[576] Regans Schloß. Es treten auf Regan und der Haushofmeister.
REGAN.
Doch steht des Bruders Macht im Feld?
HAUSHOFMEISTER.
Ja, Fürstin.
REGAN.
Er selbst zugegen?
HAUSHOFMEISTER.
Ja, mit vieler Not;
Eure Schwester ist der bessere Soldat.
REGAN.
Lord Edmund sprach mit deinem Herzog nicht?
HAUSHOFMEISTER.
Nein, gnäd'ge Frau!
REGAN.
Was mag der Schwester Brief an ihn enthalten?
HAUSHOFMEISTER.
Ich weiß nicht, Fürstin.
REGAN.
Gewiß, ihn trieb ein ernst Geschäft von hier.
Sehr töricht war's, dem Gloster nach der Blendung
Das Leben lassen; wohin er kommt, bewegt er
Die Herzen wider uns. Edmund, vermut' ich,
Aus Mitleid seines Elends, ging zu enden
Sein nächtlich Dasein, und erforscht zugleich
Des Feindes Stärke.
HAUSHOFMEISTER.
Ich muß durchaus ihm nach mit meinem Brief.
REGAN.
Das Heer rückt morgen aus; bleibt hier mit uns;
Gefährlich sind die Weg'.
HAUSHOFMEISTER.
Ich darf nicht, Fürstin;
Mylady hat mir's dringend eingeschärft.
REGAN.
Was brauchte sie zu schreiben? Könnt'st du nicht
Mündlich bestellen dein Geschäft? – Vielleicht –
Etwas – ich weiß nicht was: – ich will dir gut sein,
Laß mich den Brief entsiegeln!
HAUSHOFMEISTER.
Lieber möcht' ich –
REGAN.
Ich weiß, die Herzogin haßt ihren Gatten:
Das ist gewiß; bei ihrem letzten Hiersein
Liebäugte sie mit sehr beredten Blicken
Dem edlen Edmund; du bist ihr Vertrauter.
HAUSHOFMEISTER.
Ich, Fürstin?
REGAN.
Ich rede mit Bedacht: ich weiß, du bist's.
Drum rat' ich dir, nimm diese Weisung an:[576]
Mein Mann ist tot; Edmund und ich sind einig;
Und besser paßt er sich für meine Hand,
Als deiner Herrin: – schließe weiter selbst!
Wenn du ihn find'st, so bitt' ich, gib ihm dies;
Und wenn's die Herzogin von dir vernimmt,
Ermahne sie, Vernunft zu Rat zu ziehn!
Und somit lebe wohl!
Triffst du vielleicht den blinden Hochverräter,
Ein reicher Lohn wird dem, der ihn erschlägt.
HAUSHOFMEISTER.
Ich wollt', ich fand' ihn, Fürstin, daß Ihr säht,
Mit wem ich's halte.
REGAN.
So gehab' dich wohl!
Sie gehn ab.
Ausgewählte Ausgaben von
König Lear
|
Buchempfehlung
Ein alternder Fürst besucht einen befreundeten Grafen und stellt ihm seinen bis dahin verheimlichten 17-jährigen Sohn vor. Die Mutter ist Komtesse Mizzi, die Tochter des Grafen. Ironisch distanziert beschreibt Schnitzlers Komödie die Geheimnisse, die in dieser Oberschichtengesellschaft jeder vor jedem hat.
34 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro