Elsbeth von Calw

[327] »Du hast geliebet meinen Knecht,

Du hast geschändet mein Geschlecht;

Verheimlicht ist die tiefe Wunde,

Er schmachtet in des Kerkers Grunde!«


Und Elsbeth spricht: »Ist er ein Knecht,

So ist sein Sinn doch hoch und echt!

Es focht sein Arm in Ritterschlachten,

O Vater! laß ihn nicht verschmachten!«


»Er schläft mir bald den langen Schlaf,

Und darum eil' ich,« spricht der Graf,

»Dich, eh' es ruchbar wird hier oben,

Dem edeln Nachbar zu verloben.
[327]

Den Schlüssel zu dem Kerkerloch,

Nimm selbst ihn, Elsbeth – nimm ihn doch!

Ich kann ihn andern nicht vertrauen,

Auf keines Dieners Treue bauen.


Du aber schwörst mir, schwache Maid,

Du schwörst bei deiner Seligkeit:

Nicht gönn' ihm Licht, nicht gönn' ihm Labe,

Nicht Flucht zu Roß, nicht Flucht am Stabe.«


Den Schlüssel faßt die Jungfrau bleich,

Als faßte sie das Himmelreich;

Ihr Blick schwingt sich zur Kerkerpforte,

Sie schwört im Taumel alle Worte.


Der Graf getrost besteigt sein Roß,

Sprengt mit den Knappen aus dem Schloß,

Im Staub verwallen ihre Schritte,

Im Thal verhallen ihre Tritte.


Da stand die Jungfrau ganz allein

Im lichten, goldnen Sonnenschein,

Der Himmel öffnet seine Bläue,

Wölbt seinen Arm für Liebestreue.


Hinauf zum hohen Thurm geschwind!

Es faßt ihr Kleid ein frischer Wind,

Er saus't, als wollt' er flüsternd fragen:

Wann darf ich euch von hinnen tragen?


Und vor der Thür' auf Berg und Thal,

Auf eine Welt voll Sonnenstral,

Auf sichre Burgen, feste Mauern

Blickt sie hinab mit Hoffnungsschauern.


Die Arme streckt sie sehnlich aus,

Die Arme senket sie mit Graus;

So steht sie vor des Kerkers Thore,

Und nieder hallt's zu krankem Ohre:


»O Gottfried, heißgeliebter Mann,

Zu dir hinab, hinab ich kann;

Den Schlüssel hab' ich, steige nieder,

Doch nicht mit dir zu kommen wieder.«
[328]

»Hast du den Schlüssel, komm herab,

Bring' Licht und Leben mir in's Grab,

Der Hunger nagt an meinem Schlunde,

Bring' Speis' und Trank dem dürren Munde!«


»Ich darf nicht, mir verbeut's der Eid,

Der Eid bei meiner Seligkeit,

Darf dich nicht speisen, dich nicht tränken,

Darf dir nicht Licht, nicht Freiheit schenken.«


Und wieder seufzt ein stöhnend Wort:

»So fleuch, Geliebte, diesen Ort:

Umsonst nicht sollst du solches Grauen,

Sollst nicht mein sterbend Antlitz schauen!«


Und nieder sie mit Jauchzen spricht:

»Umsonst hab' ich den Schlüssel nicht,

Dein Leben kann ich nicht erwerben,

Doch kann ich bei dir, mit dir sterben!«


Der Schlüssel klirrt, die Pforte springt,

Ein Schimmer in die Tiefe dringt,

Er fällt auf leichenbleiche Wangen,

Und schon hält ihn die Maid umfangen.


Fest um den todeskalten Leib

Schlingt sich das glühend warme Weib,

Sie speiset ihn mit Lebensküssen,

Sie tränket ihn mit Thränenflüssen.


Und mild erquickt entflieht sein Geist,

Und ihres Leibes Band zereißt,

Ihr Herz befreit mit wildem Schlage

An seiner Brust sich von der Plage. –


Und Staub jetzt auf der Straße wallt,

Jetzt Rossestritt vom Wege hallt;

Der Graf ist da mit seinen Knechten,

Schwingt hoch den Brautring in der Rechten.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 327-329.
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