Am 16ten Januar 1814

[53] Jüngst berief ich meine Lieder,

Und sie flatterten herbey,

Schwebten singend auf und nieder,

Spielten, flogen hin und wieder,

Wie der Bienenschwarm im May.

Und ich sagte: Fliegt und nistet,

Singt und tändelt, wo's euch lüstet,

Lieder, geht, ich geb' euch frey.


Lange hab' ich euch gehalten,

Meine Liebste zu erfreun;

Doch ihr werdet von der Kalten

Nimmermehr den Dank erhalten,

Nimmer frey und fröhlich seyn.

Nun so flieht und flattert weiter;

Ewig hell und ewig heiter

Ist der duft'ge Musenhain.
[54]

Doch sie schienen still zu klagen,

Fühlten weder Lust noch Dank,

Und vor Wehmuth und vor Zagen

Konnte keins ein Wörtchen sagen,

Jedes seufzte leis' und bang.

Und sie neigten ihr Gefieder,

Senkten still das Köpfchen nieder,

Ohne Sang und ohne Klang.


Und nur eines spannte dreister

Bittend seine Flügel aus:

Laß doch, sang es, lieber Meister,

Nicht die armen kleinen Geister

Irren ohne Pfleg' und Haus!

Treib' uns doch von unsern Rosen

Nimmer in den blätterlosen,

In den wilden Hain hinaus!


Kannst du Schönes wohl uns zeigen,

Was die Liebe nicht erzieht?

Ach, wo ihre Lüfte schweigen,

Fällt das Laub von allen Zweigen,

Und der Blumenkelch verblüht.

Traurig stehn die grünen Hallen,

Und es fliehn die Nachtigallen,

Wenn der frische Lenz entflieht.


Schwärmen auch in blüh'nden Hainen

Unsre Brüder groß und klein,

Schöner wird es uns erscheinen,

Bey der Schönen, bey der Reinen,[55]

Bey der Freundlichen zu seyn.

Blickt die Lieb' auch streng und trübe,

Lieb' ist Leben, Leben Liebe,

Und der Freye wohnt allein.


Schwindet nicht der Morgenschimmer,

Schweigt das laue Säuseln nicht?

Ihre Augen leuchten immer,

Gluth und Milde scheiden nimmer

Aus dem keuschen Angesicht.

Mag sie nie den Dank uns geben,

Laß uns spielen, laß uns leben

In dem warmen Sonnenlicht!


Nun so flattert hin und wieder

Um die schöne Zauberin;

Bald versengt ihr, arme Lieder,

Euch das lustige Gefieder,

Und verklungen sinkt ihr hin.

Süßen Tod sollt ihr erwerben;

Für der Liebsten Lust zu sterben,

Ist der freundlichste Gewinn.

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 3, Leipzig 1819–1820, S. 53-56.
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