Kopenhagen, den 28. August

[809] Den siebenzehnten fuhr ich aus Stockholm, und den fünfundzwanzigsten fuhr ich über den Sund und hierher. Du siehst also, daß ich weder sehr schnell noch sehr langsam gereist bin. Es ist doch wohl durch Schweden die lieblichste Fahrt, die ich in meinem Leben gemacht habe; wenn auf dem Lande nur ein wenig besser für eine leidliche Küche gesorgt wäre. Ich vermisse sie zwar ohne weitere Unbequemlichkeit, das dürfte aber nicht der Fall mit jedermann sein. Man kann sich freilich leicht einrichten und von Stadt zu Stadt speisen; aber dann ist man wieder wegen der Reise verlegen, wenn man das Land genießen will, welches doch fast immer auf dem Lande besser ist als in der Stadt.

Den ersten Tag wollte ich den Abend in Nyköping[809] sein. Das geschah denn auch; aber ziemlich spät. Ich fuhr nicht früh von Stockholm aus, wurde hie und da aufgehalten, fand den Weg schön, eilte nicht; elf schwedische Meilen sind schon eine gute Entfernung; also kam ich erst gegen Mitternacht an. Alles schlief im Hause, ausgenommen die Schußkerle, die mich sogleich weiterspedieren wollten. Aber ich wollte hier schlafen. Es hatte den Abend stark geregnet, ich war ziemlich naß. Gern wäre ich die Nacht zu Fuße weitergegangen; aber zum Fahren war es mir in den nassen Kleidern bei starkem Winde zu kalt. Zu Fuße konnte ich nun hier nicht gehen, weil ich mir in Stockhohn dreißig Pfund Gelehrsamkeit hatte aufpacken lassen, die ich mit meinem Reisesack zugleich unmöglich tragen konnte. Ich klopfte und lärmte mit meinem Postillion an allen Türen des Hauses; niemand erwachte, wir riefen, niemand hörte; oder niemand wollte hören. Ich nahm also die schwedische Gelehrsamkeit des Herrn Ulrich aus Norköping, richtete sie mit meinem Tornister gehörig zum Kopfkisen ein und legte mich kurz und gut auf die steinerne Flur des Hauses hin, um zu schlafen, denn an Essen war nicht mehr zu denken, ob ich gleich ziemlich hungrig war. Das ging nun auch so gut es ging. Aber in Nyköping ist den siebzehnten August die Nacht doch schon etwas frisch zumal auf der steinernen Flur; und ich war durchregnet, also der kalte Schauer weckte mich. Überdies hatte ich ganz fremde Schlafkameraden in der Nähe, die ein gar sonderbares Tongemisch von sich gaben, so daß ich lange Zeit konjekturierte, was es wohl für Geschöpfe sein könnten. Sowie ich mich rührte schien es ängstlich zu werden und sich in Verteidigungszustand zu setzen. Ich riet hin und her, aut Papageien, Meerschweine und Eichhörnchen. Als es Tag ward und ich die Schlafstelle überschauen konnte,[810] sahe ich denn, daß ein Kater und eine Katze ihr Wesen dort trieben und vermutlich ihre Familie dort hatten. Du mußt mir meine Unwissenheit zugute halten, denn in meine isolierte Haushaltung ist nie ein lebendiges Geschöpf gekommen, und zu den Katzen habe ich besonders sehr wenig Anmutung. Nun machte ich endlich ernstlich Lärm und weckte eine Art von Wirtin, die mir aber sagte, daß ich hier im Hause durchaus nichts haben könne, gegenüber sei ein Traiteur. Ich ging dorthin und pochte auf, war willkommen und ließ mir ein Frühstück geben, um das Abendbrot zu ersetzen. Warum hatte mich nun der Pinsel von Postillion nicht gleich hierher gebracht? Hier wäre ich auf alle Weise sehr gut gewesen und hätte mir das kalte, schlechte Lager bei den Katzen mit dem gelehrten Kopfkissen erspart; denn ich bin jetzt eben nicht mehr in der romantischen Stimmung.

Nachdem ich mich gewärmt und gelabt hatte, setzte ich mich wieder in die Karriole und fuhr die kleine Tagereise herüber nach Norköping, wo ich zwei Tage blieb, weil – mirs gefiel; das heißt, vorzüglich gefiel; denn wenn ich überall hätte bleiben wollen, wo mirs gefiel, wäre ich wohl mit meinem Sommer an Zeit und Börse sehr zu kurz gekommen.

Die Lage von Norköping wird jedermann äußerst schön vorkommen, der nicht von Stockholm kommt. Die Motala, so heißt, glaube ich, der Fluß, der aus dem See herab durch die Stadt fließt, macht durch einige nicht unbeträchtliche Wasserfälle in der Stadt selbst eine sehr angenehme Partie. Unter der Stadt trägt er sogleich dreimastige, ziemlich schwere Schiffe, und der Schiffshau scheint dort an den Werften nicht unbeträchtlich zu sein. Hier ist nach Upsala wieder der erste beträchtliche Strich, den ein Bewohner des platten Landes für eine Ebene gelten lassen kann. Wenn[811] man aber in Schweden von einer Ebene spricht, darf man nicht an die Breiten bei Liegnitz, Lützen oder Chalons denken. Auch hier bei Norköping sind kleine, angenehme Erhöhungen, und in einer Entfernung von einigen Stunden gehen sogleich wieder höhere Berge an. Schon die Erscheinung der Wasserfälle zeigt, daß die Partie nicht ganz eben sein kann. Die Stadt hatte ehemals beträchtliche und einträgliche Messingfabriken, die aber seit einiger Zeit sehr gesunken sind. Das Bad, oder vielmehr der Lustort Himmelsdalund ist ein freundlicher Spaziergang nicht weit von der Stadt, wo der Genügsame mehr findet, als er hofft, an Natur und Lebensgenuß, und wo auch der feinere Schmecker befriedigt wird. Die Gesellschaft ist artig, gebildet und unterrichtet, wie man denn in keinem Lande mehr allgemeine Kultur findet als in Schweden. Herr Ulrich, dem ich seine Gelehrsamkeit von Stockholm ablieferte, nahm mich mit patriarchalischer Herzlichkeit auf und erwies mir alle Freundlichkeit, die ich, von einem Landsmanne er warten konnte. In seiner Gesellschaft machte ich die Bekanntschaft des Herrn Lindahl, eines Mannes, der durch seine Kenntnisse und liberalen Gesinnungen jeder Nation Ehre machen würde. Als Mann von Vermögen und ohne Kinder hat er die ehemaligen Handelsgeschäfte seines Vaters aufgegeben, hat viele Reisen durch mehrere Teile von Europa gemacht und ist auf denselben mit den besten Köpfen in Deutschland und Frankreich persönlich bekannt geworden. Jetzt lebt er nach seiner Neigung dem Vergnügen der Musen, und in seinem Hause, das freundlich und gut eingerichtet ist, findet man literarische Schätze, wie man sie vielleicht nur selten bei einem Privatmanne, am allerwenigsten bei Kaufleuten trifft.

Er hat die besten Bücher über Kunst und Kunstgeschichte[812] und besitzt selbst eine Kupferstichsammlung von Porträts von 20000 Stück. Auch an Geschichte und Philosophie ist er ziemlich reich. Unter seinen seltenen Büchern sind einige, die man vergebens in manchen größeren Sammlungen sucht. Er zeigte uns zwei schön geschriebene Korane; ein gedrucktes und ein geschriebenes Exemplar von dem verrufenen Buche problematischer Existenz de tribus impostoribus. Ich konnte während der kurzen Durchsicht nichts Besonderes darin finden. Auf alle Fälle war es nicht das alte echte vom Kaiser Friedrich dem Zweiten. Bayle hat ebensoviel Ketzerei, weit gründlicher und scharfsinniger. Sodann hatte er noch einen sehr seltenen, konfiszierten, schwedischen Katechismus von einem gewissen Bischof Emporagrius von Strengnäs, welcher den Weibern die Persönlichkeit absprach und sie zu den Mobilien des Mannes zählte. Du kannst denken, daß er abgesetzt und sein Buch verbrannt wurde. Seine übrigen Seltenheiten habe ich vergessen; aber der liberale Sinn des Mannes machte mir viel Vergnügen. Er kannte unser Vaterland und unsere deutsche Literatur besser als mancher deutsche Professor.

Den Store Kellar, oder das große Wirtshaus, bei Herrn Lüdeke, kann ich Dir in jeder Rücksicht empfehlen, wenn Du einmal nach Norköping kommst. Quartier und Kost und Preis ist gut; wenn nur alles so bleibt, welches freilich bei Wirtshäusern nur selten der Fall ist. Nirgends ist Veränderung schneller und merklicher als in Wirtshäusern und Regierungen.

Von Norköping bis Jonköping, über Linköping und Grenna, ist die ganze Fahrt schön und zuweilen höchst romantisch. Die Landeskultur ist überall lachend und musterhaft. Bei Bankeberg konnte ich auf einmal sechs Kirchdörfer übersehen, und bei Oestad[813] waren zwei Kirchen in einer so kleinen Entfernung, daß man mit einer Falkonetkugel von einem Turm zum andern hätte schießen können, welches man in Schweden kaum suchen sollte. Eine vorzüglich schöne, fruchtbare Gegend ist bei Miölby an einem Flusse, der rechts aus den Bergen herabkommt. Alle Gesichter zeigten Zufriedenheit und Frohsinn alles atmete Fleiß und Tätigkeit. Bei Linköping habe ich einige Mädchengesichter gesehen, ich möchte sie fast Gesichte nennen, die Raphael in seiner schönsten Phantasie nicht schöner erblickt und nachgeschaffen hat. Von Kumla aus hatte ich einen Karren erhalten, der an Leichtigkeit und Gebrechlichkeit wohl kaum seinesgleichen hatte. Die Karriole hat bekanntlich nur zwei Räder, und eins davon war hier, und eben auf meiner Seite, kein Kreis, sondern ein Sphäroid. Nun stelle Dir die Fahrt auf den Felsenwegen vor, die halsbrechend immer vorwärts, aufwärts und abwärts ging. Die Bewegung hatte etwas Ähnliches von dem Stampfen einer Ölmühle, bei dem sich meine Rippen fast so schlecht befanden als in der russischen Telege. Ich muß indessen den Schweden die Gerechtigkeit widerfahren lassen, ich habe nur wenig so schlechte Fahrzeuge bekommen. Dafür aber haben die schwedischen Postillione eine Gewohnheit, die ich mir nicht anders als aus ihrem Patriotismus erklären kann. Die Straßen sind nämlich in Schweden sehr gut und meistens ziemlich glatt. Nun kann es doch nicht fehlen daß nicht zuweilen hier und da kleinere oder größere Steine auf dem Wege liegen sollten. Über alle diese Steine scheint nun der schwedische Postillion recht absichtlich zu fahren und dieselben nie zu verfehlen. Vermutlich soll jedes Rad die Stelle eines Rammels versehen, den Stein endlich mit zerstoßen und den Weg glätten helfen. Das ist zwar nicht sehr gut für[814] die Reisenden und ihr Fuhrwerk, aber übrigens wirklich gemeinsinnig genug. Bei uns im lieben Vaterland ist davon in allem gerade das Gegenteil. Denn sobald da eine Chaussee fertig ist, fährt jeder achtzig Zentner schwere Lastwagen sogleich Spur und immer wieder Spur, so daß man eine halbe Stunde rückwärts den Weg schon wieder bessern muß, und was das schlimmste ist, nicht bessern kann. Gegen das Spurfahren hält kein Wegebau. Und wir Deutschen sind, wie in vielen andern Dingen, hier noch so naiv, daß wir kaum daran denken. »Er kann nicht Spur fahren«, sagen die Fuhrleute und Bauernknechte von einem erzdummen Kerl. Wollte doch der Himmel, daß niemand Spur fahren könnte, das würde uns gute Wege machen und erhalten helfen. Jede Arbeit des Spurzuwerfens ist fast so gut als verloren, weil der Boden nie wieder die erste Festigkeit gewinnen kann, weil sie sogleich von neuem, oder an ihrer Seite eine andere ebenso unsinnig eingeschnitten wird. Ich erinnere mich, daß ich einmal einem Menschen bei Lützen etwas darüber sagte, der mit der Schaufel dortstand und die Spur zuwarf. »Häh wärds wuhl bässer wüsse, als där knähdige Kuhrfärst!« sagte mir der dicke Kerl recht ärgerlich. Da hat alle Vernunft ein Ende, was ist dagegen zu sagen? Der Glaube soll selig machen. Wer ihn nur hätte; da könnte man freilich der Vernunft entbehren. Ich kann aber das Gegenteil nicht aus meiner Seele rotten. Ich gab mir geduldig Mühe, dem Menschen so deutlich als möglich zu zeigen, daß das Spurfahren höchst verderblich sei, und er fing an sich die Ohren zu kratzen und gab nun seine Überzeugung ebenso böotisch zu erkennen, als er mir zuerst den Einwurf machte.

Wenn ich es je dahin bringen könnte, daß niemand Spur führe, daß man die hartnäckigen Spurfahrer[815] endlich ins Zuchthaus steckte, so würde ich glauben, ich hätte eine Ehrensäule verdient.

In Schweden habe ich sehr wenige Spur gefunden, aber in Schweden auch gehen freilich nicht so viele und ungeheuere Lastwagen als in der Gegend von Leipzig. Um die Polizeischwere der Wagen bekümmert sich gewöhnlich auch keine Polizei; so wenig, als um die gesetzmäßigen Räderbeschläge.

Wenn man in Schweden ein Stündchen durch wilde Granitschluchten gefahren ist, kommt man oft wider Erwartung wieder in ein kleines, liebliches Paradies Von Osjö und Holkaberg und Grenna bis nach Jonköping herunter hat man rechts den Wennersee in unzähligen, oft romantischen Windungen.

Jeder Mensch hat seine eigenen Heiligentage, Bonaparte wie der Papst; also auch ich. Ehemals war einer meiner großen Heiligentage der fünfundzwanzigste April. Der Ursache liegt bei mir ziemlich tief in der Sakristei der Seele, die ich Dir gelegentlich wohl aufschließen kann. Der Aprilheiligentag ist nun etwas obsolet geworden, vermutlich, weil er – April war; nicht eben durch meine Schuld. Nun überraschte mich ein solcher Tag in Holkaberg. Du kannst zwischen dem fünfundzwanzigsten und siebzehnten aussuchen, welchen Du willst, und wirst in der Mitte wohl nicht sehr irren. Schon der Name Holkaberg hatte mich zur Andacht gestimmt; er klingt so voll und feierlich, vielleicht heißt er gar Heiligenberg. Das Wetter war das freundlichste des nordischen Sommers. Die etwas einsame, schön gruppierte Gegend am See hinauf und herab ist dazu gemacht, eine romantische Stimmung zu schaffen und zu vermehren. Als ich nun durch einen Blick in den Kalender um ein Jahr jünger ward, ward ich vielleicht dadurch nicht um ein Jahr weiser, aber doch einige Grade froher und lebendiger. Es war mir[816] alles wieder Gegenwart, als mich der Bursche so rasch am Strande des Landsees dahinfuhr, wie ich ehemals an diesem Tage Ananas suchte und nicht fand und halb grämlich, halb froh, doch ganz enthusiastisch, späte Hesperidenfrüchte zu einem kleinen Opfer wählte. Man mag doch wohl nur dann menschlich glücklich sein, wenn man sich etwas närrisch vergißt; doch so, daß man von der ernsten Mutterweisheit nicht zu niederschlagend strenge gestraft wird. Der ist doch ein armer Mann, der nichts in seinem Leben hat, das er noch einmal mit Genuß wieder leben kann. Gelbes Fürstenmetall will da nicht helfen.

Ich war aus dem Innersten meiner Seele, ganz allein in Skandinavien, ebenso froh, und vielleicht weit höher und reiner froh, als ob mir zehntausend vergoldete eiserne Söldlinge ein Lebehoch zugejauchzt und zugeklirrt hätten. Ich sang eine Menge Verse, eigene und fremde, und verlor mich mit den Worten: »Heureux celui pour qui ce jour sera la fête la plus chère«, auf einmal in eine stillere Träumerei einer andern Welt, aus der ich mich nur erst durch viele dunkle, unbekannte Übergänge wieder erholte. Ich wandelte unter den Manen der Männer, die mir im Leben viel galten, und denen auch ich nicht ganz unwert zu sein schien, bei Gleim und Herder und Schiller und Weiße. »Auch die Toten sollen leben, und die Hölle soll nicht sein!« brach ich plötzlich laut und stark aus, als ob ein Sturm von innen mich schüttelte; und der Knabe, mein Führer, blickte mich ängstlich an und hielt die Zügel sorgsamer, als ob er sagen wollte: »Ihr seid wohl ein sonderbarer, etwas unreimischer Mann.« Da aber bei mir die Ekstase der höheren Andacht vorbei war, und er mich wieder in Ruhe gesetzt sah, lächelte er ganz zutraulich und trieb seinen Gaul etwas lebendiger nach Grenna.[817]

Das sind meine Schäferstunden, wie Du wohl merkst, und ich würde sie wohl schwerlich für Rosts Schäferstunde hingeben, doch will ich die sechste Bitte weislich als Klausel angehängt haben. Wenigstens sind die meinigen um viele Prozente besser als die Schäferstunden des Herrn Amtmann Riem, dicken und groben Andenkens, der in Halle die Kollegia vergaß und die Nachtigallen totschießen ließ.

In Grenna fand ich zuerst wieder recht schöne Kirschen, in denen mein Appetit ziemlichen Aufwand machte. Sie waren freilich nicht ganz so gut als in Lodi, aber wenn man über den Bottnischen Meerbusen herunter kommt, ist man auch nicht ganz so schwierig, als wenn man den Monat vorher sich an die ganze Naturvergeudung am Ätna gewöhnt hat.

Von Grenna über Raby nach Jonköping ist die Fahrt am Wasser herunter noch sehr schön; besonders sind die Bergpartien rechts zuweilen äußerst malerisch. Bei Jonköping, einer ganz artigen Stadt am Anfang des Wennersees von dieser Seite, schließt sich die angenehme Partie, und nun kommen mehrere Stationen ziemlich wilder, undankbarer Wald. Aber auch hier hat der Fleiß aller Art mehr getan, als die Natur bei dem ersten Anblick zu erlauben scheint. Bei Stockholm hatte man angefangen zu ernten, und ich hatte von Zeit zu Zeit bis Jonköping herab Erntegruppen gesehen, aber von hier an hörten sie auf. In einigen Gegenden zwischen Norköping und Linköping habe ich Kornhalmen von einer Höhe und Stärke gesehen, wovon ich vorher gar keine Vorstellung hatte. Nicht weit von Jonköping zog ich in einem Kornfelde, das noch nicht das beste war, ohne weiteres Suchen einen Stock aus, der zehn gesunde Ähren hatte. Eine elfte, die krank war, warf ich weg, weil sie kaum einige gesunde Körner zu enthalten schien. Die geringste von[818] diesen Ähren hatte sechsundvierzig und die beste achtundfünfzig Körner, und in dem ganzen Stocke zählte ich fünfhundertundvier. Auch habe ich viele einzelne Kornähren von sechsundsechzig Körnern gefunden. Mich deucht, daß dieses alles schon in Thüringen für gut gerechnet werden kann. Doch bin ich zu Hause nicht praktischer Landwirt genug, um gehörig bestimmt darüber zu urteilen.

Banarp, Byarum, Skillingaryd, Kläfshult sind von Jonköping aus lauter ziemlich waldige, unfruchtbare Stationen. Bis Skillingaryd machte ich den Fourierschützen des Doktor Gothilander aus Jonköping, der mich dort einholte. Bärnamo und Tano sind wieder schön; das Letzte an einem ziemlich großen Landsee, aber im ganzen sind doch nun die schöneren Partien zu Ende, bis man über die Berge herüber kommt nach Schonen. Indessen haben selbst die wilden Höhen der kahlen, unfruchtbaren Steinberge zuweilen sehr angenehme kleine Striche, wo Lage und Boden dem hartnäckigen Fleiße nur etwas gönnen wollte. Auf meinem ganzen Zuge durch Schweden habe ich keine solche Wildnis gesehen als von Planina nach Adlersberg, hinter Laibach in Krain.

Solltest Du glauben, es kommt mir fast vor, als ob ich in meinen alten Tagen etwas Anlage zur Empfindsamkeit bekäme. Ich habe in einigen Aktionen gestanden, und es sind vor mir und neben mir mehrere ehrliche Kameraden zur ewigen Ruhe niedergeschossen worden, und es hat sich unter dem linken Knopfloche doch nicht außerordentlich bewegt. Hier sah ich zwischen Markaryd und Fagerhult in der Abendsonne wieder das erste Buchenblatt; und unwillkürlich fiel der alte Kerl daneben auf den Rasen und küßte das Blatt und verhüllte das Gesicht in den Strauch. Ich glaube gar, die Augenwimper fing an, mir[819] zu glühen. Das muß wohl so etwas von den dulcis patriae fumus sein, weswegen es der Lappe in Hamburg nicht aushalten konnte, und der Schweizer beim ausländischen Kuhreigen sogleich läuft, um ihn besser auf den Alpen zu hören. Wenn im Paradiese keine Eichen und Buchen wachsen, so bleibe ich bestimmt in die Länge nicht darin. Fagerhult scheint dem Tone nach schon Buchenholz zu bedeuten, und ich sah sie hier in der Gegend auf einmal in solcher Vollkommenheit und Schönheit, wie man sie kaum im Thüringer Walde oder am Albaner See sehen kann. Der Strich von Schonen, den ich hier auf meiner Fahrt durchzog, ist bei weitem nicht so schön, als man die Provinz im allgemeinen angibt. Sie muß unten an der See hin und nach Malmö und Lund hinüber besser und fruchtbarer sein. Von den Bergen herab gibt es allerdings an einem Flusse, dessen Name mir entfallen ist, mehrere reiche malerische Partien, aber so wie man Helsingborg auf einige Meilen nahekommt, ist die Kultur bei weitem nicht so schön als weiter oben. Die Nässe scheint zwar etwas hinderlich zu sein, aber es kommt mir doch vor, als ob mehr getan werden könnte und sollte.

Der König kam eben mit seinem Gefolge aus dem nahen Bade, als ich in Helsingborg einfuhr, und ein Ordonnanzoffizier befahl in einer großen Entfernung auf der Straße meinem Postillion mit einer solchen Donnerstimme Platz, als ob er wenigstens zwei Bataillone zum Angriff kommandierte. Von allen schwedischen Städten, die ich gesehen habe, hat wohl Helsingborg die wenigsten Annehmlichkeit des Örtlichen, ob es gleich von der Natur noch nicht ganz vernachlässigt ist. Von Festungswerken ist, nach den Verträgen beider Nationen, nicht das geringste auf der schwedischen Seite. Das alte Schloß hat einen Telegraphen,[820] von dem ich nicht weiß, wohin er schreibt, es muß von der Gegend von Malmö hinauf und so weiter an der Küste sein. Acerbi hat, wie er sagt, nur einen einzigen Telegraphen, und zwar in Grißleham, gesehen, es sind ihrer aber an verschiedenen Orten; und schon mehrere auf den Inseln des Bottnischen Meerbusens, um nach Finnland und aus Finnland zu schreiben. Es wäre kein Sinn darin, nur in Grißleham eine solche Maschine zu haben, mit welcher man unmöglich Nachricht an das finnländische Ufer geben kann. Auf der finnischen Seite habe ich freilich keinen gesehen; sie werden aber wahrscheinlich weiter unten am Seeufer stehen.

Für ein Boot über den Sund mußte ich 41/2 Taler Schwedisch bezahlen und hatte wieder das Vergnügen, bei ziemlichem Sturm fünf Stunden über einer Fahrt zuzubringen, die man sonst wohl in einer halben Stunde macht. Neptun scheint mir durchaus nicht hold zu sein. Gleich meine erste Fahrt aus der Nordsee nach Amerika dauerte zweiundzwanzig Wochen. Mir kommt es ziemlich sonderbar vor, daß man noch immer die feste Meinung hat, man könne eine tüchtige Flotte abhalten, die durch den Sund segeln will. Mehrere Beispiele haben schon den Irrtum gezeigt. Mit gehörigem Wind segelt nicht allein Nelson, sondern jeder andere Brite und Bataver mit einem nicht ganz schwachen Geschwader hindurch. Die Breite ist groß genug, und die Kugeln von den dänischen Batterien müssen schon ziemlich schwach wirken; es müßte denn die seichte Tiefe auf der andern Seite die Schiffe nötigen, sehr nahe an Seeland zu halten, welches ich kaum glaube. Einzelne Kauffahrteifahrer können freilich gezwungen werden, zu halten, aber auch mehr durch die Wachschiffe von der Flotte als durch die Batterien vom Lande. Mich deucht, man segelt ebenso leicht[821] durch den Sund, in Rücksicht des Widerstandes vom Lande, als durch den Kanal bei Messina. Doch mögen darüber Seeleute bestimmter urteilen, die den Boden des Wassers besser kennen.

Der Sund auf und ab, zwischen den beiden schönen Ufern, gewährt mit der großen Menge Schiffe aller Nationen und aller Kaliber, die fast beständig dort liegen, dem Auge einen überraschenden, höchst angenehmen Anblick. Helsingoer mit seinem alten festen Schlosse macht sich allerdings besser als das schwedische Helsingborg, aber dafür hat das schwedische Ufer, rechts hinauf nach Gothenburg zu, unendlich mehr malerische Schönheit.

Vom Ufer hierher bis in die Residenz sollen fünf Meilen sein, aber bekanntlich sind die dänischen Meilen ziemlich klein, vorzüglich wenn man aus Schweden kommt; und diese scheinen die kleinsten von den dänischen Meilen zu sein. Der Weg ist gut, nach deutschem Fuße, aber nach dem schwedischen nur eben leidlich. Man hat vielleicht in Europa keinen Strich, der so viel angenehme Verschiedenheit an Kultur gäbe, als von dem Sund hierher. Dörfer und Städtchen sind von einer Nettigkeit, die mit der englischen wetteifern kann. Alles beklagte sich schon von Schonen aus über ungewöhnliche Nässe und Kälte, und es war wirklich auffallend. Bis Jonköping war man in voller Ernte begriffen, und in Schonen und hier hatte man noch nicht daran gedacht. Alles war noch grün, und überall war man deswegen besorgt.

Es war Sonntag und alle öffentlichen Häuser waren voll fröhlicher Gäste, die nach ihren verschiedenen Stimmungen den Feiertag genossen. Überall scholl Musik, und man hörte die Tritte des einstimmenden Tanzes. Auf dem Wege von Helsingoer hierher sind einige ausgezeichnet schöne Buchenwälder, und Du[822] weißt, welchen Genuß mir der vaterländische Baum schafft, ob ich gleich weder Ökonom noch Weidmann bin. Was mich zuerst an die Kapitale erinnerte, war der große dreieckige Platz, von allen Seiten mit Lindenalleen besetzt, auf welchem Struensee seine Unbesonnenheit bezahlte. Denn wer kann bestimmen, wo diese in das Verbrechen übergeht?

Wenn ich auch in meinem Leben nicht wieder nach Schweden komme, so wird mir doch immer eine sehr angenehme wohltätige Erinnerung daran bleiben. Schweden ist wohl im Norden das humanste und freundlichste Land. Bei aller Armut, die nicht zu leugnen und nicht zu verbergen ist, herrscht doch überall eine Ordnung und ein Anschein von Wohlhabenheit, bei der sich alles patriarchalisch wohl befindet. Man trifft in Schweden sehr wenig Menschen, denen man sogleich an der dicken Übersättigung ansieht, daß sie es zum höchsten Zweck ihres Lebens machten, das beste Verdauungssystem praktisch zu studieren. Alles arbeitet verhältnismäßig mehr als anderwärts, vorzüglich in Deutschland und Rußland. Es tut mir leid daß ich nicht mehr von den nördlichen Provinzen und vorzüglich, daß ich nicht Dalekarlien sehen konnte, eine Gegend, auf welche die Schweden in jeder Rücksicht so stolz sind. Ich habe nichts als die gerade Straße von Abesfors nach Helsingborg mit dem kleinen Abstecher nach Upsala gesehen; aber doch wohl einen Strich von hundertundachtzig deutschen Meilen gemacht und kein einziges Fleckchen gefunden, von dem ich hätte sagen müssen: Hier ist es traurig, hier ist es verlassen, hier möchte ich nicht leben. Auf dem ganzen ziemlich langen Zuge habe ich nur einen einzigen Bettler getroffen, und diesen in Stockholm auf der Brücke vor dem Schlosse. Von welchem reichen Lande kann man das nämliche sagen? Bei den Briten,[823] die die Welt kaufen und verkaufen, machen die Bettler fast eine förmliche Gilde.

Die zwei größten Merkwürdigkeiten der Nationalanstrengung in Schweden, Brolhätta und Karlskrone, habe ich leider nicht gesehen. Sie sind aus Küttner und andern Reisenden schon so bekannt, daß Du nichts verlierst, zumal da Beschreibung nicht eben meine Stärke ist. Mir tat es freilich etwas weh, daß ich mich nicht soviel abmüßigen konnte, die beiden Umwege zu machen. Karlskrone hätte ich vielleicht noch besuchen können und hätte noch mehreres gewonnen. Der Weg wäre sodann füglich über Lund gegangen, und ich hätte dabei eine größere Strecke von dem schönen Schonen gesehen.

Eine ökonomische Bemerkung mußt Du mir noch erlauben, die vielleicht für unser Vaterland nicht ganz ohne Nutzen sein kann. Schon Küttner hat bemerkt, daß man in Schweden Maschinen im Felde und auf den Wiesen hat, einer großen aufgestellten Leiter oder Raufe gleich, auf denen man das Getreide oder das Heu trocknet, wenn es nötig ist. Küttner bemerkt es als etwas Eigenes von Schweden; man hat aber ähnliche Vorkehrungen auch in Litauen, Kurland und Liefland, und überhaupt in allen nördlichen Gegenden, wo man dem nassen Wetter nicht traut. Ich habe sie auch in Nordamerika bemerkt, und es sollte mich sehr wundern, wenn man sie nicht auch in Schottland haben sollte. Auch in den Marschgegenden von Niederdeutschland erinnere ich mich, sie gesehen zu haben. Überall, wo man die Nässe fürchtet, sind dergleichen Vorkehrungen ganz natürlich. Könnte und sollte man nun für die Haushaltung nicht einen Schritt weiter gehen und die Sache so einzurichten suchen, daß jeder Landmann vor seinem Hause einen solchen Trockenplatz mit solchen Vorkehrungen hätte, wo man dann[824] jeden Augenblick Sonne zum Trocknen und auch zum Bergen benutzen könnte? Desto besser, wenn es nicht nötig ist, aber es gibt doch viele Ernten, die es nötig machen, wie zum Beispiel eben die jetzige ist. Ehe man weit hinaus in das Feld geht, das Umsetzen besorgt und zum Einfahren Anstalt macht, ändere sich vielleicht das Wetter einige Male, und es kann nichts geschehen. Vor dem Hause kann die ganze Familie in der Nähe arbeiten, und, wenn es nötig ist, die Bergung so schnell als möglich besorgen. Daß dabei viel Arbeit eintritt, ist augenscheinlich, aber was tut man nicht, Frucht und Fütterung zu retten? Ich erinnere mich auch schon, daß gute Wirte in Deutschland es nötigenfalls wirklich so machten.

Das Urbarmachen des Landes durch Rödenschlagen oder Swadjeland, wie man es auch wohl nennt, nämlich durch Niederbrennen des Holzes zur Düngung, ist in Schweden doch nicht mehr so gewöhnlich als in Liefland und Russisch-Finnland. Indessen wird es auch hier noch zuweilen gefunden. Man schlägt das Holz nieder, schafft die Stämme zu besserem ökonomischen Gebrauch fort und verbrennt das übrige zur Düngung. In Russisch-Finnland gibt die Prozedur zuweilen einen furchtbaren Anblick. Ich habe sechs bis acht Menschen, Männer und Weiber, gesehen, die mit großen Stangen durch die kohlschwarze, noch rauchende Gegend selbst geschwärzt und halb verbrannt umhergingen und das Feuer unterhielten, daß es die letzte Materie verzehrte. Gräßlicher kann kaum die Erscheinung eines großen Vulkans oder eines zerstörenden Waldbrandes sein als hier das absichtliche Wirken der Menschen.

Auch in Schweden fängt man an vielen Orten schon an über Holzmangel zu klagen und nach Steinkohlen zu suchen, aber ohne großen Erfolg. Man kann schon[825] jetzt in manchen Gegenden die Bergwerke aus Mangel an Holz nicht gehörig bearbeiten.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962, S. 809-826.
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