Zehnte Szene

[673] Kent. Idens Garten.


Cade tritt auf.


CADE. Pfui über den Ehrgeiz! Pfui über mich selbst, der ich ein Schwert habe und doch auf dem Punkte bin, Hungers zu sterben! Diese fünf Tage habe ich mich in diesen Wäldern versteckt und wagte nicht, mich blicken zu lassen, weil mir das ganze Land auflauert: aber jetzt bin ich so hungrig, daß[673] ich nicht länger warten könnte, und wenn ich mein Leben auf tausend Jahre dafür in Pacht bekäme. Ich bin also über die Mauer in diesen Garten geklettert, um zu sehen, ob ich Gras essen oder mir wieder einen Salat pflücken kann, was einem bei der Hitze den Magen recht gut kühlt.


Iden kommt mit Bedienten.


IDEN.

Wer möchte wohl im Hofesdienst sich mühn,

Der solche stille Gänge kann genießen?

Dies kleine Erb', das mir mein Vater ließ,

G'nügt mir und gilt mir eine Monarchie.

Ich mag durch andrer Fall nicht Größe suchen,

Noch samml' ich Gut, gleichviel mit welchem Neid:

Ich habe, was zum Unterhalt mir g'nügt,

Der Arme kehrt von meiner Tür vergnügt.

CADE. Da kommt der Eigentümer und wird mich wie einen Landstreicher greifen, weil ich ohne seine Erlaubnis auf sein Grundstück gekommen bin. – Ha, Schurke, du willst mich verraten, um tausend Kronen vom Könige zu erhalten, wenn du ihm meinen Kopf bringst: aber ich will dich zwingen, Eisen zu fressen wie ein Strauß und meinen Degen hinunter zu würgen wie eine große Nadel, ehe wir auseinander kommen.

IDEN.

Ei, ungeschliffner Mensch, wer du auch seist!

Ich kenn' dich nicht: wie sollt' ich dich verraten?

Ist's nicht genug, in meinen Garten brechen

Und wie ein Dieb mich zu bestehlen kommen,

Gewaltsam meine Mauern überkletternd?

Mußt du mir trotzen noch mit frechen Worten?

CADE. Dir trotzen? Ja, bei dem besten Blut, das jemals angezapft worden ist, und das recht ins Angesicht. Sieh mich genau an: ich habe in fünf Tagen keine Nahrung genossen, und doch, komm du nur mit deinen fünf Gesellen, und wenn ich euch nicht alle mausetot schlage, so bitte ich zu Gott, daß ich nie wieder Gras essen mag.

IDEN.

Nein, solang' England lebt, soll man nicht sagen,

Daß Alexander Iden, ein Esquire von Kent,[674]

Mit einem Hungerleider ungleich kämpfte.

Dein starrend Auge setze gegen meins,

Sieh, ob du mich mit Blicken übermeisterst.

Setz' Glied an Glied, du bist bei weitem schwächer.

Bei meiner Faust ist deine Hand ein Finger,

Dein Bein ein Stock, mit diesem Stamm verglichen;

Mein Fuß mißt sich mit deiner ganzen Stärke,

Und wenn mein Arm sich in die Luft erhebt,

So ist dein Grab gehöhlt schon in der Erde.

Statt Worte, deren Größe Wort' erwidert,

Verkünde dieses Schwert, was ich verschweige.

CADE. Bei meiner Tapferkeit, der vollkommenste Klopffechter, von dem ich jemals gehört habe. – Stahl, wenn du nun deine Spitze biegst oder diesen pfündigen Tölpel nicht in lauter Schnittchen Fleisch zerhackst, ehe du wieder in der Scheide ruhst, so bitte ich Gott auf meinen Knieen, daß du in Hufnägel magst verwandelt werden.


Sie fechten, Cade fällt.


Oh, ich bin hin! Hunger und nichts anders hat mich umgebracht. Laßt zehntausend Teufel über mich herfallen, gebt mir nur die zehn verlornen Mahlzeiten wieder, und ich böte allen die Spitze. – Verdorre, Garten! und sei in Zukunft ein Begräbnisplatz für alle, die in diesem Hause wohnen, weil in dir die unüberwindliche Seele Cades entflohn ist.

IDEN.

Schlug ich den greulichen Verräter Cade?

Du sollst geweiht sein, Schwert, für diese Tat

Und nach dem Tod mir übers Grab gehängt.

Nie sei dies Blut gewischt von deiner Spitze,

Wie einen Heroldsmantel sollst du's tragen,

Um zu verkünden deines Herren Ruhm!

CADE. Iden, leb wohl und sei stolz auf deinen Sieg. Sage den Kentern von meinetwegen, daß sie ihren besten Mann verloren haben, und ermahne alle Welt, feige Memmen zu sein: denn ich, der ich mich nie vor keinem gefürchtet, muß dem Hunger erliegen, nicht der Tapferkeit. Stirbt.

IDEN.

Wie du zu nah mir tust, sei Gott mein Zeuge!

Stirb, deren Fluch, die dich gebar, Verruchter![675]

Und wie mein Schwert dir deinen Leib durchstieß,

So stieß' ich gern zur Hölle deine Seele.

Ich schleife häuptlings fort dich an den Fersen

Auf einen Misthauf', wo dein Grab soll sein;

Da hau' ich ab dein frevelhaftes Haupt,

Das ich zum König im Triumph will tragen,

Den Kräh'n zur Speise lassend deinen Rumpf.

Ab mit der Leiche, die er hinausschleift.[676]


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 3, Berlin: Aufbau, 1975, S. 673-677.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon