Leipzig, den 1. Oktober

[843] Da bin ich nun wieder zu Hause in meiner Klause zu Sankt Thomas. Von Lübeck hierher hätte ich Dir nur sehr wenig zu erzählen, da der Weg und die Merkwürdigkeiten jedem ehrlichen Deutschen bekannt sind, der eine Geographie und ein Zeitungsblatt gelesen hat. Aber ich melde Dir ja meistens nur, was mich angeht, in der Voraussetzung, daß Du Anteil daran nimmst. Also will ich nur ohne Bedenklichkeit fortfahren und vollenden.

Zwischen Hamburg und Lübeck, ungefähr auf der Mitte des Weges, ist ein Gasthaus, wo die meisten[843] Gesellschaften zu speisen pflegen. Das taten wir denn auch, mein Landsmann Schmidt und ich. Es war in der Gaststube schon Gesellschaft von Herren und Damen aus Hamburg, die in mehreren Punkten eine Parallele zwischen Lübeck und Hamburg, natürlich zum Vorteil des Letzteren, zogen. Ich glaubte, wir würden die Ehre haben, zusammen zu sein; das geschah aber nicht. Sie dekampierten in ein besonderes Zimmer, nachdem sie eine Menge gemeine nichtssagende Dinge in leidlich gutem Englisch und leidlich schlechtem Französisch verhandelt hatten. Dawider war nichts zu sagen, jeder tut nach seinem Willen, oder seinen Grillen, und Hamburger Kaufleute sind gar stattliche Gäste, die ihrer Ehre nicht so leicht etwas vergeben. Wir gerieten dadurch freilich in einen sehr subalternen Stand, und der Wirt bewirtete uns, ob wir gleich ebenso stattlich fuhren wie jene, mit einem sehr alten, fleckigen Tischtuche und sehr fleckigen, zerrissenen Servietten und schlecht geputzten Messern und Gabeln; unstreitig dem schlechtesten Apparat, den ich, Polen und Estland bei den Aboriginern ausgenommen, auf der ganzen Reise gehabt hatte. Das Essen war nicht ganz so schlecht als der Apparat, und eine geforderte Flasche Wein lockte dem Aubergisten sogar eine freundliche Miene ins Gesicht. Die Hamburger hatten für sich eine abgesonderte Tafelmusik, schichten uns aber sodann die Musikanten zur Mitbezahlung zu, und ich gab ganz brummig einen dänischen Taler. Das war wohl ziemlich närrisch, und ich hätte es füglich können bleiben lassen. Es kann wenigstens nicht auf meine Galanterie geschrieben werden, denn das Gesicht der sammelnden Virtuosin war kein westfälisches Fettmännchen wert. Das war kein guter Vorgeschmack. Wenn es in Hamburg so fort geht, so hätte Noahs Mittelster sein Tabernakel lieber den Kamtschadalen aufschlagen können.[844] Auch lief ich, nicht sehr zufrieden, eine ganze Stunde voraus und ließ die großen Holsteiner mich einholen. In Wandsbek war ich willens, Herrn Claudius meine Deferenz zu bezeigen; ich hörte aber, daß er sich jetzt ausschließlich mit sehr hohem Mystizismus beschäftigte, so daß er und ich gestört worden wären. Ich ließ ihn also in seiner Frömmigkeit und wandelte in der meinigen weiter.

In Hamburg brachte man mich, allen Kaisern am Rathause gegenüber, in das große Gasthaus, das, glaube ich, Kaisers Hof heißt. Die Einteilung des Hauses kommt mir gerade vor wie das deutsche Reich. Man studiert lange, die eigentliche Einrichtung in den Winkeleien zu finden, und bringt am Ende heraus, daß gar kein Plan darin ist. Dessen ungeachtet befindet man sich bequem genug darin, wenn man es sofort flickt, und möchte es nicht gern ganz eingerissen sehen. Hier wäre ich für Geschäfte im Mittelpunkt gewesen, aber alle meine Geschäfte waren jetzt, das selige Faniente, mit den dazu gehörigen Perquisiten. Ich muß den Hamburgern samt und sonders gewissenhaft ein recht gutes Zeugnis geben, aber leben möchte ich doch nicht in ihrer Herrlichkeit. Die Stadt ist mir zu groß und enge und zu finster, nur wenige Quartiere ausgenommen. Mit einiger Erweiterung kommt sie mir fast vor, wie ein deutsches Venedig, wo man, zumal an den Kanälen, jeden Kubikzoll Raum merkantilisch für schweres Gold ausmißt. Das mag recht gut für die Herren vom Komtoir sein; aber unsereiner muß fürchten, alle Augenblicke mit dem Ellenbogen auf beiden Seiten anzustoßen. Doch wird jetzt hier und da etwas niedergerissen und gelichtet; wenn man den Platz nur nicht wieder zur Dunkelheit verkauft.

Die einzige Promenade der Stadt mit dem artigen[845] Namen ist, wie man mir zeigte, etwas erweitert worden, aber doch immer noch enge genug und kaum so breit als eine Hauptstraße in Petersburg. Die angepflanzten Bäume scheinen nicht sehr aufmerksam besorgt zu werden. Viele davon waren verdorrt, und es sollten sogleich wieder gut sortierte neue an ihre Stelle kommen, damit die andern gesunden nicht zuviel vorwachsen. Der Pavillon in der Mitte mit Erfrischungen gehört einem Fremden und ist eine recht hübsche Anlage.

Die Mahlzeiten der Hamburger sind bekanntlich gut, das habe ich auch gefunden. Indessen tritt der Luxus doch nicht aus den gewöhnlichen Grenzen der Zeit, und man tut es ihnen hier und da noch zuvor. Die Sperrung der Elbe müßte denn etwas von der Wirkung eines katonischen Aufwandsgesetzes gehabt haben; – welches nicht unwahrscheinlich ist. Daß die Leute satt aussehen, daran haben sie ganz recht, weit besser, als wenn sie hungrig blickten, was auch mein Freund Merkel darüber sagen mag. Die Gesichter der Einwohner sind immer ein guter Barometer der Regierung. Übersatt fällt freilich ins Böotische.

Hier traf ich Iffland und sah ihn nicht allein auf der Bühne, sondern konnte auch einige Stündchen mit ihm und bei ihm und bei mir verbringen. Du kennst den Mann als Gesellschafter vielleicht noch nicht. Ein Viertelstündchen im Gespräch mit ihm ist zuweilen, wenn sein Genius im leichten Spiel ist, noch mehr wert als eine seiner schönen Rollen auf der Bühne, und sein Genius ist das sehr oft. Hier sah ich ihn öffentlich nur einen einzigen Abend, in seinem eigenen Amtmann Riem in der Aussteuer. Er trug, wie mir vorkam, gewaltig auf und konnte doch nicht mit den Leuten ins Spiel kommen. Die Leute konnten nicht zu ihm hinauf, und er ebenso wenig zu ihnen herab. Die[846] hiesige Theatergesellschaft habe ich unter aller meiner Erwartung gefunden, und wenn ich nicht ganz gewiß wüßte, daß noch vor kurzem Schröder hier war, so würde ich durchaus nicht glauben, daß noch mehrere darunter seien, die seine Leitung genossen haben. Gefolgt sind sie ihr gewiß nicht. Woher es kommt, weiß ich nicht, aber das Theater ist schlecht, äußerst schlecht für Hamburg. Ich glaube, die Hälfte der Subjekte muß nicht lesen können, was man nämlich vernünftig lesen nennt. Da Iffland eigentlich nicht mit ihnen spielen konnte, dürfte man fast sagen, daß er ihnen mitspielte. Nur ein einziger war darunter, den ich für gut hielt; dieser machte, wenn ich nicht irre, den Präsidenten. Der den Fremden spielte, fing ziemlich gut an, ward aber bald ein Jammerprediger, und der Hofrat wütete seine Rolle sehr dich ab. Es mögen jedoch wohl noch taugliche Subjekte darunter sein, vorzüglich glaube ich einige unter den Subalternen bemerkt zu haben, und ich will aus einer einzigen Vorstellung nicht geradezu ganz verurteilen. Man erzählt, wenn sich bei Eckhof jemand um Anstellung meldete, so gab er ihm ein gewähltes Buch mit der Bitte zu lesen; sodann ließ er ihn einigemal in einem geräumigen Zimmer auf und abwandeln. Daran hatte der Kenner genug und er gab seinen Bescheid. Wie viele würde er auf diese Weise von unsern Bühnen weisen? Die Frauen waren besser als die Männer; ein ziemlich seltener Fall! Denn auf den meisten Theatern ist aus sehr erklärlichen Ursachen fast immer die größte Armut an Frauen.

Eine traurige Erscheinung für Hamburg ist der Eingang und der Ausgang am Theater. Das Schauspielhaus selbst ist bekanntlich schlecht genug, aber man findet in dem letzten polnischen Städtchen kaum solche Winkel als hier die beiden Schluchten, durch die man eingeht und ausgeht.[847]

Noch eine Vorkehrung muß ich bemerken, die mir sehr aufgefallen ist. Man hatte, um mehr Platz zu gewinnen, das Orchester den Zuschauern mit eingegeben, also eine Art von Parkett gemacht. Dawider ist nicht viel zu sagen, obgleich die Musik übel dabei fuhr; aber man hatte den Ort meistens mit so jämmerlichen, zerbrochenen Bänken besetzt, wie sie nur ein Holzhacker braucht oder ein Kabackenhalter gibt. Meiner Person ist das ganz gleichgültig; denn ich biwakiere so gut als irgendeiner, aber es ist wider allen Anstand; denn es befanden sich daselbst Männer und Frauen von dem besten Ton, wie schon der Ort anzeigt.

Wenn ich Dir etwas Geordnetes von den Partien und Anlagen über Altona hinaus bis Blankenese sagen sollte, müßte ich ein Buch schreiben. Die Blankeneser standen ehemals bei mir in gar schlechtem Kredit; denn man hatte mir gesagt, daß sie und die Helgoländer gelegentlich die kleinen Algerier der hiesigen Küste der Nordsee seien. Ganz rein mögen sie sich wohl nicht gehalten haben. Du hast doch wohl irgend etwas von einem Strandrecht gehört. Hier machte es einen großen Zweig der Unrechtsgelehrsamkeit aus, und man soll sogar noch hier und da in den Tempeln der Humanität um Segen in diesem christlichen Nahrungszweige beten. Ob dies wahr ist, weiß ich nicht; aber Schande genug, daß die Sache existiert! Mich deucht, unter den Römern, Griechen und Phöniziern habe ich nichts davon gehört, und wo je dort Leute solche Dinge trieben, hießen sie geradezu bei ihrem wahren Namen Piraten. Wenn dieses Recht auch eine Sanktion des Christentums ist, wie die niederträchtige Unmenschlichkeit gegen das schwarze Antlitz der Afrikaner, so mag es sein Erröten darüber in den Mienen von Potosi verbergen. Hat man je von einer größeren Barbarei gehört, als die Unglücklichen[848] zu dezimieren? Nein, das Wort ist noch viel zu gelinde; sie werden abgedrittelt, denn den dritten Teil verlangen und erhalten die christlichen Brüder rechtlich, wenn sie eine Hand zur Rettung ausstrecken sollen. Wenn doch einmal das Strandrecht ohne Rettung strandete, das Albinagium ist zur Ehre des Menschensinnes doch endlich vernichtet, und es lebt nur noch ein Bastard davon in dem Abzugsgelde der deutschen Edelleute.

Blankenese heißt weiter nichts als die blanke Nase, und der Fleck muß ehemals ziemlich kahl und wild gewesen sein. Jetzt baut man überall, und die Hamburger Landhäuser machen schon eine lange Reihe schöner Anpflanzungen bis hierher. Die Aussicht von dem Berge am Flusse hinauf bis zur Stadt macht ein herrliches Bild der reichen Kultur und des Wohlstandes. Aber weit herrlicher muß der Anblick von der anderen Seite des Flusses im Hannoverischen sein, wo man die Stadt und das mit Villen besäte Ufer auf und ab auf einmal überschaut.

Täglich fing man hier mehr an, von Krieg und Kriegsgeschrei zu reden, und ich wurde überall befragt, was ich darüber aus dem Norden mitbrächte. Ich, wußte weiter nichts zu sagen, als daß die Regimenter aus Finnland nach der entgegengesetzten Seite mit mir zugleich abmarschiert waren; wohin und wozu, das war mir unbekannt, denn ich hatte nicht mit im Rat gesessen. Und wäre dieses gewesen, so hätte das Fragen doch wohl auch nichts geholfen.

Unser guter Hofmann, der Patriarch Reimarus, Wächter und Körner und einige andere wackere Leute machten mir die Tage in Hamburg viel kürzer, als sie im Kalender standen; und es ärgerte mich fast, daß ich schon davonreisen sollte, da ich nur so eben mich ein wenig besser mit allem orientiert hatte.

Meine Fischreise wäre also hier geschlossen; denn[849] Du kannst nachrechnen, daß ich in dieser Rücksicht diesen Sommer einen herrlichen Zug gemacht habe. Mit der Elbe angefangen, mit der Elbe geendet. Die Oder, die Memel, die Düna, die Embach, die Newa, die Wolga, – bedenke, welche fischreichen Ströme, die großen und kleinen Landseen nicht mit eingerechnet. In Moskau hatten wir Fische aus dem Schwarzen Meere und dem Weißen Meere und der Kaspischen See, und mein Schicksal führte mich zu Schmeckern, wo sie gegeben wurden. Und nun der Strich am Finnischen und Bottnischen Meerbusen und der Ostsee herunter bis zur Nordsee, das gab Reichtum an Floßfedergeschöpfen, vom Lachs bis zum Strömling. Und an keinem habe ich mir den Magen verdorben.

Nachdem ich meinen dänischen Paß bei dem französischen Gesandten gehörig hatte vidiren lassen, – denn leider kann man im Vaterlande fast keinen Schritt mehr tun ohne Erlaubnis des Allmächtigen an der Seine – , fuhr ich ruhig an der Elbe hinauf nach Lüneburg zu. Gall war angekommen, als ich wegging. Es tut mir leid, daß ich ihn überall verfehlen muß, denn ich hätte doch gern einen Kurs über sein System gehört. Es durch Fremde zu verlieren, wird mir zu weitläufig. Das Neue dürfte vielleicht nicht sehr viel sein, außer in der Anatomie.

Die Franzosen in Lüneburg fragten uns gar nicht, und weiter fanden wir keine mehr, weil sie sich eben schon zu irgend einer Unternehmung zusammengezogen hatten.

Von Lüneburg nach Braunschweig könnte und sollte die Kultur wohl etwas besser sein. Ich kann mir nicht einreden lassen, daß der Boden so gar undankbar sein sollte, wenn man ihn nur recht anhaltend behandelte. Es müßte lehrreich sein, wenn unbefangene, freimütige Sachkenner dieses gehörig untersuchten.[850]

In Braunschweig wäre ich am Eingange bald in der Atmosphäre des Zichorienkaffees des Herrn Schmidt erstickt. Der Kaffee mit seinen Surrogaten und der Tabak sind doch sonderbare, unbegreifliche Thelkterien der Seele bei unsern Zeitgenossen. Man hat kaum Brot, aber Tabak muß man eher haben, und das schwarze, bittere Branntwasser ist durchaus nicht zu entbehren. Hier in der Gegend waren große, große Strecken mit Zichorien bepflanzt. Wenn nur alles, was einzeln merkantilisch richtig ist, auch für das Ganze staatsökonomisch wahr wäre! Ich kann mich nicht überreden.

Hier besuchte ich nur den Agathodämon der Kinderwelt. Campens Ruheplätzchen hat vielleicht mehr von Sanssouci als das große bei Potsdam. Einem Könige ist es selten gegeben, ohne Sorgen zu sein, wenn er wirklich König ist, und es wäre wohl zu beweisen, daß Friedrich seine größten Sorgen in Sanssouci gehabt hat. Was Campe wenigstens in ebenso großen Kredit bei mir setzte als sein Robinson und andere seiner guten Bücher, war, daß er mir auserlesen schöne, herrliche Kartoffel gab. Kartoffel werden höchst wahrscheinlich bei mir immer den Vorzug vor Wildpasteten behalten, Du magst nun über meinen Geschmack urteilen, wie Du willst, und Du wirst mir nachrechnen, daß ich Wildpasteten und Schnepfendr... geschmeckt habe, sogut als einer. Nun denke Dir, frische Kartoffeln im September mit einigen andern, guten, erfreulichen Zugaben bei Campe, der das Essen besser zu würzen versteht; so beschließt man die Reise noch besser, als man sie anfängt.

Mit etwas Sehnsucht sah ich in dem schönen Wetter hinüber, hinauf zu dem Vater Brocken. Hätte ich nur noch einige Tage spenden können, so wäre ich gestiegen, in dem neuen Hause auf dem Scheitel bin[851] ich noch nicht gewesen. Als ich das letzte Mal oben war, wurde eben der Grundstein dazu gelegt, und ich schlief unter den Bauleuten. Jetzt zeigte es sich dem Auge ziemlich deutlich durch die dichtere Atmosphäre um den Berg. Du weißt, ich bin kein sonderlicher Freund von Romanen, aber ich habe bei Gelegenheit des Brocken doch einmal in Gedanken einen Roman gemacht, von dem ich Dir hier das wesentlichste sagen will. Wenn es kein Roman gewesen wäre, ich glaube fast, ich hätte ihn nach meiner Weise aufgeschrieben und drucken lassen. Aber wer wird Wahrheiten für Männer erst in Flitterstaat putzen? Der Roman hieß in meinen Gedanken: »Tagebuch des Mannes im Monde«. Die Veranlassung dazu war: ich stand einen Abend oben auf der Stirn des Vater Brukterus und sah hinab nach dem Ilsenstein, um das Brockengespenst zu belauschen. Am Firmament glänzte der Vollmond. Da sah ich dann einen Meteor an blendendem Licht herabschießen und unter mir auf eine Steingruppe fallen. Noch eine Minute leuchtete er und verlosch dann. Ich arbeitete mich mit Mühe und Gefahr hinunter an die Felsenkluft und suchte und fand. Es war ein Buch in Rollen, ungefähr wie eine Handschrift aus dem Herkulanum, nur nicht ganz so übel zugerichtet. Ich wickelte auf und las, und las, da war es denn das Tagebuch des Mannes oben. Daß dergleichen Dinge aus dem Monde herabkommen, ist seit Plutarch unter den Physikern und Historikern eine bekannte Sache, die sich auch neuerdings in Frankreich, dem Lande der neu auferstandenen Wunder, wieder bewährt hat. Nun weißt Du aus dem Ariost, daß unser Verstand im Monde wohnt; daher ein Mensch, der nach Verstand schnappt, auch mondsüchtig genannt wird. Wieviel entflogener Verstand muß nun nicht im Monde sein, wovon hier auf Erden das Gegenteil ist? Nun registriert[852] der Mann im Monde alle bunte und krause Nachrichten von Erdenpilgern in seine Blätter und macht darüber nach seiner Weise und Weisheit seine Anmerkungen übe; die Vorkehrungen im Hauptplaneten. Du siehst leicht, daß der Inhalt eines solchen Tagebuchs für manche Wissenschaften unserer Erde eine einträgliche Ausbeute geben muß. Das ist der einzige Roman, den ich in meinem Leben, aber auch nur in Gedanken, geschrieben habe.

In Halberstadt wallfahrtete ich noch mit Sonnenuntergang hinaus in den Garten zu dem Grabe meines väterlichen Freundes und Wohltäters, des alten Gleim. Unten hatte ich an der Elbe an Klopstocks Grab gestanden und hatte dem Genius gehuldigt; hier tat ich mehr, ich opferte der reinen Herzlichkeit in heiliger Weihe. Hier in diesem Hause, hier auf der Stelle seines Denksteins hatte ich mit ihm selbst gesessen und mich mit ihm warmgesprochen über das Große und Gute. Stichle der Kritiker seine kleinen Fehler auf, Gleim war ein edler Mann, wie es nur wenige sind. Hätte ich mit Klopstock in so naher Berührung gestanden, vielleicht hätte ich die nämliche Anhänglichkeit bekommen wie gegen diesen; aber so war ich mit ihm nur in sehr ferner literarischer Beziehung. Ich muß Dir bei dieser Gelegenheit doch eine Kleinigkeit erzählen, die ich mir zu einigem Verdienst anrechne. Du weißt, daß ich bei dem Drucke von Klopstocks Oden und seiner Messiade die Handlangerarbeit eines Korrektors verrichtete. Der alte Herr muß wirklich ein autos-epha-ähnliches Ansehen behauptet haben. Er wies diktatorisch auf sein Manuskript, das doch nicht ohne kleine Fehler war. Daraus entstanden Differenzen, oft über Adiaphora. Er berief sich auf sein Papier, das aber wider ihn zeugte, und ich schrieb ihm im heiligen Eifer einmal einen[853] sehr freimütigen Brief, voll von Anerkennung seines wahren, großen Wertes, aber mit Aufstellung sehr vieler kleiner Unrichtigkeiten. Er ließ mir mündlich etwas grämlich sein Concedo antworten, hatte sich aber gegen Herder, wie mir Herder selbst sagte, bitter über mich beklagt, daß ich unbarmherzig mit ihm umgegangen sei. Meine Rechtfertigung ist sein eigenes Papier. Sein einziger Fehler ist, daß er in Minuzien unfehlbar sein will. Nur ein einziges Beispiel! In einer Ode, ich glaube die Gestirne, steht in allen vorhergehenden Ausgaben in einem Verse: Vater so rufen wir an. Das Metrum lag in meinem Ohre und wollte durchaus, daß das Wörtchen an wegfalle, und die Ästhetik ist sehr damit zufrieden. Es wurde ihm geschrieben, und ihm zugleich ein Korrekturbogen geschickt. Er hatte darauf das unterstrichene Wort wieder unterpunktiert; es wieder ausgestrichen; es wieder oben hingeschrieben und es wieder ausgestrichen. So schickte er den Bogen ohne eine Silbe zurück. Man sieht, mit welcher väterlichen Ängstlichkeit er den alten Verstoß retten wollte. Es war jedoch unmöglich, und die Göschensche Ausgabe ist die einzige, wo dieser Vers durch meine Strenge richtig steht.

So wie ich den einen Tag von Braunschweig nicht weiter als nach Halberstadt gefahren war, fuhr ich den andern nicht weiter als von Halberstadt nach Könnern. – Könnern will ich schreiben, und Köthen und Köln und Kölleda, nach den Gesetzen der Aussprache. Es war Späternte, und nirgends waren Pferde zu haben, und gern hätte ich meinen Sack auf den Rücken genommen und wäre zu Fuß etwas schneller gegangen, wenn ich nicht versprochen hätte, die Partie mit auszuhalten.

Es tut mir leid, daß ich die Bemerkung machen muß, aber die Wahrheit fordert sie, ich habe auf meinem[854] ganzen Sommerzuge keine Orter gesehen, die ein so ärmliches, verfallenes Ansehen hätten als die preußischen Städte von Braunschweig hierher. Halberstadt und Aschersleben und Könnern sehen dürftig aus, an Dächern und Fenstern und im ganzen. Dafür sehen aber wieder die Dörfer ordentlich und wohlhabend aus; eine Erscheinung, die ebenso erfreut, als jener Anblick traurig macht! In Halberstadt beschwerte man sich ziemlich laue, daß der König bei Einziehung des reichen Klosters Huisenburg der Armenkasse von Halberstadt nicht etwas zur Unterstützung habe zufließen lassen wollen, warum man ihn doch, wie man sagte, inständig gebeten habe. Der Anschein ist freilich hart; aber die mißlichen Konjunkturen der Zeit fordern auch von dem Monarchen eine Vorsicht, die der einzelne nicht immer beurteilen kann.

Überall hatten die Regimenter Befehl, marschfertig zu sein, und niemand wußte, wohin. Alles brannte vor Begierde zu fechten, und niemand wußte mit wem, gleichviel, wenn nur geschlagen wird. Das ist so der echte Charakter der gedankenlosen Menschennatur. Doch muß man nicht zu rasch sein und den psychologischen Grund aufsuchen, ehe man es sogleich einer primitiven Wildheit und Mordlust zuschreibt. In der Einrichtung unserer Staaten ist nun leider sehr wenig gereinigter Sinn. Das Soldatenwesen ist nicht die schönste Seite davon, und solange Soldat noch ein vorzüglicher Ehrentitel ist, darf man durchaus nicht sagen, daß in unsern Einrichtungen Vernunft herrsche. Soldat heißt seinem ersten Ursprunge nach wohl eigentlich weiter nichts als Söldner, Dukatenkerl, und ist selten etwas anders als der Handlanger der Despotie gewesen. Dem Krieger für Recht und Vaterland seine Ehre! Der Soldat als solcher kann nur wenig Anspruch darauf machen. Nun sind aber die Soldaten[855] doch Menschen, und keine bösen Menschen. Ihr Leben ist Zwang und Untätigkeit, zwei Dinge, die der Menschennatur wehe tun! Der Soldat freut sich also, auf irgend eine Bedingung, unter irgend einer Rubrik, in freiere Arbeit gesetzt zu werden. Er fühlt Kraft, Anstrengung vermehrt sie, Gefahr hebt sie, dadurch gewinnt er Wichtigkeit und auf alle Fälle mehr Selbstständigkeit, als er in seinem jetzigen Leben gehabt haben kann. Es ist also nichts als Tätigkeitstrieb, auch mit Gefahr seine Existenz zu zerstören. Der Mensch lebt lieber eine kürzere Zeit in dem Gefühl seiner Kraft als Jahrhunderte in hinlungerndem Nichtstun. Etwas Göttliches ist in uns, wenn es vernünftig benutzt würde.

In Halle wurde mein armer Tornister unbarmherzig versiegelt, dem man von Palermo bis Moskau mit seinem Inhalt liberalen Durchzug gestattet hatte. Doch nein, in Wien und Aberfors war er ja förmlich ausgeweidet worden. Das arme Seehundsfell hat viel ausstehen müssen.

Man sprach hier noch von der Brotnot des vorigen Sommers. Aus allem, was ich davon erfuhr, gingen Fehler von allen Seiten hervor, wie überall, wo ähnliche Kollisionen eintreten. Vernachlässigung rächt sich oft schrecklich. Die Bestrafung der Unruhigen war zwar eben nicht hart, aber wenn alles wahr ist, was man davon sprach, doch ziemlich unregelmäßig; welches dann auch an Ungerechtigkeit grenzt.

Als ich in der Abenddämmerung die Türme von Leipzig wiedersah, das ich nun für mein Tabernakel zu halten gewohnt bin, ward es mir doch unter der linken Seite etwas angenehm unruhig, so sehr ich auch meinen Stoizismus vorschob.[856]


Lieblicher lispelt der Buchenhain

Und freundlicher kräuselt der Hütte Rauch

In des Tals Silbergewölk still empor,

Weht uns nun heimischer an Vaterlandsluft.


Stürmenden Söhnen des Nordens ist

Die rötliche Beere der Felsenwand

Palmenwein; jubelnder hallt längs dem Berg

Ihr Gesang, über des Bergs Erntegeschenk.


Köstlicher nickt mir der Apfelbaum,

Und herrlicher als Atalantens Frucht:

Schöner ist Weizengebind auf der Flur

Als am Glutgürtelgestad' Ananashauch.


Rauschet, ihr Eichen des Blumentals,

Vertraute des Knaben der schönen Zeit!

Wenn der Lenz wieder erscheint, grüß ich euch

Froher noch laut in des Hains Nachtigallchor.


Kröne, Irene, das Vaterland

Im Schnittergesange mit Ährengold;

Aber geuß Kraft in den Arm, wenn es gilt,

Daß der Mann schwinge den Speer hoch für den Pflug!


Himmelgeborenes Wahrheitslicht!

Nur Freiheit regier' und Gerechtigkeit!

Wo Vernunft spendet das Recht gleich und gleich,

Wächst empor dauerndes Glück über den Gau.


Unter diesem herzlichen Willkommen war es Abend geworden, und ich war vor dem Tore der Stadt. Schnorr war soeben aus der Schweiz gekommen, eine Reise, von der ich seit meiner Abwesenheit gar nichts[857] wußte, und schnitt freundschaftlich wieder seine besten Gesichter, als ich in das Zimmer trat, ebenso als vor einigen Jahren, da ich von der Arethuse kam. Das ist nun mein Sommer, lieber Freund. Ich glaube wohl, daß Du manches daran auszusetzen haben magst; es geht mir sogar selbst so.

Nun will ich während der Meßfeiertage noch einen kleinen Spaziergang nach Dresden und Weimar machen, weil ich mein Wort gegeben habe, und das muß feststehen wie die Berge Gottes. Wenn auch andern eben nicht viel daran gelegen sein sollte, so ist mir doch selbst meines Charakters wegen daran gelegen. Dann setze ich mich wieder zu meinem Griechischen und verschulmeistere mein Amphibienleben so gut es geht.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962.
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