An Gott

[232] Gott, wenn ich dich als Weltenschöpfer denke,

Am Meere steh', das deiner Faust entrann,

Und staunend mich hinuntersenke

In diesen Ocean;


Dann fühl' ich tief der engen Menschheit Schranken,

Wirst du mein Geist in Strudeln untergehn?

Wird die zertrümmerten Gedanken

Dein Sturmwind, Gott, verwehn?


Denk' ich die Myriaden Geister alle,

Die deine Hand aus Duft und Feuer hob,

Und hör', wie großer Donner Halle

Aus ihrem Mund dein Lob;


Und seh' die Sonnenmassen, die, wie Funken,

Auf dein Gebot in fürchterlicher Pracht

Des Lichtthrons letzter Stuf' entsunken,

Zu leuchten unsrer Nacht;


Seh' zittern auf dem Meere Regenbogen,

Und deinen Mond in stiller Majestät,

Wie er auf den bezähmten Wogen

Ein Feuerpfeiler steht;


Und seh' dich wandeln mit dem Eichenwipfel,

Und segentriefend schreiten auf der Au',

Und leuchten auf der Berge Gipfel

Und schimmern in dem Thau;


Denk' deiner Bildungen zahllose Heere

In tausendfach veränderter Gestalt,

Die Ungeheuer in dem Meere,

Die Bestien im Wald;[232]


Und seh' des Wetters schwarze Wolkenhülle,

Und hör' die Stürme, heulend aus der Kluft;

Und hör' des Donners Schreckgebrülle,

Der laut: Jehovah! ruft;


Und denk' die feuerathmenden Vesuve,

Fühl' Erdenschau'r, von schneller Angst gepreßt,

Hör' kriegerischer Rosse Hufe,

Und seh' den Flug der Pest;


Seh', wie dein Arm hinwegwirft leichtre Ruthen,

Und grimmiger nach unserm Erdball greift,

Ihn schüttelt, bis in schwarzen Fluthen

Die Sünderwelt ersäuft;


Und denk' ich dich des letzten Tages Richter,

Der Frevler all im Sturm zusammentreibt,

Ausbläst des hohen Himmels Lichter,

Und unsern Ball zerreibt;


Dann die Empörer mit der hohen Rechte

Hinunterschleudert in der Höllen Gluth,

Daß durch entsetzenvolle Nächte

Sie brüllen ihre Wuth:


Dann sink' ich in die tiefste Tiefe, bebe

Durch alle Glieder, Schrecken packt den Geist;

Es tobt mein Herz, daß das Gewebe

Der Adern schier zerreißt.


Ich Staubgemächt, ich Wurm, bestimmt zum Grabe,

Mit diesen Theilchen Himmelsluft in mir,

Der ich so viel gesündigt habe,

Was bin ich, Gott, vor dir?


Vor dir, vor dir, du Schrecklicher, du Großer,

Du ewig Unerreichbarer von mir,

Jehovah! Schöpfer! Namenloser!

Was bin ich Wurm vor dir?[233]


Doch, hör' ich den, den alle Welten kennen,

Hör' deinen Sohn den Brüdern sagen: Wißt!

Ihr sollt den euren Vater nennen,

Der euer Schöpfer ist;


Seh' diesen Sohn, der Menschheit an der Spitze,

Wie er hinabstirbt seinen großen Tod,

Wo er für uns sein Haupt dem Blitze

Des Sündenrächers bot:


Dann zittr' ich auf vor Wonn' aus meinem Staube,

Blick' hin zu Gott mit heiterm Angesicht,

Und hör' es, wie in mir der Glaube

Sein Abba, Abba! spricht.


O! dessen Arme väterlich umfassen

Den Staub, den er aus Nächten kommen hieß,

Mich, Vater solltest du verlassen,

Den alle Welt verließ?


Sollst mich nicht sehen auf dem Kerkerboden?

Nicht sehn die graue Thrän' im Staub?

Wegwerfen mich, wie einen Todten,

Der Geierwuth zum Raub?


Das thust du nicht, erbarmungsvolles Wesen!

So lang dein Geist in meinem Herzen spricht:

Wenn Mütter ihres Sohns vergäßen,

Vergeß' ich deiner nicht.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 232-234.
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