Dritte Szene

[241] Zimmer im Gefängnis.


Es treten auf der Herzog als Mönch gekleidet und der Schließer.


HERZOG.

Heil Euch, Freund Schließer! Denn das seid Ihr, denk' ich.

SCHLIESSER.

Der Schließer bin ich; was begehrt Ihr, Pater?[241]

HERZOG.

Nach Christenlieb' und meiner heil'gen Regel

Komm' ich mit Zuspruch zu den armen Seelen

In diesem Kerker. Laßt, so wie's der Brauch,

Sie dort mich sehn, und nennet mir den Grund

Von ihrer Haft, daß ich, wie sich's geziemt,

Mein Amt verwalten mag.

SCHLIESSER.

Gern tat' ich mehr, wenn Ihr noch mehr bedürft.


Julia kommt.


Blickt auf, dort kommt ein Fräulein, hier verhaftet,

Die durch den Sturm der eignen Jugend fiel

Und ihren Ruf befleckt. Sie trägt ein Kind,

Des Vater sterben muß: ein junger Mann,

Geeigneter, den Fehl zu wiederholen,

Als drum zu sterben.

HERZOG.

Wann soll er sterben?

SCHLIESSER.

Morgen, wie ich glaube.


Zu Julia.


Ich traf schon Anstalt; wartet noch ein wenig,

Dann führt man Euch von hier.

HERZOG.

Bereust du, Kind, was du gesündigt hast? –

JULIA.

Ich tu's, und trage meine Schmach geduldig.

HERZOG.

Ich lehr' Euch, wie Ihr Eu'r Gewissen prüft

Und Eure Reu' erforscht, ob sie aufrichtig,

Ob hohl im Innern.

JULIA.

Freudig will ich's lernen.

HERZOG.

Liebt Ihr den Mann, der Euch ins Unglück stürzte?

JULIA.

Ja, wie das Weib, das ihn ins Unglück stürzte.

HERZOG.

So seh' ich denn, daß beide ihr gesündigt

Im Einverständnis?

JULIA.

Ja, im Einverständnis.

HERZOG.

Dann ist Euer Unrecht schwerer noch als seins.

JULIA.

Ja, das bekenn' ich, Vater, und bereu' es.

HERZOG.

Recht, liebes Kind: nur darum nicht bereu' es,

Weil dich die Sünd' in diese Schmach geführt;

Solch Leid sieht auf sich selbst, nicht auf den Himmel,

Und zeigt, des Himmels denkt man nicht aus Liebe,

Nein, nur aus Furcht.

JULIA.

Ich fühle Reu', weil es ein Unrecht war,

Und trage gern die Schmach.[242]

HERZOG.

Beharrt dabei!

Eu'r Schuldgenoß muß morgen, hör' ich, sterben:

Ich geh' zu ihm und spend' ihm Trost und Rat. –


Gnade geleit' Euch! Benedicite! –


Geht ab.


JULIA.

Muß morgen sterben! O grausame Milde,

Die mir mein Leben schont, das immerdar

Nur Grau'n des Todes beut statt Trost!

SCHLIESSER.

's ist schad' um ihn! –


Gehn ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 2, Berlin: Aufbau, 1975, S. 241-243.
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