Am 29sten Junius 1813

[6] Dort wo der Fels, ein Sohn der grauen Zeit,

Sich kühn erhebt im dunkeln Fichtenkranze

Und trotzig wild zum Strome niederdräut,

Ein ernstes Bild im heitern Wellenglanze;


Dort saß, umwölbt von säuselndem Gesträuch,

Umflüstert von der Lüfte lindem Leben,

An blühndem Reiz der frischen Blume gleich,

Sie, der mein Herz sich ewig hingegeben.


Wie konntest du der rauhen Klippenbahn,

Du holdes Bild, den zarten Fuß vertrauen?

Wie durftest du dem schroffen Rande nahn

Und kühn hinab zum grausen Abgrund schauen?


So sah ich dort um ragendes Gestein

Leicht angeschmiegt sich duft'ge Rosen winden,

Um näher sich am Sonnenstrahl zu freun

Und Reiz und Kraft jungfräulich zu verbinden.
[7]

Dein Zauber schuf zum üppigen Gefild

Das starre Graun der unwirthbaren Oede;

Zur Dichtung ward der Ferne reiches Bild,

Belebt erhielt das Stumme Sinn und Rede.


In jedem Schmuck der unbegränzten Flur,

In Wies' und Thal, im Grün der heitern Höhen

Wähnt' ich das Bild von meiner Liebe nur,

Der stillen Sehnsucht dämmernd Bild zu sehen.


Da trübte sich von leisem Weh mein Blick:

Doch heilig schwamm mir keusche Ruh im Herzen;

Wohl lohnt mir Liebe nie mit blüh'ndem Glück:

Doch beut sie mild mir ihre reinsten Schmerzen.

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 3, Leipzig 1819–1820, S. 6-8.
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