(VI.)

[201] Solche stürmende Gefühle hatt' ich noch, da ich schon ein Jahrlang im Kerker schmachtete. Man kann sich daher leicht ein Bild von meinem Zustand machen. Er war dem Zustande eines Verdammten sehr ähnlich. Eine der schreklichste Empfindungen in langwierigen Gefangenschaften ist das Gefühl – der langsamen Verwesung. Die Juden haben abscheulich gefabelt: der Gottlose fühle seine Verwesung im Grabe; hätten sie es von einem Gefangenen gesagt, so hätten sie nicht gefabelt. Ich sah und fühlte meine Verwesung; jeden welkenden Zug, jede alternde Linie um die Augen, jede wachsende Ermüdung, jeden dumpfer werdenden Ton, jede zunehmende Schlaffheit, jedes graue Haar im Richtkamme; fühlt' es tief in mir, wie sich die Seelenkrafte, gleich der Wose im sengenden Strahle, neigten, krümmten,[201] einschrümpften. – Mein Wiz, ein Schmetterling mit versengtem Flügel, traurig im Staube zukend; meine Fantasie eine Gruft voller Todtengebeine; mein Verstand, müde vom Forschen; meine Einbildungskraft gelahmt, und beinah' jede Nerve der Seele abgespannt. –


»Aber ach, mein Herbst ist gekommen,

So früh ist schon mein Herbst gekommen!

Das Schiksal blies mit kaltem stürmendem Odem:

Und meine Blätter fielen.«


»Heisser ist mein Gesang;

Die geflügelte Hand erlahmt

Auf den braunen Tasten

Des goldnen Saitenspiels.«


»Fern ist meine Liebe,

Meine Kinder sind ferne.

Der schwarze, starre, enthaarte Ast

Vermag nicht mehr zu schatten den Lieben.«

s. Gedichte 2. B. S. 108.


Denn so wie auf einem Thurm oder Gebirge die Seele weit und groß wird; so wird sie hingegen in einem dumpfen Kerker eng und klein. Ich sah es ganz deutlich, und[202] empfand es mit Wehmut, wie alle Kreise der Wesen in meiner Vorstellung von Tag zu Tage enger wurden, beinahe so eng, daß ich Gott und seine ganze Schöpfung in meinem Felsengewölbe zu umschreiben wähnte. Wände, Riegel und Ketten sind des Geistes Tod.

Hätte dieser Zustand lange gedaurt, so wär' ich jezt begraben, und schon halb vermodert. Aber Gott wollte mir noch immer mehr Gelegenheit zu seiner Erkenntnis, zum Glauben, zur Geduld verschaffen; daher befreite er mich aus meinem Loche, eh' ich es dachte. Ich konnte schon nicht mehr gehen, an allen Wänden mußt' ich mich halten, um nicht plözlich umzusinken und hülflos zu verschmachten. Aber den dritten Februar 1778 kam der Kommandant, und führte mich auf Befehl des Herzogs aus meinem Thurme, in ein luftiges, troknes, heiteres Zimmer, wo ich wieder aufathmete, wie ein Auferstandner, als ich den weiten[203] schönen Himmel und – ach! meine lieben Menschen wieder sah. Der blose Anblik meiner Brüder, das frohe Gewimmel der spielenden Jugend auf dem Festungsplaz; ein mitleidiges Auge, das zuweilen zu meinem Eisengitter emporsah, stärkte mich mehr, als es alle Arzneien der Welt vermocht hätten. Nie hab' ich die Liebe zu den Menschen und ihren unaussprechlichen Wert tiefer empfunden, als in diesen seligen Augenbliken. Und wie durchstach es mein Herz, wenn so mancher mit mir reden wollte, wenn ich kommenden Trost auf seinen Lippen schweben sah, und er – eingedenk des fürstlichen Verbots, wieder verstummte .. O ihr Brüder, dort wollen wir genug miteinander reden, wo kein Machtwort uns mehr die Lippen verschließt! Gott lohn's einem jeden, der mich getröstet hat, und der mich trösten wollte!

Je mehr Liebe Gottes durch seinen Geist in unser Herz ausgegossen wird, desto[204] größer und fühlbarer werden in uns die Empfindungen des Wohlwollens, des Mitleids, der Barmherzigkeit gegen unsre Brüder. O wie marterte mich nun der Drang der Mittheilung; ich wünschte allen Gutes zu thun, und war doch so dürftig, daß ich iedermanns Hülfe bedurfte. Ich wollte mich ergießen, und die Felder meiner Brüder befruchten; aber ich war ein verschlossner Quell, aus dem niemand schöpfen durfte, »Aus der Ordnung gerissen seyn, und zum Wohl des Ganzen nichts beitragen können, ist der Verdammten gröste Qual,« sagt Origenes, – und ich unterschreibe diese Wahrheit mit meinem Blute. Aber – du sollst zuvor selbst mehr Licht und Leben in dich trinken, eh' du es einem andern mittheilst – das dacht' ich, und denk' es noch jezt, wenn mich der Drang der Mittheilung foltert. –

Eine der bittersten Empfindungen war für mich der Anblik so vieler Elenden, die[205] ich nun täglich vor meinen Augen sah. Ich hörte vorher die Ketten nur rasseln; nun sah ich auch die Unglüklichen, die sie trugen. Leute, die bei Wasser und Brod Ketten tragen, und hinter dem Karren ächzen müssen, wie durchschneidend ist dieser Anblik? – Ich sah einmal das Weib eines Gallioten (welche ihn besucht hatte,) neben ihm sizen, und mit dem vollen Blike des Mitleids auf sein Fußeisen niederschauen. Sie schob es ihm weg, rieb die Stelle, und beträufelte sie mit dem Balsam ihrer Tränen. Der Mann rauchte Tabak, und dampfte so sehr er konnte, um seine Tränen zu bergen, »O Judith, betrüb dich nicht so sehr, es wird schon anders kommen!« Das war alles was er stammeln konnte ... So oft ein solcher Unglüklicher befreit wurde; fiel ich auf meine Knie, und dankte Gott mit freudigem Gefühl. Nie sah ich einen ehmaligen Beamten, oder sonst einen Bürger des Landes, der sich etwa aus Uebereilung, aus Mangel ökonomische[206] Einsichten, von einer starken Familie gedrükt; oder aus der thörichten Begierde, sein Glük in Lotterien zu suchen, an der Kasse des Fürsten vergrif, (immer mit dem Vorsaz, es wieder zu ersezen;) ohne mir die Züchtlinge jener Welt vorzustellen, die entweder in Feuer- oder Eiszonen die Last ihrer Verbrechen tragen, und dem Tage der Erbarmung entgegen ächzen. – O wie sehr, wie am meisten sind die Menschen zu bedauren, die sich ihr Elend selbst zugezogen haben! denn dieß sind eben die Allerunglüklichsten unter der Sonne, weil ihnen der Trost des guten Gewissens fehlt. Ich konnte mir den Trost der Schrift Jahrelang nicht zueignen, weil ich dachte: das geht nur die Leidenden um der Wahrheit willen an. Die Stellen Petri II. 20. v. und IV. 15 und 16. v. brannten oft wie griechisches Feuer in meinen Gebeinen, bis ich im Lichte Gottes erkannte, daß die ganze Versöhnungsanstalt ganz eigen auf die Errettung derjenigen abzweke, so sich selbst elend gemacht haben.[207] Niemand hat jemals unschuldig gelitten; Jesus litt für alle; und die heiligsten Märtirer trugen die Last ihrer eignen Schuld. – Man ist so grausam, die Buße der Gezüchtigten eine Henkersbuße zu nennen, und zu glauben, daß wenn sie wieder aus der Klemme kämen, sie ärger würden, als zuvor .. Es kann seyn, dacht' ich, – und mir schauerte die Haut, daß du in der Welt wieder umschlügest; aber sind deswegen deine jezige Empfindungen nicht wahr? – »O Gott, umzäune mich, bewahre mich, erhalte mich zum ewigen Leben! Willst du mir Freiheit geben; so gib sie mir erst alsdann, wann ich sie nicht mehr misbrauche!!« – Wenn man sich doch hütete, ein rasches Verdammungsurteil über seine Brüder zu sprechen! Kein Mensch ist so verdorben, der nicht noch einen troknen Flek hätte, bei dem ihn Gott greifen und aus dem Schlamme heben kann. –

Das einfältig erhabne Tempellied, das[208] ich nun wieder aus der nahen Kirche tönen hörte, erquikte mein Herz: ich sang mit, feierte den Sonntag mit entzükter Andacht, und empfand die Segnungen Gottes nie mehr, als an diesem Tage. Die Vorsehung Gottes verherrlichte sich so augenscheinlich an mir, daß ich in der kleinsten Begebenheit meines so engen Lebenskreises ihren lenkenden Finger bemerkte. Ich stellte häufige Prüfungen über mich selber an – das allerwirksamste Geschäft eines Christen – und fühlte gleichsam mit ängstlichem Schmerz jeden finstern Flek in mir. Aber jedes Gefühl dieser Art ist eine Wehe, die eine neue Frucht des Lichts ausgebiert. Der neue Mensch, dieser wahre Sohn Gottes, wird, wie der alte, unter Geburtsschmerzen geboren. Ich fieng nun an, mit Erstaunen und tiefer Anbetung, die Möglichkeit meiner Herstellung oder vielmehr Umschaffung nach Gottes Bild einzusehen. Je mehr ich's einsah, desto mehr wuchs die Liebe Gottes in mir; und jemehr diese wuchs, je sichtbarer[209] waren die Spuren seiner Gnade um mich her gestreut. Wenn mich Krankheit und Unmut so niederdrükte, daß ich kaum noch seufzen konnte; so entstand plözlich ein schnelles, unaussprechliches Gefühl in mir, daß ich schreien, und flehen mußte: »O laß nach, ewige Liebe laß nach! ich bin noch zu schwach, deine Umarmungen zu tragen.« –

Was suchst du Gott außer dir, so flisterte oft mein Geist, Er ist in dir! In dir hat er sein Allerheiligstes, wie in der Stiftshütte, aus dem er sich deiner betenden Seele offenbart. Christus ist im Viehstalle gebohren, vielleicht, – damit wirs glauben können, daß Gott seinen Tempel in der zerrütteten Menschheit habe – ein Tempel, der in seiner ganzen namenlosen Herrlichkeit erscheinen wird, wenn alles Unsichtbare ins Sichtbare tritt ... So viele Beweise, daß ich unter der Aufsicht eines erbarmenden Gottes stehe, und das Gefühl,[210] wie nothwendig mir Ohnmächtigen jede Glaubensstärkung sei, entzündeten bald einen heißen Hunger und Durst nach dem heiligen Abendmal in mir.

Ich war schon acht Jahre, seitdem ich exkommunizirt worden war, davon geblieben, und in meinen Umständen mit Recht. Es hielt schwer, die Erlaubnis zu erhalten; endlich erhielt' ich sie vom Konsistorium zu Stuttgart: und obgleich ein strenger Verweis damit verknüpft war; so küßte ich doch den Brief des Special Zillings von Ludwigsburg, eines mir sonst so verhaßten Mannes, der diese Erlaubnis enthielt ... O Gnade, wie zahm kannst du die trozigsten Seelen machen! – Ich empfieng das heilige Abendmal den 13ten Merz dieses Jahres aus den Händen des damaligen Pfarrers Payer, eines herzguten Mannes – mit der süßesten Empfindung der Liebe Christus, ob ich schon noch tausend Zweifel gegen ihn in meiner Seele hegte .. O wie wahr ists,[211] daß Gott nicht sowohl auf große Einsichten des Verstandes (denn was ist vor ihm groß?) sondern vielmehr auf gerade, einfältige, kindliche Herzensstellung sehe! Daher übersieht er auch tausend Fehler des Verstandes, bis er einen einzigen Fehler des Herzens ungeahndet hingehen läßt.

Der Genuß des heiligen Abendmals, wodurch ich mich mit der Kirche gleichsam wieder aussöhnte, nachdem ich alle Stuffen des büßenden Sünders nach der Vorschrift der ältesten Kirchenzucht5 durchgemacht hatte, gab mir gleichsam ein neues Leben. Die Natur verschönte sich mir, ob sie mich gleich in meinem Kerker nur von der Seite[212] ansah. Ich hieng am Mond, meinem alten Vertrauten, mit Begeisterung, wenn er über dem Festungsplaz stand, und fühlte das Wehen des kommenden Frühlings durch meine ganze Seele, obgleich mein Körper um diese Zeit am meisten leiden mußte. Mein Herz entfaltete sich, meine Fantasie regte die Flügel, und ich empfand wieder Trieb und Reiz zur Dichtkunst .. So liegt in Kanarienvogel, wie todt im Staube seines Kefichts; man besprizt ihn mit lebendem Wasser; und er regt wieder die Flügel, öffnet die Augen, wagt's auf die Beine zu treten, pikt am Zuker, schlürft mit gehobnem Halse Wasser, hüpft auf die Stange, und versucht einige zitternde Noten, bis nach wenigen Tagen der volle Gesang wieder aus seiner Kehle schmettert. –

Da ich alle meine Verse ohne Feder, Dinte, Bleistift, oder irgend ein Werkzeug zum Schreiben, bloß im Gedächtnis verfertigte; so konnten sie niemals so ausfallen,[213] wie sie nach meinem Ideale von der Dichtkunst hatten seyn sollen. Man kann im Kerker wenig neues schaffen; man kann nur klagen. Jeremias Klaglied, der achtundachtzigste und hundert sieben und dreisigste Psalm, das Gebet Manasse, waren lange die Flöten, nach denen ich meine Töne stimmte, bis mir Gott zeigte, daß man auch im Kerker jauchzen könne. Die Psalmen, worunter so manche auf meinen Zustand paßten, wie der hundert und siebente, hundert und sechsundvierzigste, und viele andere, haben mich den Unterschied eines geistlosen und geistvollen Gebets, eines waßrigen, ungereimt in Reimen tanzenden Liedes, und eines wahren, himmelandringenden Herzensgesangs empfinden gelehrt, und mir Schamröthe ausgeiagt, wenn ich meine kalten, wie zerschmolzenes Eis niedertropfenden Strofen damit verglich .. Wie wenig geistliche Lieder besizen wir noch, die sich durch Kürze, Reinigkeit der Lehre, Geisteskraft und Einsalt empfehlen! Und[214] wie wenig scheint unsre nordische, abgezogene, in Exklamationen, oder kalten Sentenzen, in den Schellen des Reims daher faselnde, jedes kühne orientalische Bild mordende Denkart, sich mit dem Palmen- und Hymnenflug Davids und Assaphs zu vertragen!! Auch hier möchte man sagen: »Die Herrlichkeit Gottes kommt von Paran!« – Kein Wunder, daß die orientalischen Völker die Europäischen mit dem Unnahmen der Schneemänner belegen, die entweder gefroren bleiben, oder, wenn sie aufthauen, in schäumendem trübem Schneewasser zerfließen. Daher prallen die Töne unsrer meisten geistlichen Dichter so schlaff am Herzen ab, weil sie nicht, wie die göttlichen Profeten, unsre inwendige Stimmung und Verhältnisse zu treffen wissen. »Man stimmt sich selbst, (sagt ein herrlicher Mann, –) aus der heiligen Schrift, und aus der Welt, nach gewissen angenommenen Akkorden und Verhältnissen, ein Klavizembel von Aumutigkeiten zusammen, die[215] aber gar seichte Eindrüke machen, weil die Ewigkeit, die Gott in der Menschen Herz gelegt, nicht, wie in Davids Psalmen, Grundtext dabei ist, sondern meist als Nebensache kalt und todt behandelt wird!« Welche strenge, anhaltende Diät gehört dazu, wenn ein so ganz verdorbner Geschwak gebessert werden soll! –

Ich kann sagen, daß ich die mit jedem Tage zunehmende Liebe zu seinem Worte für eine der allergrösten Gnaden Gottes, und zugleich für ein Merkmal halte, daß ich unter den Geretteten bin. Ein Christ, zumal unter der Presse eines solchen daurenden Leidens, wie das meinige ist, findet in der Bibel weit mehr Schönheit, Hoheit, Kraft, Geist und Leben, als ihm Glassius, Lowth, Michaelis, Mendelsohn, Tobler, Oetinger, Lavater, Schulz, und andere Schriftforscher und Schriftführer er anpreisen konnten. Sobald ich einmal den Blik hatte, mit dem man die[216] ganze Schrift fassen soll; so fand ich unzähliche Schönheiten, Wahrheiten, Höhen und Tiefen, selbst an solchen Stellen, die ich ehmals für jüdischen Galimathias hielt .. Mir war es z.B. sonst sehr anstößig, daß Männer, vom Geist Gottes getrieben, die Verfasser des Neuen Testaments, schlechter schreiben sollten, als unerleuchtete Heiden. Aber ich sah bald tiefe Weisheit in diesem Wege Gottes. Wenn Homer, Ossian, Xenophon, Plato, Tacitus, Shakespear, Milton, Klopstok, Baco, Neuton, Leibniz, Herder, die zwölf Apostel gewesen wären, und die Thaten des Erlösers und seine Lehrsäze in Poesie und Prose verbreitet hätten; würde man nicht die Ausbreitung dieser Lehre mehr der Gewalt des Genies, als ihrer innern Kraft zugeschrieben haben? Paulus hat dieß in seinem ersten Brief an die Korinther so stattlich dargethan, als hätt' er im Geiste blos auf unsre Zeiten gesehen .. Doch in der Schrift ist für die Bedürfnisse[217] aller Zeiten gesorgt. Unzähliche Wahrheiten liegen darinn eingewikelt, die erst ἐν ἰδιοις καιροις (zu ihren eig'nen Zeiten) aufgerollt werden sollen. –

Und hat nicht Gott im alten Testament durch die grösten Genies mit den Menschen gesprochen? – Wer kömmt einem Moses, David, Salomo, Jesaias, Daniel bei? Aber eben weil dieß unter den Juden so wenig Früchte brachte; und eben weil die Heiden bei all ihren Meisterstüken des Genies immer ruchloser wurden; so gefiel es Gott, durch einfältige Predigt die Menschen selig zu machen. Zu dieser Absicht wählte er unstudierte, meist genielose, unansehnliche Leute, oft aus dem untersten Pöbel gegriffen; ließ sie die einfältigste, nach menschlicher Grammatik und Rhetorik fehlerhafteste Sprache reden, drängte aber seine eigene Gottesideen in diese Sprache, und wirkte aus ihr bis auf unsre Zeiten mit unwiderstehlicher, allmächtig durchschneidender[218] Kraft fort .. So, aber im weit kleinern Verhältniß, ist noch jezt der Christ im schlechten Gewande, das seine Herrlichkeit verhüllt, die Bewunderung des Himmels. Eben diesen Weg scheint Gott durch den ganzen neutestamentlichen Zeitpunkt gewählt zu haben. Kempis, Arnd, Tauler, Spener, Frank, Steinhofer, Statius. Lichtscheid, wovon kein einziger auf Genie6 Anspruch machen kann, haben doch größere Thaten gethan, das heißt, mehr Untertanen für das Reich Christus geworben, als Manner vom weitgreifendsten Genie. – Diese Betrachtungen, deren Wahrheit mein Herz fühlte, machten mir das neue Testament so angenehm, so heilig, so unaussprechlich theuer, daß ich oft auf den Knien darin las, über die gelesnen Stellen betete, und nicht selten unter'm Gebet Aufschlüsse bekam, die nur Wirkungen des Geistes Gottes seyn konnten.[219]

Wie unverantwortlich ist es, daß man nicht größern Fleis anwendet, dem Volke die Bibel – ließ Lagerbuch der Welt, verständlich zu machen? Aus einem kindischen Aberglauben läßt man in Luthers, sonst so einziger Uebersezung, die unverzeihlichsten, allen Schriftsinn entstellenden Fehler stehen, die doch dieser große Mann, wenn er noch lebte, schon lange weggestrichen haben würde. Michaelis dreht und modelt das alte Testament nach seinem Kopf, um das Wunderbare natürlicher zu machen; Grynäus giest unaufhörlich Wasser ins heilige Feuer, damit es die blinzenden Augen der heutigen gebrechlichen Lesewelt nicht zu sehr angreifen möge; – ein anderer lähmt die Nerven der Geistessprache, um, wie er glaubt, so gewissenhaft als möglich, das Urbild mit allen Artikeln, Präfixen, Konjunktionen, Beugungen und Zeitbestimmungen herüberzutragen; ohne zu bedenken, wie viel Geist unter solchen bedächtlichen, ängstlichen, mit wankendem Stabe abgemessenen[220] Schritten verfliege. Man hat den Hartnak ausgelacht, der auf diese Art einige klassische Schriftsteller übersezte; ein biblischer Uebersezer von dieser knechtischen Art verdient zwar mehr Ehrerbietung, aber doch auch zugleich eine Verweis, daß er aus Ekel gegen die Schöngeisterei seine Muttersprache so sehr verwahrlost, und sich dadurch untüchtig macht, die starken orientalischen Bilder in deutscher Tracht darzustellen. – Wann wird der große deutsche Bibelübersezer erscheinen, dessen Geist, wie im Orient ausgereift, und von Gott gesalbt, mächtig in deutscher Zunge, so mit uns spricht, wie Jehova aus dem heiligen Dunkel des Sinai, und aus dem Urim und Thumim, und aus stillem Säuseln mit den Schauern seiner Geheimnisse geredet haben würde, wenn er unsre Sprache gesprochen hätte!! –

Aber, was nüzt dich das Studium deines Gesezbuches, dacht' ich, wenn du nicht darnach lebst? Daher sucht' ich mir den Geist[221] der heiligen Schrift durch Ausübung ihrer Gebote immer tiefer einzuprägen und die schreklichen Versäumnisse meiner Jugend soviel möglich einzubringen. Die Strenge der christlichen Moral machte mir viel zu schaffen, sonderlich hielt ich die Lehre von der Verleugnung, Nachfolge Jesu, Aufopferung unsers ganzen Selbsts, täglichen Ertödtung des Fleisches, mit einem Wort den ganzen Kreuzesweg für übertrieben und der Natur des Menschen, so wie sie jezt ist, ganz und gar nicht angemessen.7 Aber Vergleichungen, Nachdenken und Gebet nahmen mir nach und nach alle Bedenklichkeiten. Was, sagt' ich oft im einsamen Monolog zu mir selber, was legten nicht die heidnischen Weltweisen, ein Pythagoras,[222] Zeno, Plato, selbst Epikur, Ammonius, Saccas, und die heutigen Braminen und Bonzen in Asien ihren Schülern für Verpflichtungen auf! – Wie strenge sind nicht unsre heutigen philosophischen Moralisten, die meistens mehr fordern, als Christus! Und was heischt die Welt selbst von uns, oft für einen karglichen Unterhalt! – Der Soldat schwimmt nach Amerika, läßt Braut, Weib, Kinder, Vaterland zurük, und beut um wenige Kreuzer Taggehalt der Axt des Wilden seinen Schädel hin. Niemand erwirbt etwas ohne Verleugnung; und Christus sollte nicht fordern dürfen, für die unvergängliche Herrlichkeit seines Reichs den vergänglichen Gütern des Lebens zu entsagen? – Du sollst Weib und Kinder verlassen um deines Erlösers willen; mußt du sie denn nicht auch im Tode verlassen? – Du sollst dein Fleisch tödten; aber damit der Geist lebe, und dem Fleische Unverweslichkeit und Verklarung mittheile. Du sollst Christo nachfolgen –[223] durch manchen sauren Gang, mit manchem bittern Schmerzgefühl; aber nicht nur bis auf den blutbeträuften Todeshügel, – auch sein Weg in Himmel, ins ewige, unaussprechliche Gottesleben ist dein Weg. Christus Kuren sind kein Flikwerk, nicht palliativ; sie rotten das Uebel sammt der Wurzel aus. Daher ist nicht nur der Mord, sondern schon der erste Funken des Mordsinnes; nicht nur der Ehebruch, sondern schon jeder wollüstige Blik; nicht nur der falsche Eid, sondern jede falsche Betheurung; nicht nur die grobe Lüge, sondern schon die Schminke der Wahrheit; nicht nur die Zote sondern selbst der feinere Schwank – in Gottes Gericht verdammlich. Jeder Gesezgeber muß die Natur und die Bestimmung seines Volks kennen, wenn er wahre, wohlthatige Geseze geben will. Da nun Christus mich tausendmal besser kennt, als ich mich selbst; da er den Kreis meiner Bestimmung bereits aufs genaueste ausgemessen hat; so muß er auch am besten wissen, durch welche[224] Geseze er mich darauf vorbereiten soll. Wer die künftige Welt nicht zu dieser nimmt, wer die ganze Schriftmoral blos auf dieses Leben einschränken will: dem ist die Bibel Unsinn; er lasse sie liegen um Gottes willen, und gebe dem Volk Basedows Sittenlehre für alle Stände in die Hand! –

Gott könnte blindlings Gehorsam von uns fodern; aber er will seine vernünftigen Geschöpfe nicht als Sklaven behandeln; deswegen entdekt er ihnen den Grund seines Verfahrens, so bald sie nur nachdenken wollen. »Du sollst dich reinigen damit du zum Umgang Gottes, wozu ein tiefes Verlangen in unsrer Seele liegt, geschikt werdest – oder du sollst dich ausleeren, damit Gott in dich eindringen könne« – ist die Spindel, um die sich die ganze christliche Sittenlehre dreht. Wer alles entbehren gelernt hat, verdient alle zu besizen. O wie[225] wohl wird die abgeschiedne Seele ruhen, die allen Erdstaub von sich geschüttelt hat! und wie rastlos hingegen wird diejenige Seele in den öden lichtlosen Haiden des Todes herumirren, die mit jeder Begierde an Dingen hängt, so sie auf ewig verloren hat. – Ha, sei mir willkommen, Gedanke, vom Absterben der Welt, und aller irdischen Dinge! In dir find' ich nun wahre, volle, erquikende Ruhe! Alles was gut, edel, schön, Gott ähnlich ist, werd' ich doch wieder finden; das Uebrige verdient die Zähre des Christen nicht!

Wenn ich so in den einsamen Stunden meiner Gefangenschaft der heutigen Jüdischheidnischen Christenheit nachdachte; so entstürzte mir manche glühende Träne. Man rühmt die Tugend und scheint sie wohl leiden zu können, nur an Christus und seinen Gliedern nicht. Man preist die Enthaltsamkeit und Mäsigung des Demokritus, Aristides, Cimon, Curius, und nennt[226] eben diese Tugenden Uebertreibung – so bald sie ein Christ besizt. Man rühmt den Tod für's Vaterland an den Beispielen, eines Kodrus, Curtius, Leonidas, Epaminondas, die heroische Tugend eines Regulus, Virginius, einer Lukretie, Arria, und andrer Heiden und Heidinnen; aber mit den Märtirern für das Reich Jesu sterben, heißt fanatischer Unsinn ... Welcher Geist der Parteilichkeit! der laut von innerer Feindschaft gegen Gott und seinen Sohn aufzuzeugen, und zugleich ein dunkles Vorgefühl zu seyn scheint, daß eben dieser verachtete Jesus einst unser Richter seyn werde; denn der Lasterhafte haßt den, der seine Laster zu bestrafen Gewalt hat. Je mehr ich die Sittenlehre Christus studierte, desto treflicher, und selbst desto billiger fand ich sie. Christus verbot die ehlichen Freuden nicht, aber Hurerei und Ehebruch verbot er. Er verbot das freundschaftliche Mahl, und den herzerfreuende Wein nicht, denn er bediente sich hierinn[227] selbst aller anständigen Freiheit; aber Schwelgerei und Besoffenheit verbot er. Jede Freude der Natur, jedes Wonnegefühl der Freundschaft und Bruderliebe, jeder süße Anblik der knospenden Menschheit im Antliz der rosichten Jugend, jedes Vergnügen des Verstandes und der schaffenden Einbildungskraft, jede heitere Erfindung oder Ausbildung des Wizes, jede Ruhe nach den Geschaften des Lebens – wird durch sein Beispiel gebilligt und empfohlen; nur Ausschweifungen, die selbst nach den Zeugnissen der Aerzte und Weltweisen, Leib und Seele zerstören, misbilligt er, verbietet er, verdammt er. War' er vom Himmel gesandt, wenn er dieß nicht thäte? Liebe deine Feinde! Auch die dich einkerkern! die dich morden! Ein fürchterlich hartes Gebot! Aber verlangst du dieß nicht auch von Gott, dessen Feind du warst? Und ist es dir nicht genug, daß dieser Gott dich rachen will? Sollt' ichs meinem Feinde misgonnen, wenn er sich bekehrt? Sollt' ich nicht den bildenden[228] Finger Gottes an ihm verehren? So dacht' ich, wenn heimlicher Groll gegen meine Verfolger in mir aufloderte, und fand, wenn sich diese Nachtwolke wieder zertheilte, daß mir Gott durch meine Feinde größre Wohlthaten zufliessen ließ, als durch meine Freunde. Ich kann nun herzlich für jene beten, weil ich überzeugt bin, daß sie noch meine besten Freunde werden. –

Nichts fiel mir schwerer zu bekämpfen, als die Liebe zum weiblichen Geschlecht. Da ich von Jugend auf dieser Neigung, die man ohnehin nur für eine süße Schwachheit hält, nicht widerstand, so wurde sie mir bald zur zweiten Natur, so daß ich glaubte, ohne Zerstörung meines Wesens würd' ich diesen Hang nicht ausrotten können. Ich sah nun zuweilen wieder Weibergesichter, und empfand es, wie die Lust aufwallte und mein Herz preßte. Aber durch lange Entsagung ist auch diese starke, unüberwindlich scheinende Neigung zu bekämpfen, in ihre[229] Schranken zurükzuweisen, – nur nicht ganz auszurotten. – Wälz dich, wie der heilige Benedikt, auf Nesseln und Dornen; iß Wurzeln, und trink Pfüzenwasser; es kommen doch Stunden, wo sich Mädchengestalten in deine Fantasie stehlen, und es dich fühlen lehren, daß Naturtriebe unmöglich auszuwurzeln sind. Das Gebet, oder ein ernstes anhaltendes Geschäft ist noch das einzige Mittel dagegen, und ich muß es zum Preis Gottes gestehen, daß mir sonst so unkeuschen Menschen die strengste Keuschheit von Tag zu Tage leichter wird. Die Allgegenwart des reinsten Wesens, das Donnerwort: »Draußen sind die Hunde!« und die Betrachtung, daß der Unterschied der Geschlechter dort aufhören8 wird; wirken noch immer tief auf mich


– »wenn die Lust, wie Schwefeldämpfe,

wolkicht aus dem Herzen steigt,«[230]


Inzwischen liegt doch noch eine so herzliche Liebe zum sanften weiblichen Karakter, der so viel Unschuld, Zärtlichkeit, Demut, Geduld, Leichtigkeit im Denken und Sprechen, Naivetät, Herzenswärme, Weichheit und Schönheit ausstralt – in meiner Seele, die ich ewig nicht bestreiten kann – und vielleicht auch nicht soll. Wohl dem, der auch diese Schwäche besiegt, und Mädchenreiz, wie alle vergängliche Reize, unter seinen Füßen hat! Ein Jüngling, der seine Unschuld bewahrt, ist für den Himmel ein schönerer Anblik, als Alexander am Granikus, oder Cäsar auf den pharsalischen Gefilden. – O Wollust, wie hast du mein Herz verschlammt, meinen Verstand gelähmt, meine Fantasie vergiftet, meinen Körper zerstört, meine Seele abgespannt! Unersezlich für diese Welt ist der Verlust, den mir deine tyrannische Herrschaft zuzog! – Licht der künftigen Welt, wirst du diese Narben ausheilen??[231]

5

ἡ σροσκλαυσις – das Weinen – ἡ ακροασις, das Zuhören und Lesen des Worts, ἡ ὑποπτωσις, das Niederwerfen, συςασις die Vereinigung mit den Glaubigen, ἡ μεδεξις των ἁγιασματων, Genuß der Sakramente – waren diese Stufen und sinds noch, so weit unsre heutige Kirchenzucht davon abgewichen ist.

6

Das weiß der liebe Gott!

d.H.

7

Man ist heutzutage allgemein übereingekommen, daß dieß gar der Sinn der christlichen Moral nicht sey; daß diese unendlich sorgfältiger auf unsre Natur berechnet war – und daß jene Ertödtungen und Kreuzigungen die Erfindung unwissender und lichtscheuer Pfaffen waren.

d.H.

8

Da sey Gott für! »Möcht' nicht in Himmel kommen,« sagte der große Albrecht Dürer, »wenn keine Weiber drin wären!«

d.H.

Quelle:
Schubart, Christian Friedrich Daniel: Schubart’s Leben und Gesinnungen. Zweiter Theil, Stuttgart 1793, S. 201-232.
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