Sechste Szene

[179] Zimmer. Proteus tritt auf.


PROTEUS.

Verlass' ich meine Julia, ist es Meineid;

Lieb' ich die schöne Silvia, ist es Meineid;

Kränk' ich den Freund, das ist der höchste Meineid;

Dieselbe Macht, die erst mich schwören ließ,

Sie reizt mich jetzt, dreifachen Schwur zu brechen;

Die Liebe zwang zum Eid und zwingt zum Meineid.

O Liebe, süß verführend, wenn du sündigst,

So lehr' auch den Verführten sich entschuld'gen!

Erst huldigt' ich dem schimmernden Gestirn,

Jetzt bet' ich an den Glanz der Himmelssonne.

Man bricht bedachtsam unbedacht Gelübde,

Und dem fehlt Witz, dem echter Wille fehlt,

Den Witz zu brauchen, gut für schlecht zu wählen. –

Pfui dir, du Lästerzunge! schlecht zu nennen,

Die du als höchstes Gut so oft gepriesen

Mit zwanzigtausend seelverbürgten Eiden.

Nicht meiden kann ich Lieb', und doch geschieht's;

Doch meid' ich dort sie, wo ich lieben sollte.

Julia verlier' ich, und den Freund verlier' ich;

Und sind sie mein, muß ich mich selbst verlieren;

Verlier' ich sie, find' ich durch den Verlust,

Für Valentin, mich selbst; für Julia, Silvia.

Ich bin mir selber näher als der Freund,

Und Lieb' ist in sich selbst am köstlichsten.

Denn Silvia, – zeug', o Himmel, der sie schuf! –

Stellt Julia mir als dunkle Mohrin dar.

Vergessen will ich denn, daß Julia lebt,

Nur denken, mein Gefühl für sie sei tot;

Und Valentin will ich als Feind betrachten,

Daß Silvia ich, den süßern Freund, erwerbe.

Ich kann die Treu' mir selber nicht bewahren,

Begeh' ich nicht Verrat an Valentin. –

Die Nacht denkt er auf seilgeknüpfter Leiter

Der Göttin Silvia Fenster zu ersteigen;[179]

Ich, der Vertraute, bin sein Nebenbuhler.

Gleich will ich nun dem Vater Kunde geben

Von dem Betrug und der beschloßnen Flucht;

Der wird, im Zorn, dann Valentin verbannen,

Da er die Tochter Thurio will ermählen.

Doch, Valentin entfernt, durchkreuz' ich schnell

Durch schlaue List des plumpen Thurio Werbung.

Leih', Liebe, Schwingen, rasch zum Ziel zu streben,

Wie du mir Witz gabst, diese List zu weben!


Geht ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin: Aufbau, 1975, S. 179-180.
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