Lied im Norden

[64] Stehen denn die nord'schen Winde

Und das fremde Baumgesaus

Auch im Bund mit meinem Kinde,

Daß sie sprechen leise, linde,

Südlich ihren Namen aus?
[64]

Weil ich einmal sie verloren,

Wollt' ich hin, wo's von ihr schweigt,

Aber unheraufbeschworen

Klingt der Nam' in meinen Ohren,

Und allwärts ihr Bild sich zeigt.


Wenn ich durch ein Dörflein ziehe,

Abends in dem letzten Schein,

Ruft's wohl hier und da: Sophie!

Wie ich zitt're, wie ich glühe,

Glaube gar, Sie wird es sein!


Aber die dann kömmt gegangen,

Trägt ein fremdes Angesicht,

Blaues Auge, rote Wangen,

Blonder Haare seidnes Prangen, –

Ach du bist die Meine nicht!


Weiter muß ich einsam gehen,

Nach dem dunkeln Lockenhaar,

Ewig mit verlornem Spähen

Nach den stillen Wangen sehen,

Und dem braunen Augenpaar.


Waldesbäume, rauscht ihr wieder?

Nun so sprecht: gedenkt sie mein?

Doch ihr lispelt trübe Lieder,

Beugt die Häupter schüttelnd nieder,

Wie zu einem langen Nein.


Ferne durch die Luft getragen

Rauscht der Ostsee Klang daher;

Diesen Gang noch will ich wagen,

Wenn die Wellen nach mir schlagen,

Werf' ich Lieb' und Schmerz ins Meer.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 64-65.
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