Am 30sten December 1815

[107] Romanze.


Wo die Minne herrscht in dem holden Gebiet,

Die schönste der Königinnen,

Wo nimmer das singende Vöglein flieht,

Wo ewig der duftende Frühling blüht,

Und die Bächlein nimmer verrinnen:

Dort wohnt' ich im hellen, lustigen Hain

Und diente der Stolzen mit langer Pein

Jahr aus, Jahr ein,

Und konnte sie nimmer gewinnen.


Da wand ich erzürnt von der Kette mich los

Und dachte sie ewig zu meiden.

Und ich barg mich tief in des Waldes Schooß

Und warf mich seufzend in's duftige Moos

Und rief im heimlichen Leiden:

O Hain, wie spielet das Vöglein hier

So still und friedlich im grünen Revier!

Sprich, wird auch mir

Dein Schatten wohl Ruhe bescheiden?
[108]

Und säuselnd bebte der weite Hain

Und sprach mit kühligem Wehen:

Tief hüll' ich in dämm'rige Lauben dich ein;

Nicht sollst du mir ferner in zögernder Pein

Vor dem Blicke der Strengen vergehen. –

O Hain, du tröstest mit schlimmem Rath;

Leicht findet ihr Bild durch die Nacht den Pfad.

Wer ihr genaht,

Muß immer und immer sie sehen!


Und ich klomm in dem finsteren Wald empor,

Wo wilder die Berge sich heben;

Da brauste mit Macht aus dem Felsenthor

Lautwogend ein sprudelnder Strom hervor,

Der sollte die Kunde mir geben:

O Strom, du rauschest so wild vorbey

Und trägst vor Klippen und Sturm nicht Scheu;

Gern zög' ich frey

Und muthig, wie du, durch das Leben!


Und aufwärts schallt' es mit dumpfem Gebraus,

Wie die Wellen sich heben und senken:

Weit roll' ich in's nebliche Meer hinaus;

Wo das Schweigen wohnt in dem kühlen Haus,

Soll nichts dich erfreun und dich kränken. –

O Strom, nicht lockst du mich niederwärts,

Denn hab' ich im Leben auch Noth und Schmerz,

Stets will mein Herz

An die minnige Freundin gedenken!
[109]

Und als sich in Nacht das Gebirge gehüllt,

Da tobte der Sturm in den Eichen,

Und er schwang durch den Himmel sich rasch und wild,

Und flüchtig begann manch Wolkengebild,

Vor dem Monde vorüberzustreichen.

Und ich rief empor in die sausende Jagd:

O Sturm, du spielest mit Licht und Nacht;

Wohl hast du Macht,

Mir vom Herzen die Wolken zu scheuchen!


Da ließen aus kämpfendem Windesgestöhn

Dumpfschallend die Worte sich hören:

Ich will dich betäuben mit lustigem Wehn,

Will mächtig dich tragen durch Thal und Höhn

Zu fernen Ländern und Meeren. –

O Sturm, schon hab' ich ja Leides genug;

Was frommt es noch, hastig auf wechselndem Flug

Durch wüsten Trug

Mir das sinnige Herz zu bethören?


Und sieh, da lachte der Morgenschein

An der Felsen umnachteten Zinnen,

Und ich sah tief unten den lustigen Hain,

Wo ich diente der Stolzen mit langer Pein

Und konnte sie nimmer gewinnen.

Dort war es so fröhlich von Klang und Glanz,

Und es schwebte so lieblich ein festlicher Kranz

Im bunten Tanz

Und die Königin mitten darinnen.
[110]

Da schwand in dem Herzen mir Will' und Wahl,

Mich ergriff ein gewaltiges Sehnen,

Und ich dachte nicht ferner an meine Qual

Und zog von neuem ins lustige Thal,

Zu dienen der Stolzen und Schönen.

O Minne, wie ward dir die Macht zu Theil!

Wen tief verletzte dein goldener Pfeil,

Der hat kein Heil

Als in deinen Schmerzen und Thränen!

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 3, Leipzig 1819–1820, S. 107-111.
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