William Shakespeare

Der Phönix und die Turteltaube


Sei der Vogel hellsten Lautes,

Horstend in Arabiens Öde,

Banger Herold und Trommete!

Fromm Geflügel, auf ihn schaut es.


Doch du kreischender Gefährte,

Bösen Feindes Eingeweihter,

Fieber-Endes arger Deuter,

Bleibe fern von dieser Herde!


Sei aus unserm Rat verwiesen

Aller Vogel rauh und arg;

Nur der Aar, des Flugs Monarch,

Müsse dies Begängnis grüßen.


Priester sei, weiß infuliert,

Der die Sterbelieder kann,

Todesprophezeier Schwan,

Wie dem Requiem gebührt.


Und du, Krähe, dreifach alte,

Die ihr schwarz Geschlecht erzielt

Mit Odem, den sie gibt und stiehlt,

Zu dem Trauerzug dich halte!


Hier beginnt der Chor. – Zusammen

Tönet's: Lieb' und Treu ist hin;

Turteltaub' und Phönix fliehn

Aus der Welt in Wechselflammen.


Liebten sich, wie wenn, verdichtet

Lieb' in Zwei'n zu einem Wesen,

Trennungslos geteilt gewesen.

Da hat Liebe Zahl vernichtet.


Herzen nah im Weiten schienen;

Denn nicht Raum war, und doch Ferne

Zwischen Taub' und ihrem Sterne.

Allen Wunder, außer ihnen.


Liebesstrahl durchzuckte so sie,

Daß der Phönix all sein Glück

Flammen sah im Turtelblick;

Jedes jedem ein Potosi.


Eigentum sich so verließ,

Daß im Selbst das Selbst verschwand,

Einzelwesen, zwiebenannt,

Weder zwei noch eines hieß.


Selbst Vernunft, sie schien bedrängt,

Sah Getrenntes sich vereinen,

An sich selbst wie nichts erscheinen:

Schlichtes war so wohl vermengt,


Daß sie rief: wie treugepaart

Hier in Eintracht ein Geschlecht!

Recht hat Liebe nun, nicht Recht,

Wo Entfernung so beharrt.


Und erhub dann diese Klage

Um der Liebe Stern und Helden,

Taub' und Phönix die Entseelten,

Als Choral am Sarkophage:[860]


Klage


Schönheit, Treu und Seltenheit,

Anmut in Einfältigkeit

Schlummern hier dem Staub geweiht.


Nun versiecht des Phönix Blut;

Täubleins Herz, so fromm und gut,

Für Ewigkeiten fühllos ruht.


Ach der kinderlos Verschwund'nen!

Nicht ohnmächtig drum Erfundnen:

Keuschheit war es der Verbund'nen.


Wahrheit scheint nun, hat nicht Wesen.

Schönheit prahlt nun, ist gewesen.

Wahrheit, Schönheit, sie verwesen.


Alle, die ihr schön und wahr,

Kommt zur Urne, bringet dar

Ein Gebet dem Totenpaar!

Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 2, Berlin: Aufbau, 1975.
Die vorliegende Übersetzung stammt von Gottlob Regis. Erstdruck in: Shakespeare-Almanach. Herausgegeben von Gottlob Regis, Berlin (Veit) 1836.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon