Glosse

Am 10ten Januar 1816

[111] Motto.


Ach wer bringt nur Eine Stunde

Jener holden Zeit zurück!

Einsam nähr' ich meine Wunde,

Und mit stets erneuter Klage

Traur' ich um's verlorne Glück!

Ach wer bringt die schönen Tage,

Jene holde Zeit zurück!

Göthe.


Süßer Traum, der mich umfangen,

Frisches Leben, lichter May,

Neues Ahnen und Verlangen,

Ach, wie gingt ihr schnell vorbey!

Mit dem Lenz sah ich euch blühen,

Mit dem Lenz seyd ihr entflogen;

Nur die Trauer giebt mir Kunde

Von dem früh verwelkten Glück.

Stunden habt ihr mir verliehen

Und um's Leben mich betrogen!

Ach, wer bringt nur Eine Stunde

Jener holden Zeit zurück!
[112]

Mag es duften jetzt und grünen,

Mag's erstarren um mich her;

Was mir hold und trüb' erschienen,

Freut und schmerzt mich jetzt nicht mehr.

Nur in uns ist alles Leben!

Mit dem Schönen nur im Bunde,

Schwinden rasch die dunkeln Tage,

Weilt der lichte Augenblick.

Schmerz kann Schmerz nur sehn und geben;

Einsam nähr' ich meine Wunde,

Und mit stets erneuter Klage

Traur' ich um's verlohrne Glück.


Wechselt doch in bunter Reihe

Stets beweglich Bild und Bild;

Nur die Liebe weilt, die Treue,

Nur der Schmerz wird nie gestillt.

Muß doch Alles wiederkommen,

Lieblich, wie es einst entflogen;

Doch, ein Schattenbild der Klage,

Kehrt allein das todte Glück.

Duft und Blüthen sind verschwommen,

Und die Vögel fortgezogen –

Ach, wer bringt die schönen Tage,

Jene holde Zeit zurück?

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 3, Leipzig 1819–1820, S. 111-113.
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