287]

Und Fürst Andreas war verloren, vernichtet! Vernichtet er und sein ganzes Haus, Eugen, Alex, und sie, die edle fürstliche Frau, welche die mit ihrer Existenz am innigsten verzweigten Vorurtheile ihrer Kaste überwunden hatte, um ihm eine liebendere Mutter zu werden, als die es war, an welche die Natur bei seiner Geburt ihn gewiesen. Ach und Helena!

Kann ich, ohne vor Grauen vor mir selbst zu vergehen, einen solchen Gedanken nur denken, während die Möglichkeit, sie Alle zu retten, in meiner Hand liegt? rief Richard laut.

Eine einzige kurze Unterredung mit Pestel, und Alles bleibt wie es war, fuhr er gelassner fort. Jene Beiden fallen zwar als Opfer ihres Wankelmuths. Doch sie und ihr Geschick wiegen zu leicht, um hier in die Wage zu kommen. Hier Bedenken tragen, hier Rücksicht nehmen zu wollen, wäre schreiendes Unrecht gegen das große Ganze, das allein auf diesem Wege erhalten werden kann.[288]

Erhalten! erhalten! schrie er heftig auf: blöder, kurzsichtiger Thor! was bliebe erhalten, wo Pestel und seine Kreaturen freies Spiel haben! Dann erst, dann gewinnen Mord und Gewalt die Oberhand, dann erst geht Alles unter, Kaiser und Ordnung und Gesetz in einem Meere von Blut, in wilder Flamme rasender Anarchie.

Sie wären zwar gerettet. Doch um welchen Preis! Erschöpft schwieg Richard eine Weile; dann sprach er tief bewegt zu sich selbst:

Und bin ich denn wirklich zu dieser gräßlichen Wahl berufen? Mußte ich auf jener fernen Insel in Dunkel und Niedrigkeit geboren werden, um hier über das Wohl und Wehe, über die Erhaltung und den Untergang eines großen Reichs, eines mächtigen Monarchen zu entscheiden? Ist dem so? Herr der Himmel! nun so erleuchte du dein armes Geschöpf, zeige ihm den Weg, den es gehen soll!

Meine Wohlthäter, sie die mir mehr sind,[289] als Vater und Mutter seit meiner Geburt mir gewesen! und Helena!

Alles kann beendet werden ohne mich, muß ich, muß ich Schwacher hier thätig einschreiten? Wenn nun Krankheit mein Gedächtniß verwirrt hätte, oder wenn ich in jener Unglücksstunde jene Beiden nie vernommen hätte? Dann würde ich ruhig dasitzen und sagen: komme was kommen mag, ich kann es nicht ändern. Der Bund wäre vernichtet, alles wäre gerettet.

Nur sie nicht! und die Ihrigen nicht, und es ist dem nicht so! O Gott! Gott! ist denn bei dir kein Erbarmen mehr? Wirst du nicht durch ein Wunder das vollkommenste Bild von dir retten, das jemals aus deiner Schöpferhand hervorging?

Unbeschreibliche Angst verwirrte Richards Gedanken; wieder war es ihm unmöglich sie auf einem Punkte festzuhalten.

Rettung! Rettung für sie! o Herr des Himmels,[290] das Wunder! das Wunder! rief er überlaut, rang die Hände sich blutig, warf sich nieder zum Gebete, sprang auf, irrte blindlings mit großen weiten Schritten im Zimmer auf und ab.

Dann rief er wieder, in halbem Wahnsinne seiner selbst nicht mehr bewußt: Rettung! das Wunder! du thust deren täglich, eins mehr eins weniger, gilt dir gleich.

Gott, gnädiger, allgewaltiger Gott! flehte er mit herzdurchdringender Inbrunst, indem er wieder zu einiger Besinnung gelangte: heute, als du deine Sonne aufgehen ließest über Gute und Böse, heute noch stieg das Gebet des reinsten Wesens auf dieser Welt zu dir auf, o verwirf es nicht vor deinem Throne! Sie betete für ihre Eltern, für den Kaiser – und auch für mich! Du bist allmächtig und gerecht und allbarmherzig, du mußt, du wirst ihr Gebet erhören, das wortarme Gebet, aus kindlich vertrauendem[291] Gemüthe. Das Wunder! das Wunder! übe es an mir! erleuchte meinen blöden Sinn, gieb mir ins Herz, was ich thun soll.

So schrie der unselig Verzweifelnde zum Himmel auf, bis zur peinlichsten Erschöpfung.

Regungslos, in sich selbst versunken, lag er da, lange, lange. Ein zitternder, halberstickter Ton, man könnte es beinahe ein Aufschreien nennen, entrang plötzlich sich seiner Brust. Er fuhr auf, rieb mit der flachen Hand sich Stirn und Augen, gleich einem aus tiefem Schlafe Erwachenden, der sich zu besinnen sucht, ob das was ihn eben quälte, Traum oder Wirklichkeit sei.

Allmälig trat jetzt die seltsamste Veränderung seiner Haltung, seines ganzen Wesens ein. Er richtete aus der bisherigen gedrückten Stellung sich auf, die Brust hob sich hoch und frei in raschen Athemzügen; frische Lebensröthe färbte das bis dahin aschenbleiche Gesicht, innere Gluth[292] lang entfremdet gebliebener Begeisterung flammte in seinen Augen auf.

Sinnend schritt Richard einige Male im Zimmer auf und ab.

Ich erflehte ein Wunder, und siehe es ist mir geworden; es geschehen deren täglich, nur wir erkennen sie nicht. Sie recht benutzen, kostet freilich zuweilen einen etwas hohen Preis; doch hier gilt kein Markten; ein bittres Lächeln umkräuselte, kaum merkbar, seine Lippen, indem er diese Worte halb leise vor sich hinsprach. Dann fuhr er wieder einige Male mit der flachen Hand sich über Stirn und Augen, als wolle er sich ihm aufdrängende unangenehme Gefühle oder Gedanken von sich wegscheuchen, und setzte sich an den Schreibtisch.

Jede Spur früherer wilder Aufregung war von ihm gewichen, sein Benehmen war ernst und gefaßt, wie das eines Mannes, der Wichtiges, ja selbst sehr Schweres zu vollbringen hat,[293] aber alles bedenkend und überlegend, entschlossen und muthig an das Unvermeidliche geht, ohne sich, von was es immer sei, abschrecken zu lassen.

Die Gelehrten unter uns wissen die Entfernung der hoch über unsern Häuptern wandelnden Gestirne zu ermessen; sie berechnen, viele Jahrhunderte im Voraus, die Bahn des Kometen, sie ergründen die Tiefen der Meeresklüfte; doch wer ergründete jemals die weit furchtbareren Tiefen in einer Menschenbrust?

Dort schlummern Gedanken; gleich den Furien der Alten ruhen sie unter dünner Decke, lauschen unbeweglich, oft so lange als das Herz schlägt, als das Leben in unsern Adern pulsirt, und gehen dann mit uns ins Grab.

Aber ein Hauch ruft zuweilen sie auch wach; wehe dann dem Unseligen, in dessen Brust ein solcher ersteht! Er ergreift ihn mit eiserner Gewalt, und läßt ihn nicht los, bis er ihn fortgerissen hat zu unerhörter That, gut oder böse,[294] wie die Umstände es verlangen. Denn der Gedanke ist die höchste Gewalt, der Tyrann, der mächtigste Gebieter des kurzen schwachen Menschenlebens, bei ihm gilt kein Entrinnen. Unerwartet, gleich dem aus dunkler Nacht blendend auftauchenden Meteore, leuchtet er plötzlich in uns auf, und wird der Keim zu Begebenheiten, welche die Nachwelt, preisend oder verdammend, gleichviel, oft nach Jahrhunderten noch bewundernd anstaunt!

Ein solcher Gedankenblitz war es, an welchem die Fackel des noch immer als berühmt anerkannten Mordbrenners Herostrat vor Jahrtausenden sich entzündete; aber auch die heilige Gluth zu schwerer That begeisternder Vaterlandsliebe, in der Brust der im Vaterhause still und einfach auferwachsenen Charlotte Corday, die sie trieb den Dolch zu erfassen, und ihr Kraft gab, dem Tode in seiner grauenvollsten Gestalt muthig entgegen zu gehen.[295]

Verloren ist, ich wiederhole es, verloren der, in dessen Brust ein solcher Gedanke erwacht, er kommt nie davon los, bis er ihn ausgeführt. Es ist die alte in tausend Abänderungen sich wiederholende Geschichte vom kleinen Vogel und dem Zauber im Blicke der Klapperschlange.

Auch Richard war in diesem Augenblicke jener unsichtbaren Macht verfallen, die oft zum Großen und Rechten, oft aber auch zum Gegentheile führt. Die peinigende Ungewißheit war plötzlich von ihm gewichen, die gebietende Stimme in seiner Brust bezeichnete ihm deutlich den Weg den er einzuschlagen hatte, und für ihn gab es keine Wahl mehr!


Groß war die Freude, mit welcher Richard noch im Verlaufe des nämlichen Tages im Hause des Kapellmeisters Lange empfangen wurde. Zwar hatte er seit längerer Zeit die Schwelle[296] seiner musikalischen Freunde nicht überschritten, und wir, meine Leser und ich, können gar leicht eine gültige Entschuldigung dafür finden; doch Richard bedurfte hier einer solchen nicht; es lag nicht in ihrer Art, durch Furcht vor verdienten oder unverdienten Vorwürfen ihren, zuweilen etwas flatterhaft sich zeigenden Freunden, die Rückkehr zu ihnen zu erschweren.

Spät kommt Ihr, Doch Ihr kommt, Graf Isolani! rief Frau Karoline sehr freundlich ihm entgegen.

Heute doch nur um mit einem Auftrage Ihnen lästig zu werden, an dessen pünktlicher und sorgsamer Ausführung zu viel gelegen ist, als daß ich sie andern Händen als den Ihrigen anvertrauen möchte.

Der gemessne feierliche Ton, in welchem Richard diese Worte vorbrachte, fiel seinen Freunden auf, beide sahen forschend ihm in's Gesicht.

Sie sind krank gewesen, rief Lange, Sie[297] haben Verdruß gehabt, rief mit ihrem Manne zugleich Frau Karoline.

Eigentlich beides, eins folgte aus dem andern; doch das ist nun überstanden, bis auf eine ziemlich angreifende Nachkur, von der man freilich im Voraus nicht genau wissen kann, wie sie anschlägt, erwiederte Richard.

Der Kapellmeister drückte recht herzlich besorgt ihm die Hand, Frau Karoline schüttelte sehr bedenklich den Kopf; Richard fuhr indessen halb leise vor sich hinmurmelnd und an den Fingern abzählend fort:

Heute wäre also der vierte Tag. Schon! schon! o wie die Zeit im Galopp geht! Heute Dienstag der vierte, morgen Mittwoch der dritte, Donnerstag – ja Donnerstag, Freitag wäre schon zu spät.

Lieben Freunde, blickt nicht so angstvoll auf mich: sprach er, mit lauter Stimme, anscheinend ruhig weiter; die Ausführung dessen was[298] ich von Ihnen verlangen will, ist weder schwer noch gefährlich, doch Vorsicht, Treue, vor allem strenge Pünktlichkeit, sind dabei unerläßlich. Und wo wären diese sicherer zu finden, als bei einem so tactfesten und gerechten Manne, der selbst dem kleinsten vierundsechszig Theilchen im schnellsten Tempo sein ihm gebührendes Recht widerfahren läßt, setzte er hinzu, und klopfte lächelnd dem Kapellmeister auf die Achsel.

Doch weder auf diesen noch auf Frau Karolinen schien dieser Versuch heiter zu erscheinen den gewünschten Eindruck zu machen; beide erwiederten ihn nur mit Versicherungen ihrer Bereitwilligkeit jeden seiner Wünsche zu erfüllen.

Richard zog jetzt zwei versiegelte Briefchen hervor: es gilt nur diese beiden Billette an die Adresse abzugeben, und dafür zu sorgen, daß sie zur rechten Zeit in die rechten Hände gelangen: sprach er etwas kurz abgebrochen und beklommen. Ich bitte Sie inständigst, merken Sie[299] alle beide recht genau auf meine Worte! Heute Dienstag, morgen Mittwoch – diese beiden Tage bleiben diese Briefe in Ihrer sichern Verwahrung liegen, wenn ich nicht selbst, schriftlich oder persönlich, sie wieder zurück fordere.

Doch übermorgen, übermorgen ist Donnerstag! – der Donnerstag ist wunderlich; heißt es nicht so in einem alten Sprüchlein? – nun dieser, den ich meine, ist wohl einer der wunderlichsten, sprach Richard seltsam lächelnd, doch nahm er bald wieder sich zusammen: was ich schwatze sind Kinderpossen, alte Reminiszenzen, achten Sie nicht darauf, es gehört nicht hierher, und kann sie nur verwirren. Jetzt zur Sache; diese beiden Briefe bleiben heute in ihren Händen, morgen ebenfalls, doch Donnerstag, übermorgen! Nun auch übermorgen bewahren Sie sie sorgfältig, bis zur Mittagsstunde. Mit dem Schlage zwölf Uhr suchen Sie – Sie Selbst, lieber Lange, Sie selbst suchen die Person auf,[300] welche die Adresse dieses Billets Ihnen bezeichnet, und geben es zu eignen Händen ihr ab. Wo er auch immer sei, Sie suchen ihn auf; ist er nicht zu finden, so erwarten Sie seine Zuhausekunft in seiner Wohnung. Nur daß keine Zeit versäumt werde, nur daß der Brief gewiß übermorgen im Laufe des Tages in seine Hände kommt. Ist dieses vollbracht, so entsiegeln Sie sogleich dieses zweite unbeschriebene Couvert; wie Sie mit dem in demselben befindlichen Briefe zu verfahren haben, wird ein demselben beigeschlossner Zettel Ihnen sagen. Dies ist Alles, alles was ich von Ihnen erbitte, anscheinend wenig, und doch so viel.

An Obrist Pestel! rief Karoline sehr erstaunt, indem sie die Adresse des einen der Briefe in's Auge faßte.

Was können Sie mit dem zu verhandeln haben? fragte eben so ihr Mann.

Kennen Sie den Obrist Pestel? fragte Richard sehr lebhaft.[301]

Nicht viel mehr als blos vom Ansehn: war Langes Antwort: ich zweifle ob wir jemals in unserm Leben mehr als ein paar Dutzend Worte mit einander gewechselt haben. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, daß Obrist Pestel zu Herrn Richard Woods näheren Freunden sich zählen dürfe: setzte er etwas scharf betonend hinzu.

Das ist auch wahrlich nicht der Fall! rief Richard.

Das konnte ich erwarten, und doch freut mich es von Ihnen zu hören: erwiederte der Kapellmeister; die Wahrheit zu gestehen, der Herr Obrist sind mir zuwider, wie eine falsche Quinte; sehe ich ihn nur, so fährt es mir durch Mark und Bein.

Sie blicken so ernst, so wunderbar, was gilts, ich habe es errathen, Sie wollen sich mit ihm schlagen, und mein Alter soll ihm die Ausforderung bringen: rief plötzlich Frau Karoline.

Der Kapellmeister brach in ein überlautes[302] Lachen aus, vor dem das Haus erbebte. Die Troddelmütze flog von einem Ohre zum andern, er drehte sich auf einem Beine herum, und krähte vor Wohlbehagen. Nein, das ist Goldes werth! rief er: von mir wäre man am Ende dergleichen wohl gewohnt, aber hier von meiner kleinen Weisheit Salomonis! ein Officier wird einen alten Exkapellmeister zum Secundanten gegen einen andern Officier sich erwählen! Alte, das war ein starkes Stück von Dir! nein, da versteh' ich den Comment doch noch besser!

Auch Frau Karoline lachte herzlich auf.

O meine Freunde, möge doch bald der Tag erscheinen, an dem ich leichteren Muthes mit Ihnen froh sein darf! seufzte Richard! Übrigens hat Frau Karoline in der Hauptsache es doch halb und halb errathen. Dieses Papier enthält zwar keine Ausforderung, und doch – gehe ich in dieser Stunde noch einem schweren Kampfe entgegen; einem Kampfe der – wollte[303] Gott, es ginge nur um Leben oder Tod. Lassen Sie Ihre guten Wünsche mich begleiten!

Mit diesen Worten eilte Richard hastig davon, kehrte an der Thüre zurück, um seine Anordnung wegen der Billette noch einmal in aller Kürze zu wiederholen, und entfernte sich, ohne daß seine Freunde es wagten ihn aufhalten zu wollen.


Dies wäre alles? Weitere Bedingungen hätten Sie nicht? fragte der Minister, Fürst ***** am Ende einer langen Audienz unter vier Augen, die er dem ihm persönlich wohlbekannten Richard auf dessen Anhalten sogleich zugestanden hatte.

Sicherheit des Lebens und der Freiheit, ungestörter Fortbesitz des Vermögens und der Güter jener Familie, vor allem des Oberhauptes[304] derselben, sind alles was ich verlange: erwiederte Richard, ehrerbietig aber fest.

Und wenn ich, im Namen Seiner Majestät des Kaisers, diese Ihnen zugestehe, so sind Sie bereit von der, Ihrer Aussage nach, durch einen großen Theil dieses Reiches ausgebreiteten, höchst gefährlichen Verschwörung mir genauen Bericht abzustatten, und zugleich ein Verzeichniß der Haupttheilnehmer an derselben einzureichen? fragte der Minister weiter.

Gegen das von Ihnen im Namen unsres Monarchen mir ausdrücklich und feierlich geleistete Versprechen der Erfüllung dieser Bedingung, bin ich bereit genauen Bericht von der Verschwörung, nebst der Liste der vornehmsten Theilnehmer an derselben zu überreichen, muß aber darauf bestehen, daß beides sofort, und möglichst schnell, im Original in die Hände unsres Monarchen gelange.

Sie scheinen Ihre eigne Stellung aus den[305] Augen zu verlieren, sonst zeigten Sie sich wahrscheinlich weniger kühn: sprach der Fürst.

Ich bin kühn, weil ich furchtlos bin: war Richards Antwort.

Sie selbst sind einer der Verschwornen?

Richard antwortete auf diese Frage nur durch ein stumm bejahendes Zeichen.

Die Verschwörung besteht schon jahrelang, wie ich von Ihnen zu vernehmen glaube. Eidbruch ist ein harter Entschluß. Was konnte nach so langer Zeit Sie vermögen ihn zu fassen?

Richard wurde über diese Frage feuerroth, dann wieder todtenbleich; er bedurfte einige Augenblicke Zeit, um sich zu erholen.

Darüber habe ich nur Gott und meinem Gewissen Rechenschaft abzulegen, erwiederte er endlich ehrerbietig aber bestimmt.

Eine kurze Pause erfolgte.

Doch wie stünde es um Ihre Bedingung, wenn ich Sie jetzt hier festhielte, während ich[306] in Ihrer Wohnung Ihre Papiere in Beschlag nehmen ließe?

Hier sind meine Schlüssel, sprach Richard, indem er sie dem Minister darbot, der sie aber nicht annahm: jede Untersuchung wäre indessen überflüßig, und könnte nur unbefriedigend ausfallen, indem ich über diesen Gegenstand dem Papiere keine Zeile anvertraute, die nicht allenfalls gedruckt erscheinen könnte. Mein eigentliches Archiv trage ich in Kopf und Herzen.

Und dieses Archiv – es gäbe wohl Mittel zu dem Inhalte desselben zu gelangen: erwiederte der Minister streng und scharf.

In diesem Falle giebt es nur eines, die Gewährung der von mir vorgeschlagenen Bedingung; denn wer Todesfurcht nicht kennt, kennt auch keinen Zwang, antwortete Richard.

Und doch! Sie müssen mir zugeben, daß Sie in einem ziemlich verdächtigen Lichte erscheinen; was könnte mich abhalten Sie deshalb[307] hier auf der Stelle verhaften zu lassen, und, ohne auf irgend eine Bedingung einzugehen, mich der Liste der Verschworenen und des Berichtes über die Verschwörung zu bemächtigen?

Mein Fürst! rief Richard und fuhr betroffen einige Schritte zurück, doch faßte er sehr bald sich wieder.

Verzeihung, sprach er, daß ich durch diese ganz unerwarteten Worte mich überraschen ließ: erschrecken konnten sie mich nicht! Bericht und Liste liegen, unzugänglich jeder menschlichen Gewalt, ebenfalls auch in meinem vorhin erwähnten Archive, sprach er lächelnd; ich erwarte nur Ihren Befehl, um sie hier an's Licht treten zu lassen.

Und für sich verlangen Sie gar nichts? machen keinen Anspruch auf wohl verdiente Belohnung?

Wenn mein Kaiser und mein Wohlthäter durch mich dem Untergange entgehen, was bliebe[308] mir da noch zu wünschen? erwiederte Richard, etwas vorschnell.

Hm! sprach der Minister vor sich hin, ist es so? jetzt fange ich an den Zusammenhang besser zu begreifen. Sie haben, wie Klugheit und Vorsicht es gebieten, auf alle Fälle sich vorgesehen, sprach er zu Richard gewendet, weit freundlicher als vorhin; dieses kann in der guten Meinung mich nur bestärken, die ich, seit ich in der Familie des Fürsten Andreas Sie kennen lernte, von Ihnen gefaßt habe. Verargen Sie dagegen den Anschein von Mißtrauen mir nicht, den ich wider Willen annehmen mußte, um den mannigfaltig complicirten Pflichten zu genügen, welche die Gnade des Kaisers mir auferlegt hat; setzte er verbindlich hinzu.

Beide, der Minister und Richard, wurden jetzt sehr schnell, und zu gegenseitiger Zufriedenheit mit einander einig. Mit aller dazu gehörigen Formalität legte der Minister, im Namen[309] seines Kaisers, das von ihm verlangte unverbrüchliche Versprechen in Richards Hände nieder, der seinerseits, ohne fernere Bedenklichkeit, auch seine Verpflichtung erfüllte.

Ein beifälliges Lächeln glitt über des Ministers feingeformte Lippen hin, indem er die ihm überreichte Liste der bedeutendsten Mitglieder der Verschwörung schnell mit den Augen durchlief.

Der also ist es! rief er, und wies auf den Namen des Fürsten Andreas: und ich habe in meiner Vermuthung mich nicht geirrt. Gestern noch hätte ich Alles was ich besitze für die Unmöglichkeit dessen eingesetzt, wovon ich hier den Beweis in der Hand halte! Wer mag alle die Abwege im Voraus berechnen, auf welche wir im Laufe des Lebens gerathen mögen! setzte er mit trübem Ernste hinzu.

Ein einziges in Ihrem Eifer von Ihnen nicht genugsam überlegtes Wort verrieth mir vorhin dieses Geheimniß; fing der Minister nach kurzem[310] Schweigen wieder an: jede Spur von Mißtrauen, das Sie, wenn Sie einen Augenblick in meine große Verantwortlichkeit sich hineindenken wollen, nicht ganz ungerecht finden werden, wurde durch diese Entdeckung beseitigt. Ich kenne den ganzen Umfang Ihrer Verbindlichkeit gegen jene Familie, ich begreife welche edleren Motive Sie zu dem Schritte bestimmten, den Sie jetzt thun, und alles was bis dahin mir an Ihnen zweideutig erschien, und erscheinen mußte, gewinnt nun eine andere Gestalt. Nochmals verpfände ich freiwillig Ihnen mein Ehrenwort, Sie sollen in mir sich nicht getäuscht sehen! Andreas wird einen Freund, einen Bruder in mir finden, der ihn vertritt, und, so viel dieses in meiner Macht steht, vor jeder zu herben Folge seines Fehltritts ihn schützt.

Auf des Ministers ausdrückliches Verlangen theilte Richard ihm nun umständlich mit, wie ein wunderlicher Zufall, früher als seine Freunde[311] es beabsichtigten, in die Geheimnisse des Bundes ihn eingeweiht habe. Er verhehlte die warme Begeisterung nicht, mit welcher der anscheinend hohe Zweck desselben ihn Anfangs erfüllte, bis er späterhin mit Schrecken und Abscheu ihn besser erkannte.

Das aufmerksame Wohlgefallen, das seinen Worten geschenkt wurde, ermuthigte ihn weiter zu gehen. Er sprach vom Fürsten Andreas, von der warmen Vaterlandsliebe seines Beschützers, und wie dieser mit innigster Treue dem Kaiser ergeben, nur durch seinen leidenschaftlichen Hang zu ausländischen Erfindungen und Neuerungen verlockt, in die Schlingen eigennütziger, herrschsüchtiger Bösewichter gefallen sei, von deren tiefer Verworfenheit seine edle Natur keine Ahnung haben konnte, während sie sein besseres Wollen, seine durchaus tadelfreien Absichten, in ganz entgegengesetztem Sinne auf das schändlichste mißbrauchten.[312]

Über dem allen war indessen viel Zeit verstrichen; der Courier, der Richards Aussage dem Kaiser überbringen sollte, war längst abgefertigt, der Abend brach mit starken Schritten herein. Richard, der bis dahin gar nicht in der Zeit gelebt hatte, wurde jetzt mit Schrecken gewahr, wie lange er hier verweilt habe, und erhob sich unter vielen Entschuldigungen, um sich vom Minister zu beurlauben, was dieser aber, und zwar auf das allerfreundlichste, gar nicht zugeben zu wollen schien. Richard begriff Anfangs nicht, wie dieses zu verstehen sei, bis endlich der Minister seine Absicht, ihn auf unbestimmte Zeit in seinem Hause festzuhalten, deutlicher an den Tag legte.

Zürnend fuhr Richard auf; sein Gesicht erglühte, sein Auge flammte.

Gefangen! also doch gefangen! nachdem ich alles erfüllt! nach so vielen schönen Worten! ich Thor! ich erbärmlicher Thor! zischte er vor[313] Ingrimm kaum verständlich zwischen den fest verbissenen Zähnen hindurch.

Nennen Sie es nicht so, sprach begütigend der Minister: Sie sind mein Gast, nicht mein Gefangener, nur für wenige Tage mein Gast, dann sind Sie sich selbst ganz überlassen. Doch ist es nothwendig, daß bis dahin Ihr Aufenthalt bei mir geheim gehalten werde. Bei Ihrem Chef werde ich Ihre kurze Abwesenheit unter dem Vorwande einer, in einem Auftrage von mir übernommenen Reise, zu entschuldigen wissen. Sie bewohnen ein Zimmer nahe an dem meinigen und nur einer, der treueste unter meinen Dienern, auf dessen Verschwiegenheit ich bauen darf, wird Zugang zu Ihnen erhalten, um Sie zu bedienen.

Vortrefflich! Alles auf das beste und bequemste. Nur eine Frage erlaubt Ihre Gnade mir wohl noch; bleibt mein Kerkermeister bei mir im Zimmer? oder darf ich hoffen, daß er[314] sich damit begnügt, die Thüre meines zierlichen Gefängnisses von außen zu bewachen? rief Richard in bittrer Ironie.

Die Thüre Ihres Kerkers, wie Sie das freundliche Zimmer nennen, bleibt von Innen und Außen unbewacht, und Wladimir wird nur erscheinen, so oft Sie seiner Dienste bedürfen; erwiederte der Minister etwas gereizt. Lassen Sie uns in diesem Tone nicht fortfahren, der uns allen Beiden nicht wohl thut; setzte er milder hinzu: glauben Sie fest, ich hege die besten Gesinnungen gegen Sie, und werde Alles versuchen, um die gezwungene Einsamkeit, die ich während dieser wenigen Tage Ihnen leider nicht ersparen kann, Ihnen so wenig als möglich fühlbar werden zu lassen.

Sehr gnädig, sehr herablassend; doch die einzige Wohlthat, die ich jetzt mir noch erbitten kann, wäre allein bleiben zu dürfen, allein, ganz allein! sprach Richard mit dem vollsten Ausdrucke[315] starrer Verachtung, die durch die erzwungene Höflichkeit, welche er beizubehalten sich bemühte, nur noch fühlbarer wurde.

Ihre Jugend, Ihre Unerfahrenheit, die seltsame Lage in der Sie sich befinden, und überdem ein gewisses Wohlwollen gegen Sie, dessen ich mich nicht erwehren mag, machen mich geneigt Ihnen mehr nachzusehen, als jedem Andern; sonst würde das Mißtrauen, das Sie gegen mich durchblicken lassen, mich tief beleidigen. Doch Niemand kann dafür stehen, daß er immer Herr seiner Empfindungen bleiben werde, am wenigsten in so widerwärtig-unruhiger Zeit wie die, welche jetzt mich erwartet; und ich bitte Sie darauf etwas Rücksicht zu nehmen; sprach der Minister eindringlich ernst, aber nicht bedrohend. Erinnern Sie sich, fuhr er fort, daß ich mein Ehrenwort einsetzte, ich muß und werde es lösen; jede Anwandlung von Zweifel wäre hier die höchste Beleidigung, die als Mensch[316] und Edelmann mir widerfahren könnte, das müssen Sie selbst fühlen. Deshalb ermahne ich Sie sich zu beruhigen, selbst wenn Sie nicht ganz begreifen, warum ich so und nicht anders handle. Erwägen Sie zum Beispiel, ob nicht vielleicht Sorge für Ihre eigene Sicherheit mich bewegt, Sie auf kurze Zeit unter meinen Augen fest zu halten.

Sorge für meine Sicherheit! wiederholte Richard fast unartig trotzend.

O du seltsames Gemisch von Muth und Verzagtheit, von feinem Scharfsinn und eigenwilliger Verblendung! rief halb lachend der Minister, indem er sich anschickte, Richard sich selbst zu überlassen. Können Sie wirklich glauben, daß unsre heutige Unterredung noch lange ohne sehr merkbare Folgen bleiben werde? und sollten nicht einige Ihrer ehemaligen Bundesbrüder sich bewogen fühlen, Ihnen für Ihren Antheil daran, auf ihre eigne Weise, ihren Dank auszudrücken?[317] setzte er noch hinzu, ehe er sich entfernte.


Es währte einige Zeit ehe Richard zum deutlichen Bewußtsein der Lage kam, in welche er so ganz unerwartet gerathen war. Gefangen! nach allem was zwischen ihm und dem Minister vorgegangen, nach so vielen schmeichelhaften Versicherungen, so vielen schönen Worten, gefangen, wirklich gefangen!

Es schien ihm unglaublich, und doch war es nicht anders; denn wer ohne Bewilligung eines Andern den Ort nicht wechseln darf, ist ein Gefangener, man möge noch so geschickt einen wohlklingenderen Namen dafür aufzufinden suchen.

Voll bittren, sehr verzeihlichen Unmuths, fing Richard jetzt an sein Gefängniß genauer zu betrachten. Die Lage desselben, am Ende eines[318] langen Korridors, war eine der abgelegensten in dem sehr großen Gebäude; die ziemlich hohen Fenster gingen auf einen mit Mauern umgebenen Hausgarten, ein bequemes Schlafkabinet befand sich dicht neben dem eigentlich recht hellen und eleganten Zimmer, beide zusammen hatten nur einen Ausgang auf den Korridor.

Jetzt erst fiel Richard auf, daß er gleich bei seiner Ankunft in dieses Zimmer geführt worden war, wo alles schon im Voraus für seinen längern Aufenthalt eingerichtet zu sein schien. Die Thüre war von innen unverschlossen, außen war der Schlüssel abgezogen, ohne welchen man sie nicht öffnen konnte.

Er trat hinaus auf den Korridor, lang und öde dehnte dieser in schauriger Abenddämmerung sich vor ihm aus; keine lebende Seele ließ sich blicken, Niemand der ihn am Weitergehen hätte hindern wollen. Er ging, stand unschlüssig still, ging wieder; Alles um ihn her schien wie ausgestorben;[319] schon sah er nahe vor sich den weiten Vorplatz der zur Treppe führte. Wie aus den Wolken gefallen stand jetzt Wladimir plötzlich vor ihm, ein paar brennende Armleuchter in der Hand; bat sehr devot um Verzeihung, ihn so lange ohne Licht gelassen zu haben, und begleitete, ihm vorleuchtend, ihn zurück auf sein Zimmer, ohne seinen Befehl dazu abzuwarten.

Ein Luftzug, vielleicht auch beim Hinaustreten Richard selbst, hatte die Thüre desselben zugeschlagen: Wladimir öffnete sie mit dem Schlüssel, den er bei sich trug, machte auf den Schellenzug ihn aufmerksam, bei dessen leisester Berührung er augenblicklich zur Erfüllung seiner Befehle herbei eilen werde, zeigte ihm wie bei Nacht, zu größerer Sicherheit, seine Thüre von innen zu verriegeln sei, erklärte das innige Bedauern seines mit dringenden Geschäften überhäuften Herrn ihn heute Abend nicht mehr sehen zu können, und ließ ihn endlich allein.[320]

Erbittert über alle diese Anstalten ihn täuschen zu wollen, eilte Richard zur Thüre, um den Riegel vorzuschieben; sie war unverschlossen geblieben, wie zuvor, doch er kannte jetzt die Gränze genau, die seiner scheinbaren Freiheit gestellt war.

Tausend wechselnde Gefühle stürmten auf ihn ein; es ward ihm schwer sie genugsam zu bemeistern, um zu ruhigem Nachdenken gelangen zu können, wozu der Stoff von allen Seiten sich ihm entgegen drängte. Ihm schwindelte, wenn er den gewaltigen Unterschied zwischen gestern und heute erwog, wenn er die ungeheure Bedeutung des Schrittes bedachte, den er ohne Zögern, von einem unerklärlichen Impuls getrieben, gewagt, den er noch jetzt nicht unterlassen würde, wäre er noch zu thun, so mächtig fühlte er noch immer sich dazu getrieben.

Ihm grauste vor sich selbst; Verräther, Wortbrüchiger, Eidbrüchiger! hallte es unaufhörlich[321] in seinem Innern wieder. So werden Tausende fortan mich nennen und mir fluchen, wenn was ich gethan ruchbar wird, und die Folgen davon über sie hereinbrechen; rief er: und kann ich mir selbst abläugnen, daß ich es bin? und wie ist es möglich daß ich keine Reue empfinde? Die gute Absicht kann keine ungerechte Handlung entschuldigen, lehren unsre Moralisten; ich hätte diesen Ausspruch nicht aus den Augen lassen, ihn besser berücksichtigen sollen. Doch wo lebt der Schriftgelehrte, der in diesem Falle entscheiden könnte, auf welcher Seite Recht oder Unrecht liegt?


Dumpfe, unbestimmte Gerüchte gingen am folgenden Morgen leise flüsternd durch ganz Petersburg; überall stieß man auf bedenkliche Gesichter, überall wurden geheimnißvoll-ängstlich wichtige Entdeckungen, bei Nacht vorgenommene[322] Verhaftungen angedeutet, und doch wagte Niemand über das, was er dachte oder wußte, sich deutlicher auszulassen. Ein eigner Geist der Unruhe hatte sich der Einwohner der prachtvollen Kaiserstadt bemächtigt, und trieb sie von und zu einander, als hätten sie etwas sehr Wichtiges zu besprechen, und doch scheute sich Jeder vor dem Anfange.

Kapellmeister Lange und seine Frau machten hierin keine Ausnahme; im Gegentheil, ihre Angst, ihre Unruhe stieg von Minute zu Minute, bis der lebhafte Kleine endlich beschloß sich auf's Recognosciren zu begeben; denn die Furcht, daß Richards Besuch, und der so dringend ihm empfohlene geheimnißvolle Auftrag desselben, mit der seltsamen allgemeinen Stimmung in Verbindung stehen müsse, drängte immer unwiderstehlicher sich ihm auf.

Zuerst begab er sich in Richards Wohnung. Der alte Diener desselben kam mit ängstlichen[323] Fragen nach seinem Herrn ihm entgegen; seitdem dieser am vorigen Tage das Haus verlassen, hatte er dasselbe nicht wieder betreten; Boris war dergleichen von seinem Herrn nicht gewöhnt, er hatte bei Caffarelli und an allen Orten, die er gewöhnlich zu besuchen pflegte, ihm nachgefragt, und immer vergebens.

Der Brief an Pestel fiel bei dieser Nachricht dem Kapellmeister schwer aufs Herz; Angst und Sorge trieben ihn, die ihm unbekannte Wohnung des Obristen aufzusuchen; nach vielem hin und her Fragen wurde sie ihm endlich in einem sehr entlegenen Theile der Stadt nachgewiesen; der Ton, mit welchem dieses von ihm ganz Unbekannten geschah, würde zu jeder andern Zeit ihm noch mehr aufgefallen sein als jetzt; doch konnte er nicht umhin, ihn zu bemerken.

Ohne sich dadurch weiter stören zu lassen, eilte er die Treppe hinauf, und fand die Thüre nicht nur verschlossen, sondern auch versiegelt.[324] Eine starke Wache hielt sie von außen besetzt, fragte laut und barsch nach seinem Begehren, und schien nicht abgeneigt ihn selbst festzuhalten, weßhalb er, ohne mit Reden und Gegenreden sich weiter abzugeben, das Freie suchte, und herzlich froh war, als er sich wieder auf der Straße befand.

Um nichts unversucht zu lassen, begab er sich noch ganz an das andre Ende der ungeheuern Stadt, in das Hotel des Fürsten Andreas; doch auch hier wollte seit vielen Tagen Niemand von seinem Freunde etwas gesehn oder gehört haben; übrigens war der Fürst noch nicht von der Reise zurück, wurde aber in diesen Tagen erwartet.

Müde, bleich, niedergeschlagen, wie Frau Karoline ihn noch nie gesehen, langte er nach Verlauf mehrerer Stunden wieder zu Hause an, um Rapport abzustatten.

Jetzt, wie die Franzosen zu sagen pflegen, bin ich am Ende meines Lateins! seufzte er, als[325] er damit fertig war. Jetzt, Du meine liebe Hausehre, zeige, daß Du eine kluge Frau bist, sage, was fangen wir an? Freilich ist heute erst Mittwoch, der Tag, an dem wir nach seiner Anordnung uns still und ruhig verhalten sollen; morgen erst bricht der Donnerstag an, der wunderliche, wie der wunderliche Freund selbst wunderlich genug ihn nannte. Doch Pestel ist in Arrest, keine Aussicht vorhanden, dieses Schreiben morgen in seine Hände zu bringen. Richard ist vielleicht dem schweren Kampfe unterlegen, dem entgegen gehen zu müssen, er uns gestand, als er uns gestern verließ. Vielleicht ist er aber auch noch zu retten, wenn die rechten Mittel schnell ergriffen werden; nun aber sind wir, seine Freunde, im Dunkeln, während ihm jeder Aufschub lebensgefährlich werden kann; was thun wir, wo ist Rath zu finden?

Hier, erwiederte Frau Karoline nach kaum Minuten langem Besinnen, indem sie Richards[326] beide Briefe hervorsuchte: ob wir heute oder morgen unsre Verhaltungsregeln erfahren, darauf kommt wenig an; setzte sie hinzu, indem sie mit rascher Hand das unbeschriebene Couvert erbrach.

Es enthielt ein versiegeltes Schreiben an den Fürsten Andreas, und die an Lange gerichtete Bitte, das selbe nicht nur verabredeter Maßen zur bestimmten Zeit sicher an die Adresse zu bringen, sondern auch den Brief an den Obrist Pestel, im Falle daß er diesen nicht habe bestellen können, dem Fürsten zu übergeben. Sollten aber, hieß es am Schlusse, unerwartete Ereignisse eintreten, welche auch dieses verhinderten, oder der Fürst von seiner Reise noch nicht wieder heimgekehrt sein, so ersuche ich Frau Karolinen, in eigner Person, unter irgend einem Vorwande, sich zur Prinzessin Helena zu begeben, und beide Briefe, in meinem Namen, zur Verfügung darüber ihr heimlich zuzustellen.[327]

Nun Gott Lob! rief der Kapellmeister: nun weiß man doch wenigstens einigermaßen wie oder wo. Unerwartete Ereignisse sind, dächte ich, zur Genüge eingetreten; wie wäre es daher, Alte, wenn Du Dich gleich aufmachtest?

Das bin ich sehr gesonnen; erwiederte Frau Karoline pathetisch, die, sobald ihr nur einigermaßen leichter um's Herz wurde, nach gewohnter Art in ihre theatralische Manier verfiel, und diesesmal dem Marquis Posa die Antwort auf der Prinzessin Eboli Frage, ob er sie umbringen will, abborgte. Viel Zeit auf ihre Toilette zu verwenden, war in solchen Fällen nicht die Sache der immer zierlich und anständig gekleideten Frau, und so kam sie denn in möglichst kurzer Zeit vor dem Hotel des Fürsten an.

Doch weiter zu gelangen war nicht so leicht; die Ruhe die noch während des Kapellmeisters kurzer Anwesenheit hier geherrscht hatte, war verschwunden. Unter der Dienerschaft gab es[328] viel hin und her Laufens, in allen Ecken steckten sie zischelnd die Köpfe zusammen, nach Ärzten wurde ausgesandt, Jemand, hieß es, sei plötzlich erkrankt, Einige nannten die alte Amme, Andre die Fürstin Eudoxia selbst; Fürst Andreas war noch immer abwesend.

Niemand bezeigte sich sonderlich geneigt um die fremde Frau sich zu bekümmern, oder auch nur ihr Rede zu stehn. Beleidigt, zornig, verlegen, wußte sie nicht ob sie zum Gehen oder Bleiben sich entschließen solle, doch zum Glück kam die junge Zoë des Weges, und erlöste sie aus dieser immer unangenehmer werdenden Lage.

Nur ein einzigesmal hatte die Kleine, unter dem Schutze der Amme, einem großen öffentlichen Konzert beigewohnt, das zu einem wohlthätigen Zwecke gegeben worden war, und das noch immer, als hell leuchtender Lichtpunkt ihres kurzen einförmigen Lebens, in der Erinnerung ihr vorschwebte. Nicht wenig entrüstet, die[329] bewunderte Künstlerin, die damals sie entzückt hatte, so verlassen mitten unter dem rohen Bediententroß stehen zu sehen, eilte sie sogleich auf sie zu, fragte sehr bescheiden nach ihren Befehlen, und fühlte sich wirklich geehrt, als Frau Karoline ihren Vorschlag annahm, ihr auf ihr Zimmer zu folgen, um dort die Prinzessin Helena zu erwarten, die für jetzt noch bei ihrer Mutter sich befand.

Sie hatte vollauf Zeit sich auf diese Zusammenkunft vorzubereiten; denn eine Viertelstunde nach der andern verlief, ohne daß sich etwas anderes sehen ließ, als Zoës freundliches Gesichtchen, das von Zeit zu Zeit in der Thüre sich zeigte, um sie um Verzeihung zu bitten und zugleich zur Geduld zu ermahnen, die fest zu halten, schwer zu werden begann.

Im geselligen Umgange mit geistig ausgezeichneten Frauen, vor allen mit Künstlerinnen, schwindet bei Männern aus den höheren, selbst[330] aus den höchsten Ständen, der Unterschied des Ranges; daher war Frau Karoline in ihrem Hause daran gewöhnt, mit allen, die Zutritt in dasselbe erlangten, auf gleichem Fuße umzugehen, sie wohlwollend zu empfangen, und ihre Huldigungen sich dagegen gefallen zu lassen. Die hochtönenden Titel ihrer vornehmen Gäste glitten im lebhaften Gespräche eben so leicht und unbefangen ihr über die Zunge hin, als die Namen ihrer nur durch Talent und Geist ausgezeichneten Freunde. Doch bei ihrem eignen Geschlecht war dieses nicht so ganz der Fall, und konnte es füglich nicht sein; weßhalb sie auch von jeher gern vermieden hatte, mit Damen von hohem Range in Berührung zu gerathen.

Erziehung, Konvenienz, Etikette, richten zwischen diesen und andern Frauen eine Scheidewand auf, welche mit Grazie zu umgehen, von beiden Seiten nur sehr wenigen gegeben ist. Beim besten Willen von der Welt wissen in solchen[331] Fällen die vornehmsten Damen nur selten das juste milieu richtig zu treffen; sie thun zu viel oder zu wenig, während die Furcht, durch scheinbare Zudringlichkeit sich selbst etwas zu vergeben, die andre Partei abhält, durch Entgegenkommen auf halbem Wege sich und ihnen die ersten Schritte zu erleichtern.

Bei allen ihren übrigen trefflichen und liebenswürdigen Eigenschaften, machte Frau Karoline in dieser Hinsicht keine Ausnahme von der allgemeinen Regel. Ohnehin hatte sie entweder nie geduldig warten gelernt, oder doch aus Mangel an Übung es wieder vergessen, und so war sie denn jetzt in einen Zustand von Mißmuth und Reizbarkeit hinein gerathen, der mit ihrem eigentlichen Wesen im vollkommensten Widerspruche stand.

Nur für die liebe Langeweile, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, fing sie an von der Prinzessin, die so lange auf sich warten ließ,[332] ein durchaus nicht schmeichelhaftes Bild sich zusammenzusetzen, und war eben im Begriffe diesem die letzte Vollendung zu geben, als die lang Erwartete am Ende doch unerwartet vor ihr stand, ihre Hände ergriff, sie neben sich auf's Sopha zog, ihr langes Ausbleiben mit dem plötzlichen Unwohlsein ihrer Mutter entschuldigte, und zugleich um Verzeihung bat, daß sie hier ihren Besuch annähme, und nicht in ihr eignes Zimmer sie führe.

Hier darf ich erwarten ungestört mit Ihnen zu bleiben: sprach sie: und da ich jeden Augenblick wieder zu meiner Mutter abgerufen werden kann, so ist es mein sehr verzeihlicher Wunsch ohne Aufschub zu erfahren, auf welche Weise ich hoffen darf Ihnen nützlich zu werden. Ich will nicht erwähnen, daß ich seit längerer Zeit als Künstlerin Sie ehre und bewundere; das ist etwas worin sich wenigstens die halbe Stadt Petersburg mit mir theilt; aber unser beider[333] Freund, Richard Wood, hat sie meinem Herzen weit näher gebracht, als Ihre Kunst es könnte, so bewundernswürdig sie auch ist; und ich freue mich der Gelegenheit Ihnen dieses sagen, und hoffentlich auch beweisen zu können.

Wie Frühlingsschnee vor der warmen Sonne, wie Spreu vor dem Winde, kurz wie alles leicht Vergängliche in der Welt, schwand vor Helenens hinreißender Liebenswürdigkeit nicht nur jede unbehagliche Empfindung aus Karolinens leicht beweglichem Gemüthe, sondern sie empfand auch bereuend das Unrecht welches sie, wenn gleich nur in Gedanken, ihr angethan und hätte es ihr laut abbitten mögen, wenn dieses thunlich gewesen wäre. Wenigstens ließ sie von ihrem regen Gefühle zu einem Ergusse von Vertraulichkeit gegen die schöne Freundin ihres Freundes sich hinreißen, der bis dahin gegen eine Dame von so hohem Range ihr unmöglich gedünkt hatte. Eine Ahnung des Verhältnisses zwischen jenen beiden[334] stieg, ungeachtet seiner Unwahrscheinlichkeit, in ihr auf. Sie gestand, daß nur Sorge um Richard sie zu der Prinzessin getrieben, und helle Thränen, die sie kaum zurück zu halten vermochte, perlten dabei in den guten treuen Augen der kleinen Frau.

Auch ich habe seit vielen Tagen nichts von ihm vernommen; gesehen habe ich ihn zwar gestern früh, doch ohne ihn zu sprechen. Das darf uns aber weiter nicht beunruhigen, liebe Madame Lange: erwiederte Helena sehr weich und freundlich. Er ist Militair und die Pflichten seines Standes treten zwischen ihm und seinen Freunden oft sehr gebieterisch ein. Wie ich zufällig hörte, ist er in einem wichtigen Auftrage seines Chefs versendet.

Mein Mann suchte ihn diesen Morgen in seiner Wohnung auf; seit gestern Vormittag haben seine Diener nichts von ihm vernommen, nichts von einer Reise. Nicht den unbedeutendsten[335] Befehl haben Sie von ihm erhalten, der auf eine solche Bezug haben könnte: sprach Karoline, ihre Stimme zitterte merklich; Helena saß neben ihr, bleich wie ein Marmorbild.

Sie wissen mehr als dieß: flüsterte sie in namenloser Angst: bedenken Sie es wohl, wir wuchsen mit einander auf, er ist der Bruder meines Herzens, meiner Wahl; kann irgend ein lebendes Wesen auf Erden es besser mit ihm meinen als ich? Theure, theure Freundin meines Freundes, zögern Sie nicht, sagen Sie mir Alles! Sie haben einen Auftrag an mich, Sie sollen vielleicht auf etwas Entsetzliches mich vorbereiten; o reden Sie, sprechen Sie es aus, fürchten Sie nichts, ich ertrage alles, nur nicht diese peinlich langsam zögernde Qual!

Helena hatte anfangs Karolinens Hände bittend ergriffen, dann ihren Nacken umschlungen, dann sie an sich gezogen, fest, immer fester; Karoline fühlte das ängstlich pochende Herz an ihrem[336] Busen schlagen, sah dicht vor sich das schöne bleiche Gesicht, das Auge voll heißer Liebesbitte, und war ohne weitere Erklärung die Vertraute des reinsten innigsten Liebesbundes geworden.

Und so entsagte sie fortan jeder Bedenklichkeit, die sie bis dahin noch abgehalten, alles was sie auf dem Herzen hatte, frei und offen auszusprechen. Umständlich, und doch für ihre Zuhörerin noch immer nicht umständlich genug, trug sie jedes Wort ihrer letzten Unterredung mit Richard ihr vor, beschrieb sein seltsames ungewöhnliches Benehmen, wiederholte die fast verworrenen Reden, die ihm, gleichsam unwillkürlich entschlüpften. Helena hing indessen an ihren Lippen, an ihren Augen, als gälte es dem Glück ihres ganzen Lebens, daß kein Ton, kein Blick ihrer Aufmerksamkeit entginge.

Und so verließ er uns, indem er die Besorgung seiner beiden Briefe uns nochmals dringend[337] empfahl: endete Karoline: wohin er sich gewendet, ist uns unmöglich zu errathen. Sorge um ihn, die seltsamen Gerüchte, welche dumpf und beängstigend die Stadt heute durchziehen, vereint mit der Verhaftung des Mannes, an welchen einer dieser Briefe gerichtet ist, haben uns bewogen die Erfüllung seines Auftrages um einen Tag zu beschleunigen. Seit ich Sie gesehen, bin ich über diesen Schritt beruhigt, und lege alles vertrauensvoll in Ihre Hände, setzte sie noch hinzu, indem sie die beiden Briefe nebst dem Zettel, in welchem Richard an Helena sie gewiesen, ihr übergab.

Wie jetzt alles steht, haben Sie das Beste erwählt: erwiederte Helena, schwer aufathmend, mit erzwungener Fassung: außerordentliche Ereignisse scheinen wirklich im Anzuge zu sein, und was uns Allen bevorsteht, kann Niemand vorhersehen. Doch kommt mein Vater hoffentlich noch heute; dann lege ich gleich, in der ersten[338] Stunde, alles in seine Hände, und Sie und ich sind jeder Verantwortlichkeit enthoben, was in solchen Fällen für unser Geschlecht immer das Rathsamste ist: setzte sie mit einem Lächeln hinzu, das wie ein Sonnenstrahl in das Herz ihrer Zuhörerin drang.

Zoë erschien in diesem Augenblicke um zu melden, daß die Fürstin Eudoxia ihre Tochter mit Ungeduld erwarte.

Sie hören es, liebe Madame Lange, andere Pflichten rufen mich jetzt, aber wir sehen uns wieder, und das bald. Sie haben Ihr Vertrauen an keine Unwürdige verschwendet, und vielleicht zugleich einen tieferen Blick in mein Herz gethan als – erröthend stockte sie, umarmte ihre neue Freundin, und eilte davon, von weit schwereren Vorgefühlen gedrückt, als sie es sich selbst gestehen mochte.
[339]

Längst schon war Helena, ungeachtet ihrer großen Jugend, in die Geheimnisse ihres Vaters eingeweiht gewesen; beide wußten nicht genau, wann oder wie sie dazu gelangte: es war eben ganz allmälig, gleichsam von selbst dazu gekommen.

Fürst Andreas war von seinen patriotischen Ideen für die Verbesserung der allgemeinen Wohlfahrt zu erfüllt, um im engeren Kreise seiner Familie und vertrauten Freunde sie nicht vorzugsweise zum Gegenstande der Unterhaltung zu wählen; und die warme Theilnahme, mit welcher seine jüngste Tochter ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandte, während er oft den Anflug von Langerweile sich nicht ganz verbergen konnte, welcher bei seinem etwas breit gedehnten Vortrage des oftmals Gehörten den übrigen Theil seiner Zuhörer zuweilen überkam, erhob die Kleine gar bald zum Hauptgegenstande seiner väterlichen Liebe und Sorgfalt.[340]

Mit Entzücken sah er die junge Pflanze unter seinem Schutze an ihm emporranken, immer herrlicher sich entfalten, immer inniger mit seinem eigentlichsten Wesen sich verzweigen. Von ihm geleitet, entwickelte Helena nicht nur die edelsten und liebenswürdigsten Eigenschaften ihres eignen Geschlechts, sondern auch solche, die von demselben, in diesem hohen Grade kaum erwartet werden: Muth und Geistesgegenwart in dringender Gefahr, unbestechliche Urtheilskraft unverbrüchliche Verschwiegenheit, und jenes tiefe ritterliche Gefühl für Ehre, das den Mann zum Helden erhebt.

Helena, durch Lehre und Beispiel ihrer Mutter darin bestärkt, sah ihrerseits von ihrer frühesten Kindheit an in ihrem Vater das Bild der segnenden Gottheit auf Erden. Mit jener kindlichen Pietät, die einen Grundzug im Charakter ihres Volks ausmacht, hing sie an ihren beiden Eltern, in inniger Verehrung und Liebe, und[341] hätte den kleinsten Zweifel an das Urtheil, an den edlen hohen Sinn ihres Vaters, sich nie und nimmermehr verziehen.

Nie kam es ihr in den Sinn mehr erfahren zu wollen, als er ihr mitzutheilen für gut fand; daher kannte sie von den Geheimnissen des Bundes nur die glänzende Seite, die mit des Fürsten Plänen und Unternehmungen in Zusammenhang stand, und mochte nicht mehr davon wissen, wenn gleich mancher Argwohn der Kehrseite desselben sich zuweilen ihr aufdrängen wollte. Sie bauete mit Zuversicht auf ihren Vater, der wohl wisse was recht und erlaubt sei; er aber trug eine Art religiöser Scheu davor, ihre reine Phantasie mit Bildern von Greuelthaten zu beflecken, deren Ausführung abzuwenden, stets in seiner Macht stehen würde, wie er wähnte.

Im festen Vertrauen auf die unbegrenzte Liebe, den unbedingten Gehorsam seiner Kinder,[342] auf die treue Anhänglichkeit seiner Gemahlin, war Fürst Andreas wenig daran gewöhnt, in ihrer Gegenwart sich den mindesten Zwang in der Unterhaltung anzuthun, oder seine Worte abzuwägen; und so hatte denn die Fürstin ihrerseits aus halbverstandnen Äußerungen sich manches zusammengesetzt. Das Einzige, worüber sie zu einer Art von Gewißheit gelangte, war das Dasein eines geheimen großen Vereins, an dessen Spitze ihr Gemahl mit allen seinen wohlthätigen Plänen und Projecten sich gestellt hatte.

Sie sah voll inneren Jubels dem Tage sehnsüchtig entgegen, an welchem der geliebte Mann wie ein gottbegabter Wunderthäter auftreten und die Schaaren seiner Widersacher, an welchen es ihm, wie sie wußte, nicht fehlte, vor sich niederschlagen würde. Die vor einigen Tagen in Mitchells Begleitung angetretene Reise schien ihr gleichsam nur eine letzte Vorrichtung, eine Art Vorspiel zu der großen Haupt- und Staatsaction[343] zu sein, deren Entwicklung sie bei des Fürsten Heimkehr, in den nächsten Tagen, stolz und erwartungsvoll entgegen sah.

Die Sonne stand schon ziemlich hoch, als Eudoxia eines Morgens, zwischen Schlaf und Wachen, den ihrem Gemahl bevorstehenden Triumph auf das glänzendste sich ausmalte, bis eine Schreckensgestalt plötzlich ihre beglückenden Träume verscheuchte. Die noch immer halbkranke Amme war es, die gefolgt von dem Heere von Kammerfrauen zu ihr eindrang; mit verzerrtem Antlitz, zitternd, bis zum Unkenntlichen entstellt, trug sie ihr in heulendem Tone die wunderlichsten Gerüchte vor, die bis in ihr abgelegnes Zimmer so eben gedrungen waren. Von Verhaftungen, von ausgebrochnen Unruhen in der Stadt, von revolutionairen Bewegungen war die Rede. Die Namen des Fürsten, vieler Großen, und auch Richard Wood wurden bei dem Allen genannt. Einzelne Unbekannte, in Hut[344] und Mantel tief Verhüllte, sollten beim Portier eifrig und ängstlich nach des Fürsten Heimkehr sich erkundigt haben.

Die Fürstin starrte die Unglücksverkünderin an, begriff aus ihren verworrenen und verwirrenden Reden nur, daß etwas höchst Unglückliches sich zugetragen habe, und sank vom Schrecken übermannt in Ohnmacht hin. Die Kammerfrauen, die sich der Amme nach, hinter den Vorhängen des Alkovens zusammengedrängt hatten, brachen in überlautes Wehklagen aus. Die Verwirrung wurde groß, sie wäre noch größer geworden; doch Zoë, die von jugendlicher Neugier getrieben, überall, wo etwas Ungewöhnliches vorging, zugegen war, hatte glücklicher Weise Besinnung genug, ihre Gebieterin herbeizurufen. Helena erschien; und obgleich selbst innerlich beunruhigt, behielt sie doch Fassung genug dieses zu verbergen, und dem unnöthigen Gelärme zu steuern. Die Fürstin erholte sich aus ihrer tiefen[345] Ohnmacht und gelangte, unter dem tröstlichen Zureden ihrer Tochter, bald wieder zu einer Art von Beruhigung, die nicht wieder unterbrochen wurde, weil Helena Sorge trug, alles was diese stören konnte, von ihr fern zu halten.

Es fehlte nicht daran; die Nachricht von dem plötzlichen Erkranken der Fürstin hatte unter ihren näheren Bekannten sich schnell verbreitet. Ein eben nicht gefahrdrohendes Krankenbett ist in der höheren Societät, besonders an solchen Tagen wie dieses einer war, der willkommenste Versammlungsort; von allen Seiten strömten Besuche herbei, welche in dem an das Schlafgemach der Fürstin anstoßenden Zimmer von Helena empfangen wurden. Die eigentliche Absicht derselben war, ihrer Herzensbangigkeit in Vermuthungen Luft zu machen, ihre Neuigkeiten gegen andre einzutauschen, und nebenbei in diesem Hause sich ein wenig auf Kundschaft zu[346] legen, dessen abwesender Gebieter die allgemeine Aufmerksamkeit, wenn gleich ganz im Stillen, nicht wenig beschäftigte.

Die Conversation wurde sehr lebhaft betrieben, ohne ein befriedigendes Resultat zu gewähren; einige einzelne, meistens im Militair vorgefallene Verhaftungen ausgenommen, deren Veranlassung noch nicht bekannt worden, war eben keine besondere Thatsache vorhanden. Im Äußern herrschte überall scheinbare Ruhe; wie es im Innern mancher Brust damit stand, sah nur Gott! Schwer und düster hing der Himmel gleich einem Leichentuche über der glanzerfüllten Kaiserstadt; Jeder empfand die bange, beängstende Stille vor dem Ausbruche eines alles zerschmetternden Orkans; auch Helena! sie hatte an diesem Morgen Namen gehört, Anspielungen, Vermuthungen vernommen, welche die Sehnsucht nach der Rückkehr ihres Vaters beinahe bis zum Unerträglichen steigerten, und mit bedrückenden Vorahnungen sie erfüllten.[347]

Nie zuvor in diesem Grade hatte sie die Sehnsucht nach einer theilnehmenden Seele empfunden, nie unter den, nur für das Salonleben erzogenen jungen Damen ihres Standes, eine solche gefunden oder gesucht. Ihr Vater, ihr Bruder Eugen und Richard erfüllten allein ihr Gemüth, alle Drei waren jetzt fern, und sie mußte als eine wahre Gunst eines freundlichen Geschickes es annehmen, daß es gerade heute, wo sie zum erstenmal so ganz vereinsamt sich fühlte, Frau Karoline ihr zuführte.


Auch Richard lag indessen nicht auf Rosen. In ununterbrochener Einsamkeit der quälendsten Ungeduld Preis gegeben, brachte er eine Reihe von Tagen zu, die ihm zu Wochen sich ausdehnten. Täglich hielt er um eine Audienz beim Minister an, die unter dem Vorwande, über[348] keine Minute frei disponiren zu können, ihm eben so oft abgeschlagen wurde.

Ermahnungen, sich nicht zu beunruhigen, Versicherungen, daß alles nach Wunsch gehe, sollten jedesmal den widerwärtigen Eindruck dieser sich stets wiederholenden Antworten mildern, doch sie verfehlten gänzlich ihren Zweck. Empört über die Behandlung des Ministers, die er hinterlistig nannte, hatte Richard allen Glauben an ihn verloren; von allem was außerhalb der vier Wände, die ihn einschlossen, vorging, gelangte kein Laut bis zu ihm; und so brütete er ganz allein über sich selbst und tausend Möglichkeiten, eine immer grausiger als die andre, besonders wenn er an das Schicksal jener beiden Briefe dachte, die er dem Kapellmeister Lange übergeben hatte.

Es waren schwere, trübe Tage für ihn, aber sie zogen auch vorüber, wie alles Leid und alles Glück unsers Lebens.[349]

Der an den Kaiser abgefertigte Courier kehrte zurück, und der Minister säumte nicht dem Gefangenen seine Freilassung, nebst des Monarchen Genehmigung der von demselben vorgeschlagenen Bedingung selbst zu verkünden. In den schmeichelhaftesten, seiner Versicherung nach vom Kaiser selbst gewählten Ausdrücken, sprach er zugleich den Dank desselben für den ihm und dem Reiche geleisteten großen Dienst aus, und Richard hatte von dem Augenblicke an alles vergessen, was er in diesen Tagen gelitten, allen Groll, den er gegen den Minister im Herzen getragen.

Indessen war es doch wohl nur Höflichkeit, die ihn bewog, seinen während seiner Gefangenschaft oft sehr deutlich geäußerten Unmuth zu entschuldigen zu suchen, denn in seinem Gewissen war er darüber sehr ruhig; er glaubte jetzt, von jeder ferneren Verpflichtung befreit, sich endlich entfernen zu dürfen, und wurde zu seiner[350] nicht geringen Verwunderung abermals daran verhindert.

Diesesmal ist es auf keine zweite Gefangenschaft abgesehen, wie Sie meine harmlose Verlängerung Ihres Besuches ungerecht genug zu nennen beliebten; sprach der Fürst ungemein freundlich: aber glauben Sie denn, daß unser Kaiser gewohnt sei, ihm geleistete, wichtige Dienste, gleich dem Ihrigen, mit bloßen kahlen Worten zu belohnen?

Und bin ich durch des Kaisers Anerkennung und die Bewilligung meiner Bitte nicht schon überschwänglich belohnt? rief Richard.

Was Sie für den geliebten Monarchen und unser Vaterland gethan, ist von weit bedeutenderen Folgen, als mitten in blutig-entscheidender Schlacht das Erstürmen einer feindlichen Batterie; und so will er es auch betrachtet wissen, erwiederte der Minister.

Und mit Erstaunen vernahm Richard jetzt,[351] wie der Kaiser aus eigner Huld und Macht, mit Übergehung aller dazwischen liegenden Grade, ihn zum Obrist erhoben, und ihn zugleich mit einer namhaften Anzahl Seelen dotirt habe, welche ihn in den Stand setzen konnten, auf seinem dermaligen Range angemessene Weise zu leben.

So war er denn gleichsam mit einem einzigen Wurfe dem Ziele all seines Hoffens nahe gebracht; denn bekanntlich dient in Rußland militairischer Rang zum Maaßstabe und geht jedem andern vor. Ihm schwindelte, indem diese Überzeugung sich ihm aufdrängte; ein paar Worte des Ministers, die auf sein jetzt so günstig sich gestaltendes Verhältniß zu dem Hause des Fürsten Andreas hinzudeuten schienen, setzten ihn vollends außer Fassung. Kaum vermochte er ein paar übel zusammengestellte Dankesworte aufzubringen; doch sein ihm wirklich wohlwollender Gönner verargte ihm dies weiter nicht, indem[352] er der ihn überwältigenden Freude es zuschrieb, und entließ ihn freundlich.

Ach aber diese Freude fand nicht lauter und rein Eingang in seine Brust! Sein Herz zog wie zu einem eisigen Klumpen sich zusammen, als er mit einem Gefühl von Entwürdigung, wie er nie zuvor es gekannt, seine Wohnung wieder betrat. Was war in den Augen der Welt aus ihm geworden, seit er diese Schwelle zum letztenmale überschritten! Meineidig, wortbrüchig, Verräther an Tausenden, die ihn Bruder genannt, mußte er in den Augen der Meisten dastehen: das war die dunkle Seite seiner That.

Daß er in seiner Lage so und nicht anders hätte handeln können, ohne ein fluchbeladener Verbrecher zu werden; daß ein unter solchen Umständen ihm abgenommener Eid jede bindende Kraft verlor; daß es pflichtgemäßer wäre ihn zu brechen, als ihn zu halten, würde seiner Überzeugung nach jeder Unparteiische und zuletzt auch[353] die allgemeine Stimme ihm zugestanden haben, hätte er nur den Verdacht des Eigennutzes von sich fern halten können, wäre es nur möglich gewesen, diese wahrhaft kaiserliche Belohnung auszuschlagen, die zu erhalten er nie gedacht, und die dennoch von so unbeschreiblich hoher Bedeutung für seine ganze Zukunft, für das höchste Glück seines Lebens werden mußte!

Schien es ihm doch sogar in seinem Unmuthe, als blicke sein alter treuer Diener mit einer Art mitleidiger Verachtung ihn an, als er Herr Obrist ihn nannte, zu seiner Standeserhöhung ihm Glück wünschte und wegen der, durch dieselbe nothwendig gewordenen neuen Uniform, seine Befehle erbat; denn die durch den Courier mitgebrachten Neuigkeiten hatten um mehrere Stunden früher sich in der Stadt verbreitet, als Richard selbst sie erfahren.

Immer noch hatte er keinen klaren Begriff von dem ausgebreiteten Umfange der Folgen dessen[354] was er gethan; er hatte Momente in denen er wünschte, sie nie zu erfahren. Niemand war um ihn, der ihm tröstend zugesprochen hätte; zu muthlos, um den Nachrichten entgegen zu gehen, welche er zu vernehmen erwarten mußte, zu ungeduldig, um sie unthätig an sich kommen zu lassen, stand er zögernd da.

Ein heller Freudenschrei dicht neben ihm riß aus diesem trübseligen Zustande ihn auf, liebende Arme umschlangen seinen Nacken, seine Kniee, Thränen und Küsse bedeckten seine Hände. Der gute kleine Kapellmeister war es, der mit seiner Freude ihn wiederzusehen, mit seinem Danke für das was er vollbracht, ihn bestürmte, und nicht von ihm abließ, bis er spät wie es war ihn bewog, nach Hause ihn zu begleiten, wo Frau Karoline nicht minder freudig bewegt als er, mit ihren guten und bösen Nachrichten, ungeduldig seiner harrte.
[355]

Des Fürsten Andreas Heimkehr, ob zufällig, oder auf äußere Veranlassung, möge dahin gestellt bleiben, traf fast gleichzeitig mit Richards Freilassung und der Ankunft des Couriers von Taganrog zusammen. gleich in der ersten Stunde fand eine derselben unmittelbar folgende Zusammenkunft zwischen ihm und dem Minister Statt; sie währte lange, bis tief in die Nacht hinein, und endete mit anscheinender Zufriedenheit beider Theile.

Doch schon am folgenden Morgen gingen große Veränderungen, sowohl im Hotel des Fürsten Andreas, als in dem seines Schwiegersohns, des jungen Fürsten Konstantin vor, die auf baldiges schnelles Verlassen des bisherigen Wohnsitzes dieser beiden Familien deuteten, und zwar auf längere, anscheinend sehr lange Zeit. Gegenstände wurden eingepackt und zum Mitnehmen bereitet, die man sonst stets unberührt an ihrem Platze gelassen; seltne oder sonst sehr kostbare[356] Bücher und Handschriften aus des Fürsten Andreas Bibliothek, große Gemälde berühmter Meister, Kostbarkeiten, Kunstgegenstände aller Art; es sah beinahe aus, als sollten nur die kahlen Wände zurück bleiben.

Im strengsten Kontraste mit diesem lärmenden Treiben standen die von der fürstlichen Familie bewohnten Zimmer im Innern des Gebäudes; dort herrschte ängstliche Stille, nur leises Geflüster war hörbar, und lautloses Umherschleichen wie auf Socken. Der Fürst saß in seinem Kabinet, vertieft in Geschäften; ließ nur diejenigen seiner Untergebenen vor sich, mit denen er dergleichen abzuthun hatte, und nahm keinen andern Besuch an. Mitchell im Vorzimmer desselben, wie angemauert hinter seinem Schreibepulte, umgeben mit ellenlangen Rechnungen, Courszetteln, Preiscouranten, schien dort als Schildwache angestellt, und that über alle Maaßen wichtig.[357]

Die Fürstin Eudoxia hatte einen Rückfall ihrer Krankheit erlitten, auch sie ließ alle Besuche sich verbitten, Helena durfte weder bei Tag noch bei Nacht ihr von der Seite weichen.

Gleich allen Übrigen wurde auch Richard abgewiesen, seine Verzweiflung war grenzenlos. Frau Karoline wollte es unternehmen, ihm Nachricht von Helena zu bringen, aber auch ihr wurde, obgleich auf sehr höfliche Weise, der Zutritt für jetzt verweigert; selbst die kleine Zoë, an die sie, um doch nur etwas zu erfahren, sich wenden wollte, war nicht zugänglich; das arme Kind durfte keinen Augenblick von dem in der Nähe ihrer Gebieterin ihr angewiesenen Posten sich entfernen.

Bis zum grauenden Morgen wanderte Richard die Nacht hindurch um die Mauern des Palastes herum, der einst auch seine Wohnung gewesen, wie ein unseliger Geist die Stätte umwandelt, wo er seine Schätze vergraben; und[358] blickte hinauf zu dem vom Schimmer einer Lampe matt erleuchteten Fenster, hinter welchem Helena am Krankenbette ihrer Mutter wachte.

Später eilte er seiner Wohnung zu; auch dort fand er weder die körperliche noch die geistige Ruhe, deren er so nöthig bedurfte. Der Wunsch zu erfahren, was, wie er wohl sah, Freunde und Bekannte ihm zu verhehlen strebten, quälte ihn unsäglich: man ging nicht wahr, nicht offen mit ihm um, das merkte er deutlich. Die ihm wohl wollten, verschwiegen ihm aus Schonung, was er am Ende doch erfahren mußte, und seiner Ansicht nach je eher je besser; die Andern machten sich davon, sobald sie die Neugierde befriedigt hatten ihn zu sehen, nun er eine gewisse Notabilität erlangt hatte, und wollten erst abwarten, auf welchem Standpunkte er festen Fuß fassen würde, ehe sie über ihr künftiges Betragen gegen ihn sich entschieden.

Was hilft mir die Meinung, das Lob oder[359] der Tadel des Einzelnen; das Urtheil des Volkes, der Menge, ist hier das wahre ächte Gottesgericht, von welchem kein Appelliren gilt; rief Richard, indem er in einen ziemlich unscheinbaren Überrock sich warf, und, wie er früher in ähnlicher Absicht, wenn gleich auf andere Veranlassung, zuweilen gethan, einen entfernteren Theil der ungeheuern Stadt aufsuchte, wo er persönlich unbekannt zu sein hoffen durfte.

Es war ein schöner sonnenheller Feiertag; in Kaffee- und Weinhäusern, Billarden und Restaurationen, kurz an allen öffentlichen Orten war eine zahllose Menge, meistens aus den mittleren und diesen zunächst untergeordneten Ständen versammelt, überall hörte er die neuesten Neuigkeiten des Tages besprechen. Noch fielen täglich in den angesehensten und beliebtesten Familien neue Verhaftungen vor, von denen er durch seine Freunde nichts erfahren; hier erst, jetzt erst konnte er den ganzen Umfang des[360] Elendes übersehen, das diese Unglücklichen über sich selbst gebracht! Sie hatten zu Andrer Verderben die Mine gegraben, die jetzt sie und ihr Glück in die Luft sprengte. Sie waren unglücklich; das war für die, welche nicht weiter sahen, genug; ihre große Schuld blieb unsichtbar. Das oberflächliche, nicht tiefer blickende Mitleid sah nur ihr Unglück, und ließ, was wohlverdiente Strafe war, nur als solches erscheinen.

Bei jeder Gelegenheit hörte Richard seine That auf tausendfache Weise erzählen, kommentiren, beurtheilen, selten gerecht anerkennen. Er hörte Beweggründe derselben sich unterschieben, an die er nie gedacht: Ehrgeiz, Eigennutz, Sucht sich auszuzeichnen, sich einen Namen zu machen.

Mehrere ältere und jüngere Männer, Krämer, Handwerker, saßen in einer Ecke; sie steckten kannegießernd die weisen Häupter zusammen, und sprachen überlaut genug, um weiter als an ihrem Tische deutlich vernommen zu werden.[361]

Ich sage es Euch: sprach ein alter Mann, in welchem Richard einen Schreinermeister erkannte, der früher beim Fürsten Andreas einiges gearbeitet hatte: ich sage es Euch, rief der Alte, und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten: mit dem schwärzesten Undanke hat er der fürstlichen Familie gelohnt. Ich weiß es genau, denn ich ging damals dort viel aus und ein. Als einen kleinen verlassenen englischen Bettelbuben hat der Fürst Andreas ihn aufgenommen, aus Mitleid; hat mit seinen Kindern ihn auferziehen lassen, und nun lohnt er ihnen so!

Aus Rache, aus purer Rache; aber sollte man es glauben, daß die Frechheit so weit gehen kann! fiel sein Nachbar dem Schreinermeister ein: hat der neugebackene Herr Obrist sich es doch einfallen lassen, seine Augen bis zu der Prinzessin Tochter des Fürsten Andreas zu erheben! Und dafür, daß sie den Freiersmann[362] nach Verdienst abgewiesen haben, muß jetzt der Fürst mit den Seinigen aus Petersburg verbannt werden, und die jungen Prinzen – –

Richard hielt es nicht länger aus; – Gott steh' uns bei! ich glaube das war er selbst, sprach leise der alte Schreiner, und schlug ein Kreuz, indem er erbleichend dem Hinausstürmenden nachsah.


Ohne weiteres Besinnen, entschlossen nicht von der Stelle zu weichen, bis er beim Fürsten Andreas Zutritt erlangt, eilte Richard vorwärts. Am Eingange des Hotels hemmte Entsetzen seine Schritte, und die Kniee wollten unter ihm zusammenbrechen. Ein langer, von vielen Geistlichen begleiteter Leichenzug, bewegte sich langsamfeierlich aus dem Innern des Palastes hinaus, gefolgt von fast Allen die zum Hause gehörten, vom ersten Secretair des Fürsten an, bis hinab zum letzten Stallbuben.[363]

War es Wirklichkeit? war es ein der Hölle entsprossenes Traumgesicht? seiner selbst kaum sich bewußt, wollte Richard zum Sarge hin, fühlte aber von einer eiskalten Hand sich zurückgezogen und festgehalten.

Keinen Schritt weiter! rief dicht hinter ihm eine tiefe ernste Stimme. Ein neunzigjähriger Greis sprach drohend diese Worte: Richard kannte ihn wohl, es war der älteste Diener des Hauses, der den jetzigen Gebieter desselben noch auf den Armen getragen, unter dessen schonender Pflege er jetzt das Ende seiner Tage hier erwartete.

Störe nicht die Ruhe der Todten, Leichen bluten von Neuem, wenn der Mörder ihnen naht: raunte der Alte zürnend ihm zu; es sah seltsam aus, wie lebhaft das dunkle zornflammende Auge unter den schneeweißen buschigen Augenbrauen hervor blitzte; kalte Schauer rieselten Richard durch Mark und Gebein. Du[364] darfst nicht weiter, und wärst Du Feldherr geworden, statt Obrist: rief der Alte abermals, eine unwillkürliche Bewegung Richards mißverstehend, und faßte ihn wieder.

Sprache und Athem versagten diesem vor Schreck und Grausen: er wollte sprechen, und konnte nur die Lippen bewegen. Der Alte sah dies, er war schwerhörig geworden, und glaubte zu verstehen was Richard seiner Meinung nach fragte.

Elisabetha Christianawna: sprach er feierlich; sie ist auch Deine Wohlthäterin gewesen, von Deiner Jugend an, und ist jetzt Dein erstes Opfer. Was thut's? andre werden folgen; am liebsten ich, denn ich bin es müde in einer Welt zu leben, wo solche Dinge geschehen. Die treue Amme sank vom Schlage getroffen zu den Füßen ihrer Herrin todt hin, als sie den Fall unsers Hauses unvorbereitet vernahm.

Jetzt riß Richard gewaltsam von dem Alten[365] sich los, der Leichenzug hatte sich indessen vorwärts bewegt, in der dadurch verödeten Vorhalle war Niemand ihn aufzuhalten, und ungehindert eilte er die Treppe hinauf, und stand in dem ersten der Reihe von Zimmern, die zu denen des Fürsten führten, vor Helena.


Ich wußte es wohl! und nun bist Du da! rief Helena ihm entgegeneilend; ihre Wange glühte, ihr Auge strahlte in erhöhtem Feuer; etwas ungewohnt Hastiges in ihren Worten, in ihren Bewegungen, deutete auf heftige innere Aufregung. Stumm lag Richard zu ihren Füßen, umfaßte ihre Kniee, verbarg sein Gesicht in ihrem Kleide; sie schien es nicht gewahr zu werden, machte keinen Versuch ihn zum Aufstehen zu bewegen, und fuhr ungewöhnlich schnell sprechend fort:[366]

Es ist Verläumdung, Unwahrheit, Mißverstand von Seiten meines Vaters, was weiß ich! ich habe es ihm gesagt, aber er will es nicht glauben. Und doch ist es so; wir können sterben, Richard, aber nicht ehrlos handeln. Du so wenig als ich. Du bist nicht zum Obrist erhoben, nicht mit Gold und Gütern für einen Verrath belohnt der – ich könnte darüber lachen, daß man Dir so etwas zutraut, wären die Folgen davon nur nicht so ernsthaft. Aber wie ist es nur möglich dergleichen zu ersinnen? Wie böse ist die Welt geworden! wie lügen die Menschen! und weßhalb?

Du sprichst noch immer kein Wort zu mir? fing sie nach kurzem Schweigen wieder an. Ich sehe es wohl, Du bist empört, daß selbst mein Vater – und Du bist's mit Recht. Ich aber, mein Richard, ich blieb immer Deiner gewiß, ich habe nie an Dir gezweifelt, nie, keinen Augenblick. Doch sage nur einmal: Helena, ich[367] that es nicht! nur einmal sprich es aus, das Einzige erbitte ich mir von Dir.

Denke nur nicht, daß ich, um im Glauben an Dich festzuhalten, dieser Versicherung bedarf; ich weiß es ja, wir beide sind nicht zu erkaufen, nicht um des Kaisers Thron, nicht um die Welt! fuhr sie, nach und nach immer besorgter, immer ängstlicher fort: sage es nur, weil ich es wünsche, aus Liebe zu mir, sprich es aus, mein Richard, bat sie, und versuchte mit zitternden Händen, mit nach Athem ringender Brust, ihn aus seiner knieenden Stellung zu bringen, und in's Auge ihm zu sehn.

Sage, nur einmal sage: ich that es nicht! nur die drei Worte, sprich sie aus: Richard! Geliebter! flehte sie nochmals mit ängstlich ersterbender Stimme und umfaßte ihn, und blickte ihn an, als wolle ihr Leben in dieser Bitte sich auflösen.

Tiefe Stille erfolgte. Helenas kleine zarten[368] Hände vermochten nicht länger ihn aufrecht zu erhalten, er sank wieder zu ihren Füßen. Sie kniete neben ihm nieder, sie umschlang seinen Nacken, sie lehnte ihr Köpfchen an seine Brust, sie hauchte leise, leise: o sage, ich that es nicht!

Er fühlte den warmen Lebensathem an seiner Wange wehen. Er sank tiefer, seine Stirne berührte den Boden, ein Seufzer wie Todesröcheln und nun die mühsam ausgestoßnen Worte: ich kann nicht, was Du verlangst!

Helena wankte einen Augenblick, ihre Farbe wechselte, ihr Athem stockte, dann erhob sie sich von den Knieen. Bleich wie ein Marmorbild reichte sie ihm die Hand, um ihn aufstehen zu heißen, und er gehorchte ihrem Winke.

Warum bleibst Du nicht wahr gegen mich? warum verläumdest Du Dich selbst? fragte sie feierlich ernst. Welche mißverstanden-edelmüthige Überspannung, denn ein andrer Grund Deines[369] seltsamen Beginnens ist unmöglich, verleitet Dich dies sogar gegen mich zu versuchen? Besinne Dich, Richard, komme wieder zu Dir selbst, erinnere Dich, daß der vollständigste Gegenbeweis Deiner Selbstanklage in meinen Händen ist; sieh her!

Richard blickte zu ihr auf; sie zeigte jene beiden Briefe, die er dem Kapellmeister zur Besorgung übergeben, erbrochen ihm vor.

In Abwesenheit meines Vaters öffnete ich sie an dem dazu bestimmten Donnerstage, wie Du selbst es angeordnet hattest, sprach Helena sehr fest und bestimmt. Hier zuerst diese zwei Worte an Pestel: »Verrath durch Mayboroda und Rostowzoff. Eile, morgen wäre es zu spät!« und nun diese Zeile an meinen Vater: »Das Unheil bricht los, Tod und Verderben rund um uns her. Schutz dem geheiligten Leben unsers Kaisers!« Und warum, sprich, warum willst Du auf Dich nehmen, was jene beiden mir völlig[370] Unbekannten verübten? Hast Du meiner denn so ganz vergessen können? fragte sie milder, beinahe lächelnd.

Richard hatte indessen jene Stimmung wieder gefunden, die damals auf dem Gange zum Minister ihm Kraft gab, das Schwerste zu vollbringen. Mit dem vollsten Ausdrucke innigster Liebe faßte er Helenas Hände und drückte sie an seine Brust. Höre mich Geliebte, bat er, höre mich bis an's Ende. Versprich mir mich nicht zu unterbrechen, wenn mein Geständniß Dir räthselhaft erscheint. Vertraue mir, wer hat gerechtere Ansprüche an Dein Vertrauen als ich? Bist Du nicht mein? Bin ich nicht Dein? darum glaube mir, glaube fest, das Räthsel wird zu Deiner Zufriedenheit sich lösen.

Ich glaube Dir! antwortete Helena eifrig und gespannt.

Was Mayboroda und Rostowzoff, zum Untergange Aller und zur eignen Sicherheit, aus[371] persönlicher Feigheit vollbringen wollten, Helena, Geliebteste, ich mußte es hindern – ich konnte dieses nur indem ich ihnen zuvor kam – nur einen Augenblick ertrage das Geständniß, daß ich es selbst gethan! Alles soll sogleich Dir deutlich werden, und Dich damit versöhnen.

Nein, nein, nein: rief Helena, muthe mir nicht Unmögliches zu! dies zu glauben ist unmöglich: ich verstehe Dich wahrscheinlich nicht, drücke deutlicher Dich aus, gewiß liegt hier ein Mißverstand zum Grunde, gewiß versteh' ich es nicht wie Du es meinst.

Helena, ich vollbrachte einige Tage früher als sie es konnten, nach schwerem Kampfe mit mir selbst, was jene beabsichtigten. Ich mußte es, nachdem der Zufall mir ihr Geheimniß entdeckt hatte; für Dich, für Deinen Vater, für den Kaiser und unser Land wagte ich es, da keine Aussicht zur Rettung vor allgemeinem Untergange sich mir zeigte.[372]

Und schriebst auch diese Zeilen? fragte Helena, fast unhörbar, aus schwer beklommener Brust.

Ich schrieb sie, und gab –

Nein, nein, nein! das kann nicht sein: rief abermals Helena.

Geliebteste, muß ich an Dein Versprechen, bis an's Ende mich anzuhören, Dich erinnern? bat Richard, und fuhr dann fort: Voraus zu sehen, welche Wendung meine Audienz beim Minister nehmen würde, war unmöglich. Um in jedem Falle, wenn ich etwa ganz unthätig gemacht würde, nicht Alles dem Zufalle zu überlassen, um doch so viel an mir lag dem größten Unheil vorzubauen, gab ich auf dem Wege zum Minister –

Falsch! zweizüngig! rief Helena verzweifelnd.

Nicht falsch, nicht zweizüngig, nur vorsichtig: erwiederte Richard.

Falschheit und Vorsicht gehen immer zusammen, erwiederte Helena.[373]

Richard schwieg, schmerzlich verletzt: sie sah es und reichte, gleichsam versöhnend, ihm die Hand. Er drückte sie an seine Lippen, an sein Herz. Beide standen schweigend, mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, neben einander da.

Aber Du bist nicht zum Obrist erhoben, bist nicht zum Lohn Deiner That vom Kaiser reich dotirt? fing Helena mit peinlicher Lebhaftigkeit wieder an. Nein, das bist Du nicht! Aber sage mir, daß Du es nicht bist, versichre mich, daß Niemand auf Erden sagen, oder denken, oder auch nur von fern argwöhnen kann, Du seist zum Meineid, zum Verrath erkauft! bat sie mit dem weichsten Tone schmeichelnder Überredung.

Meine Helena, flüsterte Richard auf ihre Hand gebeugt, ich bin wirklich durch des Kaisers Gnade reich beschenkt, bin zum Obrist plötzlich gestiegen, zu meinem höchsten Erstaunen, ohne mein Zuthun, wider mein Erwarten, ich könnte sogar sagen, gegen meinen Wunsch.[374]

Helena hörte ihn schon lange nicht mehr. Gleich nach den ersten Worten, die er gesprochen, stieß sie einen lauten Schrei aus und verbarg vernichtet, aber nicht ohnmächtig, ihr Gesicht in die Kissen des Diwans.

Helenas Vater trat in diesem Augenblicke in das Zimmer. Der Jammerruf seiner Tochter war bis zu ihm in das Innre seines abgelegenen Arbeits-Kabinets gedrungen, und aufgeschreckt eilte er ihr zu Hilfe, an dem verzweifelnden Richard vorüber, wie es schien, ohne die Gegenwart desselben gewahr zu werden. Mit unbeschreiblicher Liebe nahm er seine Tochter in die Arme, indem er zu ihr auf den Diwan sich setzte, nannte sie bei den süßesten Schmeichelnamen, wie nur die zärtlichste Vaterliebe sie ersinnen kann, und fuhr, ohne ihre Frauen zur Hilfe herbei zu rufen, in seinen Bemühungen sie wieder zu sich selbst zu bringen fort, bis Farbe und Lebenswärme ihr wiederkehrten.[375]

Mein Vater! mein lieber, lieber Vater! o bleibe Du bei Deinem ganz verarmten Kinde; mein Leben ist noch so jung, ach, und es war so reich! klagte Helena ganz leise, und brach dann, wohl zum erstenmal seit ihrer Kinderzeit, in seinem Arme, an seine Brust geschmiegt, laut schluchzend in einen Strom von Thränen aus.

Sie flossen lange und unaufhaltsam; der Fürst erkannte die wohlthätige Erleichterung, die sie seiner Tochter in ihrem Schmerze gewährten; er trocknete sie mit sanfter Hand, ohne sie hemmen zu wollen, bemühte sich Helena eine bequemere Stellung auf ihrem Diwan zu geben, stand dann auf, und ging auf Richard zu, der bei seiner Annäherung nicht trotzig, aber auch nicht wie ein Schuldbewußter, das von Schmerz umdunkelte Auge zu ihm erhob.

Viel Zeit ist verflossen, und gar vieles ist anders geworden, Herr Obrist, seit wir uns nicht[376] sahen: sprach der Fürst vornehm kalt, und mit sichtbar erzwungener Fassung.

Mein gnädigster Herr, erwiederte Richard tief bewegt, ich wage es an jene uns noch so nah liegende Zeit Sie zu erinnern, in der ich Sie Vater nennen durfte; beim Andenken an diese beschwöre ich Sie, mir heute endlich zu gewähren, wonach ich Monate, ich könnte sagen Jahre lang gerungen, freies unparteiisches Gehör. Wollte Gott, es hätte damals Ihnen gefallen, es mir nicht zu verweigern!

Richard, wozu längst Vergangnes nochmals besprechen? Laß Zeit und Athem uns sparen; erstere ist mir besonders karg zugemessen, da ich morgen auf lange, vermuthlich auf immer Petersburg verlasse: erwiederte Fürst Andreas, indem er, absichtlich oder aus alter Gewohnheit, in seinen sonst gewöhnlichen Ton gegen Richard verfiel. Diese Folge Deiner Donquixotiade, fuhr er fort, lag wohl nicht in Deinem Plane? Auch[377] nicht daß mein Sohn Isidor seinen Platz, als Attaché bei der Gesandtschaft in **** verlieren sollte, und Dein brüderlicher Freund Eugen den von hoher Hand ihm ertheilten Rath, um seinen Abschied vom Regiment einzukommen, befolgen muß?

Daß mein jüngster Sohn Alex dies Schicksal mit ihm theilt, will ich nicht erwähnen; Alex ist noch so jung, daß diese Frist, die ihm vergönnt, in England oder Amerika für den Dienst der Marine sich vollends auszubilden, ihm nur vortheilhaft werden kann. Du siehst ich bin billig, ich suche nicht Deine Schuld zu vergrößern.

O warum mußte ich, von geheimnißvollem Dunkel umgeben, auf den schmalen, zwischen Abgründen hinlaufenden Pfad hinausgestoßen werden! rathlos! verlassen! ohne eine leitende Hand, die mir zum Führer dienen konnte! seufzte Richard.

Dieses Warum kann mit sehr wenigen Worten[378] Dir gelöst werden; erwiederte der Fürst: Dir ward kein Führer beigesellt, weil Du auf dem Platze, an welchen Du gestellt worden warst, keinen bedurftest. Hast Du denn unsre Abschiedsstunde, vor Antritt Deiner Reise mit dem nervenkranken Schwärmer Iwan, so gänzlich vergessen? und wie zutraulich ich damals mein ganzes Herz, alle meine Gedanken Dir offenbarte? Erinnerst Du Dich nicht mehr Deines Versprechens: es komme was da wolle, mir unbedingten Glauben zu schenken? Hättest Du Dir an dem Vertrauen genügen lassen, das ich Dir bewiesen; wäre es nie Dir eingefallen, da selbstthätig eingreifen zu wollen, wo Du doch offenbar die Verknüpfung des Ganzen nicht überschauen konntest, ja freilich, dann stände Alles um uns her anders!

Der Mensch im Allgemeinen ist bestimmt, entweder Ambos oder Hammer zu sein, sagt ein berühmter deutscher Poet; fuhr der Fürst fort:[379] Du wardst zum Ambos geschaffen, Du meintest Dich geeigneter Hammer zu sein, und nun liegen die Folgen dieses stolzen Wahns, zu Deinem eigenen Entsetzen, in Trümmern um Dich her!

Richard erröthete; es ward ihm schwer das zornige Gefühl zu unterdrücken, das bei dieser letzten Äußerung des Fürsten in ihm aufloderte; doch behielt er sich genugsam in seiner Gewalt, um weder sich selbst zu viel zu vergeben, noch die dem edlen Greise schuldige Ehrfurcht zu verletzen, dem er so unendlich viel zu verdanken hatte.

Hammer wollte ich nie sein, denn ich fühle zum Zertrümmern mich nicht geeignet; doch wahrlich auch nicht der geduldige Ambos, der schwerfällige Klotz, auf welchem Jeder nach eigenem Gutdünken herumhämmern darf; erwiederte er bescheiden, aber fest und bestimmt. Nur Ihr Unwille kann für den Augenblick mich so erniedrigen[380] wollen; all mein Hoffen, das ganze Glück meines Lebens geht an ihm zu Grunde; wie ich es in Zukunft tragen werde, weiß ich nicht, wohl aber daß ich Ihrer Verachtung rettungslos erliegen müßte. Mein Fürst, fuhr er in steigender Bewegung fort: Sie, der Sie im niedrigsten Leibeigenen das Gefühl seines Menschenrechtes anerkennen, können Sie mir, dem Unglücklichen, den Sie einst Ihren Söhnen gleich stellten, es verargen, daß er zum blinden Werkzeuge sich nicht erniedrigen lassen konnte?

Mein Gleichniß hinkt, ich merke es wohl; doch das ist nun einmal so in der Regel, mag es darum sein! erwiederte der Fürst leicht hingeworfen, mit scheinbarer Gleichgültigkeit. Doch jetzt sprich ohne Scheu es aus, was Du etwa noch auf dem Herzen haben kannst. Ich möchte diese letzte Gelegenheit dazu, die sobald Dir nicht wiederkehren wird, Dir nicht verkümmern; setzte er nach einigem Schweigen hinzu, während welches[381] er Richard betrachtete, als wolle er die geheimsten Gedanken seiner Seele durchschauen.

Durch Mitchell veranlaßt, entdeckte mir ein Zufall die Gefahr, welche dem Geheimnisse des Bundes drohte; fing Richard an.

Und Du meinst daß ich, ja daß selbst Pestel, sie nicht weit früher erkannt haben sollten, als Du und Dein weiser Landsmann? fiel der Fürst ihm lebhaft ein.

Richard erbleichte vor Schrecken. O hätte ich dies ahnen können! rief er: hätten Sie damals, als ich, wahrscheinlich im Vorgefühle dessen, was jetzt geschehn, so ängstlich strebte – –

Nach gewünschter Gelegenheit all Deine Zweifel, Deine Besorgnisse, zum – ich weiß nicht wie vielsten Male vor mir auszuschütten? fiel Fürst Andreas abermals ihm ein. Ohne die Wahrheit im mindesten zu verletzen, könnte ich, bei dem seit Mitchells Hiersein besonders sich häufenden Andrange von Geschäften, den wirklichen[382] Mangel an Zeit als erstes Hinderniß angeben, daneben aber auch, ganz unter uns, die heimliche Furcht vor dem Ennui, dem dabei nicht entgehen zu können, ich voraussah. Doch die ganze Sache ist für uns Beide zu ernst geworden, als daß ich nur den Anschein eines frivolen Scherzes darüber mir erlauben sollte. Da ich indessen von Allem was Dich angeht zu genau unterrichtet bin, um von Dir etwas Neues erfahren zu können, so höre lieber meine Bekenntnisse an:

Stets ging ich darauf aus meine Menschenkenntniß zu erweitern, und machte mir daher, von Eurer frühesten Kindheit an, sowohl Deinen, als meiner eigenen Söhne Charakter zum Gegenstande aufmerksamster Beobachtung. Dein ahnungsvolles Wesen, Dein zu weiches, leicht zu verletzendes Gemüth, zeichneten vor allen Deinen Jugendgenossen sehr merklich Dich aus; daher faßte ich, als Du völlig erwachsen warst,[383] aus wahrhaft väterlicher Fürsorge für Deine künftige Ruhe, den festen Entschluß, von jenem Geheimnisse, auf welches ich damals noch meine kühnsten Hoffnungen gründete, Dich stets fern zu halten, und Deine Aufnahme in den Bund, so eifrig Dein Freund Eugen sie auch betreiben mochte, standhaft zu verhindern.

Der Zufall wollte es anders; wider meinen Willen machte er Dich zum Augenzeugen dessen, was ich Dir ewig verbergen wollte; und um aus dringender, sehr großer Gefahr Dich zu retten, blieb mir nichts andres übrig, als zu dem einzigen Mittel zu greifen, das mir noch zu Gebote stand.

Mein Beschützer, mein Wohlthäter, mein Vater, habe ich denn andres gewollt als dieses? rief Richard gerührt bis zu Thränen: war denn, was ich mit dem beabsichtigte was ich gewagt, nicht ganz das Nämliche was Sie gewollt? War nicht bei gänzlichem Vergessen meiner selbst[384] mein einziger Zweck, Sie und die Ihrigen, Kaiser und Vaterland, vor schmähligem Untergange zu bewahren?

Der Fürst blickte düster vor sich nieder, schwere Wolken des Unmuths zogen auf seiner Stirne sich zusammen. Nie sollte der Mensch unternehmen, in den Lebensgang eines Andern einzugreifen, oder auch nur unberufen ihn bevormunden zu wollen, und in dieser Hinsicht haben, genau genommen, vielleicht wir alle Beide gefehlt; sprach er sehr ernst und trübe vor sich hin. Doch aber will mir bedünken, als ob wir in diesem einzelnen Falle nicht auf ganz gleichem Boden einander gegenüber gestanden wären; setzte er bitter lächelnd, fast höhnisch hinzu: ein geringer zwischen uns bestehender Unterschied läßt sich doch nicht ganz abläugnen, etwa wie der zwischen Vater und Sohn. Und so hätte ich denn damals mich doch nicht als ganz unberufener Vormund Dir aufgedrängt.[385]

O hätten Sie nie, nie Ihre väterliche Hand von mir abgezogen! hätten nie meiner eigenen Leitung mich überlassen! seufzte Richard.

Im Gegentheil, nachdem Du gewissermaßen als mündig Dich emancipirt hattest, hätte ich meine Vormundschaft aufgeben, und gegen Dich vorsichtigere Maaßregeln in Anwendung bringen sollen, um Deinem Einmischen zur unrechten Zeit Schranken zu setzen, erwiederte Fürst Andreas mit sichtbar steigendem Unmuthe. Daß ich dieses versäumte, ist ein Fehlgriff von meiner Seite; ein weit größerer aber ist es noch, daß ich so fest auf Dein mir gegebenes Wort mich verließ, als ob es mein eigenes gewesen wäre, auf Dein Versprechen, im Glauben an mich nicht zu wanken, mir unbedingt zu vertrauen. Ich sagte Dir, der Bund sei aufgelöst, er war es damals, und wäre für Dich es immer geblieben. Sogar mein Nichtbeachten Deiner Besorgnisse, mein Vermeiden Dich anzuhören,[386] mußte, wenn Du mir recht vertrautest, in diesem Glauben Dich bestärken.

Wie wäre, bei den Beweisen vom Gegentheile, die von allen Seiten sich mir aufdrängten, dieses möglich gewesen! rief Richard: und als ich nun vollends mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören mußte –

Was ich lange vor Dir gesehen und gehört hatte; oder meinst Du wirklich, ich wäre etwa taub und blind geworden? fuhr der Fürst, seinen Vorsatz, sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen, vergessend, sehr heftig auf. Voreiliger Thor! rief er, wie kannst Du wissen, ob ich nicht noch vor der Stunde, in welcher Du auf Deinen irrenden Ritterzug auszogst, auf dem Wege nach Tangarog mich befand, und ob nicht der mich einholende Courier des Ministers mir Depeschen überbrachte, die zur Rückkehr nach Petersburg mich nöthigten, während jener auf[387] seiner Sendung zum Kaiser nach Tangarog vorwärts eilte?

Des Fürsten Augen sprühten Feuer, flammende Röthe überzog sein Gesicht; seine Haltung, seine hohe kräftige Gestalt gewannen den furchtbarsten Ausdruck höchster Entrüstung: Ich war Stifter des Bundes, rief er, und schlug mit geballter Faust auf seine Brust, daß es hohl wiederhallte: und ich, ich allein war berechtigt, ihn in seiner Entartung zu vernichten; ich besaß die Kraft, den Muth, den Willen dazu. Eitler, Schwachsinniger, der Du Dich berufen, der Du Dich fähig wähntest, die Entscheidung des Schicksals unsers großen Monarchen und seines unabsehbar großen Reichs, mit all den Millionen Seelen, auf Deine schwachen Schultern zu laden!

Richards Blut wallte heiß auf, vor Zorn, und zugleich vor innerer tiefer Reue; er fühlte ganz das Unhaltbare, Unzusammenhängende in[388] dem was der Fürst, von wilder Leidenschaftlichkeit getrieben, zu seiner eigenen Vertheidigung, und zu Richards Anklage vorbrachte, und war doch außer Stande ihn deutlich und völlig zu widerlegen. Die noch immer fest auf ihn gerichteten Augen seines ehemaligen Wohlthäters brannten ihn wie glühende Kohlen. Daß ohne seine Einmischung alles vollbracht, vom Fürsten selbst vollbracht worden wäre, drückte bis zur Vernichtung ihn nieder. Hätte jetzt der Boden unter seinen Füßen sich geöffnet, und in den Mittelpunkt der Erde ihn geschleudert, in diesem Augenblicke wäre es ihm die höchste Wohlthat gewesen.

Unhörbar leise schwebte jetzt Helena herbei; sie stand gleich dem Engel des Friedens zwischen den Beiden, und schlug das dunkle, schmerzumwölkte Auge zu ihrem Vater auf. Ihr Anblick wirkte mit magischer Gewalt. Völlig umgewandelt in Ton und Stimmung, schloß er sie in[389] seine Arme und berührte die schöne bleiche Stirn mit seinen Lippen. Du Beklagenswertheste unter uns, seufzte er leise vor sich hin, wie war es möglich, daß ich Deine Gegenwart vergessen konnte!

Sterbenden würde in der letzten Stunde Alles erlaubt, sagte man mir. Sterben, Scheiden, ist es nicht das nämliche, nur mit anderm Namen benannt? flüsterte sie bittend, an die Brust des Vaters gelehnt. Sie hatte sich ausgeweint. Er entließ sie sanft aus seinen sie umschlingenden Armen, und sie stand jetzt vor ihm, das schönste, rührendste Bild der schwersten Aufgabe ihres Geschlechts, das Bild muthig duldender Ergebung.

Arme Seele! diese letzte, bängste, – ich mag in Verbindung mit Dir ihren Namen nicht nennen, – von mir bleibe sie Dir unverkümmert. Doch trage sie, wie es meiner Tochter ziemt; erwiederte der Vater mit bedrückter, vor innerer[390] Rührung bebender Stimme, und wandte sich dann an Richard.

Unser beider Wirkungskreis geht von heute an weit auseinander; nimm auf der neuen Bahn, die Du Dir selbst gewählt hast, die Versicherung mit, daß ich keinen Groll gegen Dich hege, und mögest Du mit nicht weniger Gelingen auf ihr fortschreiten, als Du auf der gethan, auf welcher ich bei Deinem Eintritte in die Welt Dich gestellt hatte; sprach er mit würdigem Ernst.

Suche die überschwängliche Gnade unsers großen Kaisers, die er Dir bezeigt, durch treuen Dienst zu verdienen; fuhr er nach kurzem Schweigen fort, da er sah, daß Richard keine Sylbe ihm zu erwiedern vermochte. Hüte Dich vor dünkelhafter Übereilung, laß durch zu hoch gespannten Wahn Dich nie wieder verleiten, die Schranken übersteigen zu wollen, welche Natur und Verhältnisse um Dich gezogen; das ist der letzte wohlgemeinte väterliche Rath, den Du von[391] mir erhalten wirst. Die Blüthe des Lebens ist mit dem heutigen Tage Dir abgeblüht, Dir bleibt nur Erinnerung an ihre Herrlichkeit, mögest Du auch von dieser Dich losmachen können, damit sie auf Deinem neuen Lebenspfade Dir nicht zur lästigsten Begleiterin werde. Dies sei mein Abschiedssegen, und nun fahre wohl!

Der Fürst zog in das Innere seiner Zimmer sich zurück, und lautlos sah Richard ihm nach.


Hast Du's vernommen? es ist wie er sagt, diese Stunde ist die Scheidestunde, die Todesstunde unsres Glücks; sie ist so kurz und doch hätte ich so vieles Dir noch zu sagen, mein Herz ist so voll, aber ich finde keine Worte, keine Ordnung in meinen Gedanken, mir ist so dumpf zu Sinn! klagte Helena, und drückte, wie vom Schwindel ergriffen, beide flachen Hände gegen die Stirn.[392]

Und warum wäre es so? warum scheiden? rief Richard von der Gewalt des Augenblicks ergriffen, und hielt die in seine Arme hinsinkende leidenschaftlich fest an seine Brust. Helena, Geliebteste! Du Stern meines Lebens, Du Licht meiner Augen, sieh wie der Weg zum Gipfel unsrer Wünsche im hellsten Sonnenscheine dicht vor uns liegt. Ein einziges hohles Hirngespinnst spreitzt an seinem Eingange sich uns entgegen. Habe den Muth es näher zu betrachten, und es wird vor Deinen Augen verschwinden! flehte er mit bebender Stimme, glühend zitternd.

Richard, ich verstehe nicht wie Du es meinst, ich kann nichts denken, nichts fassen, der Schmerz betäubt mich; habe Geduld, ich hoffe ich werde mich wieder finden: erwiederte Helena.

Was sollte, was könnte uns scheiden, was jetzt? hat sich nicht Alles auf's Günstigste gestaltet? Laß uns nur vorurtheilsfrei die Dinge sehen wie sie sind: fuhr Richard mit glühendem[393] Eifer fort, wende Dein liebes Auge mir zu, holder, schöner Engel, sei aufrichtig gegen Dich selbst. Seh' ich aus wie ein Verbrecher? wie ein Frevler an allem, was dem Menschen heilig sein soll und muß? Kannst Du, konntest Du jemals glauben, konnte in Deinem reinen Gemüthe der Argwohn jemals Wurzel fassen, daß ich, daß der Mann den Du Deiner Liebe werth gehalten, seine Seele, seine Ehre für Rang und Reichthum, ja selbst für das Höchste, für Deinen Besitz, verkaufen könnte? Daß Meineid, daß Verrath, fuhr er immer begeisterter fort – nie, nie, nie, unterbrach ihn Helena, und hob die Hände bittend zu ihm auf, o lästre so nicht Dich und mich!

Ich wußte es wohl; mochte immerhin der Anschein gegen mich zeugen, Du glaubtest an mich, Dich täuschte er nicht: fuhr Richard fort: auch Deinen Vater nicht, höchstens nur in der Überraschung des ersten Augenblicks. Was trennt[394] uns dann? ein Traum, ein kurzer Wahn, der vor dem Lichte der Wahrheit schwinden muß. Helena, o höre die Stimme der Natur! die Stimme der reinsten innigsten Liebe! höre, o höre die Stimme Deines Herzens.

Richard, was verlangst Du? ich verstehe Dich nicht; Dein Auge flammt, Deine Lippen brennen auf meiner Hand, Du ängstigst mich, was willst Du, wie ist Dir! sprach Helena.

Rettung will ich! Rettung für Dich, für mich, für Deinen Vater; er wird es uns heimlich danken, wenn wir zu dem Schritte ihn zwingen, den er freiwillig zu thun sich nie entschließen kann und wird. Helena, Du einziger Stern meines Hoffens, meines Lebens, sei mein! Die Stimme der Gottheit, die unser Schicksal lenkt, spricht aus mir. Unvorbereitet giebt sie mir ein, was, als ich hier eintrat, mir nie als möglich erschienen wäre. Fliehe mit mir, noch in dieser Nacht, die Zeit drängt, morgen ist es[395] viel zu spät, morgen, morgen ist furchtbar! Du darfst hier nicht wieder die Sonne aufgehen sehen, oder Du bist mir entrissen. Auf immer und ewig sind wir morgen getrennt.

Flehend warf Richard sich vor sie hin, umfaßte ihre Kniee, ihre Hände, den Saum ihres Kleides, den Teppich den ihr Fuß berührte, erschöpfte alle Beredsamkeit, welche die glühendste Liebe nur eingeben kann. Helena bebte, erglühte, erbleichte, und sank in Schmerz und Liebe aufgelöst ihm an das Herz. Seines Sieges gewiß, hielt er sie in seinen Armen, vor Wonne kaum seiner selbst sich bewußt.

Helena ruhte einige Minuten in dieser Stellung, ohne einen Laut, fast ohne zu athmen, still wie ein schlummerndes Kind; ihr Leben schien in sich zurückgezogen, ihr Herzschlag stille zu stehn, um auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln; Richards Blicke wachten über sie: er selbst regte sich nicht.[396]

Sie schlug die Augen auf, sie löste sich sanft aus seinem Arme und richtete sich empor; sie sah umher, wie aus einem Traume erwachend, und war wieder was sie immer gewesen, war wieder sie selbst, muthig, liebend und klar.

Richard, sprach sie, zuerst mit unsichrer, bebender Stimme, dann immer gefaßter, je länger sie sprach: Richard, seit das Unglück über uns hereinbrach, ach seit jenem sonnenhellen Morgen in meinem Oratorium, weißt Du es noch wohl? seitdem sehen wir uns zum erstenmal wieder. Ich habe so viel Dir zu sagen, und so wenig Zeit, so wenig Athem, so wenig Besinnung, habe Geduld, und höre mich an.

Damals wußte ich nicht was aus Dir geworden sei, jetzt weiß ich es wohl, Du wurdest festgehalten, damit mein Vater nicht selbst nach Tangarog – doch das ist vorbei, und gehört nicht mehr hierher. Ach, mein Freund, ich gab Dich damals verloren, verloren für Alles, nur[397] nicht für mich, nicht für meine Liebe, wenn es Gott nur gefiele, das Leben Dir zu fristen. Sprich nicht, rege Dich nicht, höre mich bis an's Ende: bat sie als Richard sie unterbrechen wollte.

Ich wähnte als Verschworner Dich angeklagt, verhaftet, verurtheilt, die Leute um mich her sagten es so, ich glaubte ihnen. O Richard, Geliebter, Einziger, welch ein Traum schmerzlicher und reinster Seligkeit tröstete, erfüllte damals mich ganz und hielt mich aufrecht, mich allein, während alles um mich her in Trauer versank! Du warst verurtheilt, nach Sibirien verbannt, die Kibitka, so glaubte ich es, die Wache, die Dich fortführen sollte, alles war bereit, aber auch ich war es. Vor aller Welt, vor meinem Vater, meiner Mutter, vor all' meinen stolzen Anverwandten bekannte ich mich als Dein, als die unzertrennliche Gefährtin Deines Geschicks. Ich begleitete Dich, ich diente Dir, ich pflegte Dich, sorgte für Dich, und[398] theilte mit Dir jede Entbehrung, Mangel und Noth. Ich wäre ja nicht das erste Fürstenkind; hat Mentzikoffs stolze schöne Tochter, sie, einst als kaiserliche Braut dem Throne so nah, nicht Gleiches für ihren Vater erduldet und vollbracht? Nichts sollte mich hindern meinen festen Vorsatz auszuführen, nicht das Urtheil der Welt, auch nicht das Gebot meines Vaters. Bis zu meinem letzten Athemzuge hätte ich der Gewalt widerstanden, hätte Mittel gefunden Dir zu folgen, wenn man mich hinderte Dich zu begleiten. Dein Unglück gab meiner Liebe den Freibrief alles zu thun, alles zu wagen für Dich!

Welch ein Bild rollst Du vor meinen Augen auf, wie weiß Deine Liebe selbst das Fürchterliche mit unnennbarem Liebreiz auszuschmücken, o wäre es, wie Du es malst! seufzte Richard.

Es ist anders, ganz anders gekommen. Ich weiß Du fühlst wie ich, ein mit Schande beflecktes, von der öffentlichen Meinung gebrandmarktes[399] Glück – wer trüge das? Von Tausenden gehaßt, verachtet, des Meineids angeklagt, Tausende die unser Glück auf den Trümmern des ihrigen erbaut wähnen – – Du trügst es so wenig als ich! Dein Traum zerrinnt, meiner ist längst zerronnen!

Richard hatte keine Antwort! jedes Hoffen auf die Zukunft, jedes glückliche Gefühl in seiner Brust erstarb vor der ihn überwältigenden Wahrheit, die furchtbar, gleich dem jedes warme Leben versteinernden Haupte der Medusa, ihm entgegen starrte.

Fahre wohl! fahre wohl! o fahre wohl: seufzte Helena, immer leiser und leiser, das Wort erstarb auf ihren Lippen, entgeistert hing sie in Richards Armen, über sie hingebeugt unterstützte er sie, starr, bleich, regungslos wie ein Todter.

Von ihm unbemerkt war Helenas Vater hinter ihn getreten; sie zuckte schmerzlich, aber still,[400] indem er sanft und mit höchster Vorsicht aus Richards Umarmung sie löste.

Gott tröste Dich, und gebe Dir Muth, mein Sohn: sprach der Fürst sehr mild, und eine Thräne glänzte in seinem Auge, indem er die leichte, geliebte Last auf seinen Armen in sein Zimmer trug.


Wunden wie die, welche das Leben dem armen Richard geschlagen, heilt erst nach dem Verlaufe vieler langen Jahre die Zeit; wenn unser Haar bleicht, das Blut in unsern Adern langsamer pulsirt, und unser Wünschen und Hoffen über diese Erde hinweg in andern höheren Regionen sicheren Ankergrund suchet und findet.

Einige Monate reichen bei weitem nicht hin, ein solches Wunder zu bewirken, aber sie beschwichtigen wenigstens den Schmerz durch den[401] Zauber der Gewöhnung. Wenn uns alles Hoffen verläßt, wenn uns jeder Tag fester überzeugt, daß nun und nimmermehr eine Änderung unsres Zustandes eintreten kann, dann hören die Wunden auf zu bluten, die Klage verstummt, in verschwiegner Einsamkeit wird der Schmerz unser stiller Begleiter, den wir mit einer Art peinlicher Wollust pflegen, und der Zerstörung gelassen zusehen, die unser irdisches Dasein untergräbt.

Doch dahin war Richard noch bei weitem nicht gelangt, obgleich es dem Laufe der Zeit gemäß wohl der Fall hätte sein können. Mehrere Monate hatte er seit jener Trennung von dem Leben seines Lebens still und trübe hingebracht, und immer noch erneuerten unter seinen Augen sich die Folgen seiner That, und frischten Erinnerungen in ihm auf, die seine Ruhe untergruben.
[402]

Kaiser Alexanders stets zur Milde und Nachsicht sich neigendes Gemüth fühlte durch das frevelhafte Unternehmen seiner Unterthanen sich sehr tief und schmerzlich verletzt. Mehr betrübt als entrüstet, schämte sein hoher edler Sinn sich gewissermaßen des schwarzen Undanks, der, wo er es am wenigsten erwartet hatte, in so gräßlicher Gestalt ihm entgegen trat, und wünschte nichts sehnlicher, als diese traurige Erfahrung der ganzen übrigen Welt verbergen zu können.

Er mußte leider strafen; der damals schon körperlich leidende Monarch that es mit innerm Widerstreben, stets zum Verzeihen geneigt. Nur wenige bedeutende Familien befanden sich im ganzen Lande, die nicht wenigstens ein schuldiges Mitglied zu betrauern gehabt hätten. Doch die Kunde davon ward der Öffentlichkeit so viel als möglich entzogen, und um die schuldlosen Verwandten der Schuldigen zu schonen, wurde sowohl von den Vergehungen derselben, als von[403] der darauf erfolgenden Strafe, so wenig als möglich im Publikum, besonders aber im Auslande ruchbar.

So geschah es denn, daß die Hydra Empörung für den Augenblick zwar unterdrückt, doch bei weitem nicht ausgerottet wurde. Einige Monate später hob sie die giftgeschwollenen Häupter wieder, und jetzt erst traf sie der Arm der strafenden Gerechtigkeit mit vernichtender Strenge; doch diese Ereignisse liegen weit hinaus über dem Ziele, das ich diesen Blättern gesetzt habe, welche auf historische Bedeutung keinen Anspruch machen.


Den großen Schmerz abgerechnet, für den dieses Leben keinen Trost ihm zu bieten hatte, wurde Richards wundes Gemüth auch auf andre Weise vielfach verletzt. Schmeichler, die ihren Vortheil darin zu finden hofften, erhoben[404] was er gethan bis in die Wolken, priesen als Retter des Vaterlandes ihn überlaut, und versuchten das Mögliche und Unmögliche, ihm recht bemerkbar zu werden. Sie meinten eine jener über Nacht pilzartig aufschießenden Erscheinungen in ihm zu sehen, wie jede an bedeutenden Ereignissen reiche Zeit sie erzeugt; einen werdenden, dereinst vielleicht allmächtigen Günstling des mit so ausgezeichneter Gnade und Huld ihn überhäufenden Kaisers, den sie in der Folge für sich zu benutzen hoffen durften; denn dem Gemeinen wird Alles gemein.

Der Haß, der still verbissene Neid, und, so ungern er dieses sich selbst gestand, die kaum zu verhehlende Verachtung, mit welcher die große Anzahl derer ihn betrachtete, welche am meisten durch ihn gelitten, und die jetzt durchaus keine andre Triebfeder seiner That anerkennen wollten, als schmutzigen Eigennutz und den Wunsch, um jeden Preis sich empor zu schwingen,[405] war ihm nicht minder peinigend, als die ihn anekelnde Kriecherei jener Elenden.

Am drückendsten aber empfand er die Kälte, die überall ihm entgegen starrte, wo man sonst mit unverkennbarer Herzlichkeit sich ihm zu nähern pflegte. Es war als ob ein heimliches Grauen von ihm ausginge, das selbst diejenigen von ihm scheuchte, von denen er überzeugt sein konnte, daß sie ihm eigentlich nicht abgeneigt wären.

Wo er auch immer sich zeigen mochte, er konnte darauf rechnen, mit einer Art förmlicher Höflichkeit behandelt zu werden, die ihn oft innerlich zur Verzweiflung brachte, doch artete diese nie in Hohn aus. Niemand erlaubte sich in seiner Gegenwart eine Anspielung, ein Wort, eine Miene, die ihn hätte beleidigen können. Alle Offiziere, mit denen er im Dienste in Berührung kam, bezeigten ihm die nicht nur seinem Range, sondern auch seiner Persönlichkeit[406] gebührende Achtung, die mancher von ihnen auch wohl wirklich für ihn empfand. Keiner von denen, die bei seiner Erhebung übergangen worden waren, erlaubte sich die mindeste Äußerung darüber, die ihm hätte mißfallen können; doch Alle hüteten sich dafür ihm näher zu treten, als gerade erforderlich war, und an ein kameradliches Verhältniß, wie es früher wohl Statt gehabt hatte, war für Richard gar nicht mehr zu denken.

Sogar das Haus des Kapellmeisters Lange, das einzige, in welchem er alte Liebe und Treue und einen warm ihm entgegen kommenden Empfang zu finden gewiß war, wurde durch Frau Karolinens zu große Theilnahme an seiner Trennung von Helena, die sie weder begreiflich noch verzeihlich fand, ihm gewissermaßen verleidet.

Mitten im Gewühle eines geräuschvollen Lebens, das jedes Interesse für ihn verloren hatte, von Keinem geradezu angegriffen, von Vielen[407] gefürchtet, von Allen gemieden, kam er sich selbst wie ein abgeschiedener Geist vor, der verurtheilt war, zum Schrecken der Lebenden eine Zeit lang die Welt zu durchwandern, ehe ihm erlaubt wurde zur Grabesruhe einzugehen. Sehnsucht nach menschenfernster, stillster Einsamkeit bemächtigte sich seiner mit immer zunehmender, verzehrender Allgewalt, bis er endlich zu dem Entschlusse getrieben wurde, zur Herstellung seiner wirklich leidenden Gesundheit um seinen Abschied vom Regimente anzuhalten.

Was er, bekannt mit den Schwierigkeiten, welche in Rußland die Gewährung solcher Bitten begleiten, kaum zu hoffen gewagt hatte, geschah; auf Fürsprache des Ministers erhielt er seine Entlassung, und auf die schmeichelhafteste, ehrenvollste Weise.
[408]

Da lag nun die Welt, die außerhalb dem russischen Reiche ihm völlig unbekannte, offen vor ihm da; doch fühlte er sich nicht versucht, sie näher kennen zu lernen. Der Gedanke, in die Verhältnisse zurückzukehren, zu denen er in seinem eigentlichen Vaterlande geboren worden war, fand keinen Anklang in ihm. Rußland war sein, war Helenens Vaterland; dort lebte sie, wenn gleich in weiter Ferne von ihm, und diesen letzten, kleinsten Trost aufzugeben, konnte er sich nimmer entschließen.

Bei der vollkommensten Gleichgültigkeit gegen alles, was im gewöhnlichen Leben zu den Annehmlichkeiten desselben gezählt wird, trieb ihn eine Art von dumpfem Pflichtgefühle das weit entlegene Fleckchen Erde zuerst aufzusuchen, das er durch des Kaisers Gnade sein Eigenthum nennen durfte. Dort wollte er, mitten unter seinen Bauern, sich niederlassen, nach dem Beispiele und den Lehren des Fürsten Andreas für[409] ihre geistige Bildung und die Verbesserung ihres Zustandes Sorge tragen, und in selbst gewählter, tiefer Einsamkeit sein hoffentlich kurzes Leben so beschließen.

Bei seiner Ankunft in jenem abgelegenen Winkel der Erde, breitete ein viel weiteres Feld für seine wohlthätigen Absichten sich vor ihm aus, als er zu finden erwartete. Er hatte den besten Willen mit den, von allen Seiten als unentbehrlich sich ihm aufdringenden Verbesserungen, sogleich den Anfang zu machen; doch er entdeckte zugleich, daß es ihm nicht nur an den dazu nöthigen Vorkenntnissen, sondern auch an dem Beistande sacherfahrner Gehülfen mangele, indem die Kraft eines Einzelnen, zur Ausführung eines so vielseitigen Unternehmens, unmöglich auslangen könne; jetzt versagte die seinige ihm gänzlich, mehr noch sein Muth; er hatte nicht einmal den, sich eine leidlich anständige Wohnung erbauen zu lassen. So versank er[410] denn immer tiefer in grenzenlose Apathie und den traurigen Genuß, sich ganz ungestört seinem Schmerze zu überlassen, während er die Anstalten zur Ausführung seiner Pläne von einem Tage zum andern hinausschob.

Ein Brief seines Freundes Eugen, der ziemlich verspätet, auf tausend Umwegen in seiner Einöde ihn auffand, war nach mehreren Wochen das einzige Ereigniß, das die trübe Einförmigkeit seines matt hingleitenden Lebens unterbrach.

Der Brief brachte ihm beides, Freude und Leid; der Inhalt desselben war zwar ernst, aber doch voll zarter Schonung, wie nur die innige Bruderliebe sie eingeben konnte, welche beide Freunde von Jugend auf verbunden. Eugen, nachdem er so viel Tröstliches, als die Lage der Dinge nur erlaubte, von seinem und der Seinigen gegenwärtigen Zustande dem Freunde gemeldet, sprach, nothgedrungen wie es schien, den Wunsch aus, einige Jahre stumm vorüber[411] ziehen zu lassen, und die künftige Gestaltung der Zeit und ihres beiderseitigen eigenen Geschicks zuvor abzuwarten, ehe sie, sei es schriftlich oder mündlich, sich einander wieder zu nähern versuchten.

Es war ein Abschied auf lange, unübersehbar lange Zeit, wahrscheinlich auf immer; Richard fühlte es, und seine noch nicht vernarbten Wunden bluteten von neuem schmerzlicher.

Übrigens ging aus dem Briefe hervor, daß Eugen in der Gegend von Astrachan, in einem gesegneten reich bebauten Lande, ein großes Gut bewohne, welches sein Vater ihm übergeben, und sich dort eifrig und mit gutem Erfolge bemühe manches, in seiner früheren Jugend Versäumte, nachzuholen, und durch höhere wissenschaftliche Bildung, als zu erwerben er in seinen ehemaligen Verhältnissen Zeit und Gelegenheit gehabt, sich auf eine Thätigkeit andrer Art vorzubereiten, als seine bisherige gewesen.

Helena, schrieb Eugen, lebe in Moskau, anscheinend[412] ruhig, ganz der Pflege ihrer fortdauernd kränkelnden Mutter, und wohlthätigen Zwecken geweiht; geehrt, bewundert, angebetet von denen, die glücklich genug waren ihr nahen zu dürfen, aber durchaus zurückgezogen von der großen Gesellschaft, beschränkt auf den Umgang mit wenigen nähern Freunden und Verwandten.

In der Fürstin Eudoxia war die alte Überzeugung von dem ursprünglichen Unterschiede der vornehmen und geringen Klassen wieder erwacht, in der sie von Kindheit an erwachsen war, und es verging kein Tag, an welchem sie nicht die schmerzlichste Reue darüber bezeigte, in der Strenge nachgelassen zu haben, mit welcher sie früher auf diesen Unterschied gehalten. Gekränkter Stolz, stiller Unmuth nagten an ihrem Leben. Richard in ihrer Gegenwart nur zu erwähnen war hoch verpönt; ein alter treuer Diener, der unversehens einst seinen Namen nannte, wurde[413] hart gestraft, und durfte nie wieder vor ihr erscheinen.

Eugen schrieb es zwar nicht ausdrücklich, aber es ging doch aus seinem Briefe hervor, daß er zur Beruhigung seiner Mutter ihr habe das Versprechen leisten müssen, jede Verbindung mit Richard aufzuheben. Richard verstand ihn wohl und der Zorn, so wie die geistige Verstimmung seiner ehemaligen Wohlthäterin erfüllten ihn mit Reue und Schmerz; aber es tröstete ihn doch, denn es ließ ihn hoffen, daß Eugen in seinem Herzen noch immer mit Liebe seiner gedenke.

Erfreulicher, oder vielmehr im höchsten Grade erfreulich war, was Eugen von seinem Vater schrieb. Der Sturm, der so leicht das ganze Lebensglück desselben hätte zertrümmern können, hatte den alten Herrn nur in sein eigentliches, ihm am besten zusagendes Element geworfen, in welchem er nun, von allen Banden frei, sich gar lustig bewegte. Im kleineren, wenn gleich[414] noch immer sehr großen Maaßstabe, führte er auf seinen weitläuftigen Gütern aus, was er nach einem weit kolossaleren einst gewollt; richtete Schulen und Bildungsanstalten ein, bauete Dampfmaschinen, legte Fabriken an, deren Erzeugnisse mit den besten andrer Länder wetteifern konnten, und war dabei, in nie rastender Thätigkeit, heiter und gesund. Mitchell blieb im merkantilischen wie im technischen Fache als brauchbares, geduldiges Werkzeug ihm stets zur Hand, und befand sich nicht übel dabei.


Kein Tag verging, an welchem Richard dieses Schreiben, das einzige zwischen ihm und seiner glücklichern Vergangenheit bestehende Band, nicht wenigstens einmal gelesen; es war der erste Lichtpunkt in seinem jetzigen Leben, der wenigstens die trübe Dämmerung desselben unterbrach,[415] dem aber kein zweiter folgen zu wollen schien.

Und immer düsterer und farbloser gestaltete die Gegenwart sich um ihn her; das Jahr neigte merklich dem Untergange sich zu, immer länger dehnten seine schlaflosen Nächte sich aus; der in diesem Klima früh eintretende Herbst sandte seine Vorboten, die Stürme, um die Wälder von ihrem früh angelegten bunten Schmucke zu entkleiden; die Thiere des Waldes suchten ihre Schlupfwinkel auf, um dort die lange Nacht des Winters ruhig zu verträumen, und auch die Menschen in ihren räuchrigen niedern Hütten trafen alle ihnen zu Gebote stehenden Anstalten, um gegen den nun bald schonungslos eindringenden Feind, Kälte und Mangel, sich zu vertheidigen.

Wenn Abends Schloßen und Regen gegen die kleinen Fenster von Richards schlecht verwahrter, baufälliger Wohnung heftiger anschlugen,[416] der Sturmwind lauter braußte, die zersplitterten Bäume im Walde krachten, dann überlief ihn wohl ein Schauer, indem er der sechs oder acht vor ihm liegenden Wintermonate gedachte, die er in dieser gänzlich abgeschiednen Einsamkeit, jeder gewohnten Bequemlichkeit entbehrend, ohne Bücher, ohne Freund, ohne alles geistige Interesse mit sich allein zubringen sollte. Helenas Traum von ihrer beider Leben in Sibirien stand oft vor ihm auf, und erfüllte ihn mit bänglichster Sehnsucht.

Noch war es Zeit, noch waren die Wege nicht unfahrbar geworden, noch immer stand es in seiner Macht, ohne zu große Beschwerlichkeiten zu erdulden, bewohntere Stätten aufzusuchen; doch dazu gehörte ein Entschluß, und diesen zu fassen, lag für ihn, in seiner jetzigen Stimmung, außerhalb dem Bereiche der Möglichkeit!

So saß er oft Stunden lang in Gedanken, in Erinnerungen, zuweilen in wortlosem, an[417] Betäubung grenzendem Sinnen verloren, nichts von allem was um ihn her vorgehen mochte beachtend.

Siehst Du, Richard, ist es nicht gekommen wie ich es Dir vorher sagte? sprach eines Abends eine kräftige bekannte Stimme, dicht neben ihm, und eine warme starke Hand faßte und drückte die seine. Richard schreckte zusammen, er hatte die Eintretenden nicht kommen gehört: ein Mann und eine Frau standen neben ihm, beide in armenischer Tracht. Es waren Iwan und Julie: Deine Kneesen haben Dich verlassen, Deine Glücksträume sind aufgeflogen, Deine Luftschlösser zusammengebrochen, fuhr Iwan fort, darum sind wir gekommen, ich und mein Weib, Dich abzuholen, komm nach Hause, was willst Du hier?

O komm gleich mit uns nach Hause! bat schmeichelnd Julie, hier ist es nicht gut für Dich. Unsre Mutter hält alles zu Deinem Empfange[418] bereit, und wir wollen Dich lieben, Deiner pflegen, Dich trösten, so gut wir es können: komm nur schnell, komm nach Hause!

Und Richard ging mit ihnen nach Hause.

Quelle:
Johanna Schopenhauer: Richard Wood. Theil 2, Leipzig 1837.
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