[50] Vor dem Hause des Titus.
Der junge Lucius, mit Büchern unterm Arm, läuft vor Lavinien, die ihm nachfolgt. Dann kommen Titus und Marcus.
KNABE.
Großvater, hilf! Muhme Lavinia
Verfolgt mich allenthalb, weiß nicht warum.
Sieh, Oheim Marcus, sieh, wie schnell sie kommt!
Ach, liebste Muhm', ich weiß nicht, was du willst!
MARCUS.
Komm zu mir, Lucius, fürchte nicht die Muhme!
TITUS.
Sie liebt dich, Kind, zu sehr, dir Leid zu tun.
KNABE.
O ja, als noch mein Vater war in Rom! –
MARCUS.
Was deuten diese Zeichen, teure Nichte?
TITUS.
Fürchte nicht, Lucius: etwas meint sie jetzt; –
– Sieh, Lucius, sieh, wie viel sie von dir hält;
Sie will, daß du ihr dorthin folgen sollst.
Ah, Kind, Cornelia las mit ihren Söhnen
So eifrig nie, als sie mit dir studiert
Die Poesie und Tullius' Redekunst.
[MARCUS.]
Errätst du nicht, was sie von dir begehrt?
KNABE.
O Herr, ich weiß nicht, noch errat' ich es,
Wenn nicht ein schneller Wahnsinn sie ergriff:
Denn oftmals hört' ich vom Großvater schon,
Den Geist verwirr' ein Übermaß des Grams;
Und las, wie die trojan'sche Hekuba
Toll ward durch Kummer: das erschreckte mich,
Obschon ich weiß, die edle Muhme liebt
So zärtlich mich, als meine Mutter tat,
Und nur im Fieber könnte sie mich schrecken.
So warf ich denn die Bücher hin und lief,[50]
Vielleicht um nichts: doch, Muhme, seid nicht bös!
Und, Base, wenn mein Oheim Marcus folgt,
Dann will ich mit Euch gehn, wohin es sei.
MARCUS.
Das will ich, Lucius.
TITUS.
Wie nun, Lavinia? Was bedeutet dies?
Hier muß ein Buch sein, das sie wünscht zu sehn:
Von diesen, welches? Knabe, schlag' sie auf:
Doch du hast mehr und andre Schrift gelesen;
Komm, wähl' in meinem ganzen Büchersaal,
Und so vergiß dein Leid, bis das Geschick
Enthüllt den argen Stifter dieser Tat. –
Was hebt sie wechselnd ihre Arm' empor?
MARCUS.
Sie meint wohl, denk' ich, daß noch mehr als ein
Verschworner mitgewirkt: – Gewiß, so war's: –
Wo nicht, ruft sie des Himmels Zorn herab.
TITUS.
Lucius, welch Buch ist das, woran sie stößt?
KNABE.
Herr, des Ovid Metamorphosen sind's:
Die Mutter gab sie mir.
MARCUS.
Aus Liebe zur Verstorbnen
Wählte sie's aus der Menge wohl hervor.
TITUS.
Still, still! wie emsig sie die Blätter dreht!
Helft ihr:
Was sucht sie doch? Lavinia, soll ich lesen?
's ist Philomelens tragische Erzählung,
Des Tereus böse List, Gewalt und Raub;
Und Raub war, fürcht' ich, Wurzel deiner Marter.
MARCUS.
Sieh, Bruder! Merk', das Blatt bezeichnet sie.
TITUS.
Wardst du so überrascht, mein süßes Kind,
Beraubt, entehrt, wie Philomele ward?
Geschwächt im wüsten, mitleidslosen Wald?
Seht, seht! –
Ja, solch ein Tal ist dort, wo wir gejagt
(Oh, hätten wir doch nie, nie dort gejagt!), –
Genau, wie uns der Dichter Kunde gibt,
Von der Natur geprägt zu Raub und Mord.
MARCUS.
Wie schuf so wüsten Talgrund die Natur,
Wenn Götter der Tragödien sich nicht freun?
TITUS.
Gib Zeichen, Kind, – hier sind ja Freunde nur –,[51]
Wer ist der Römer, der die Tat gewagt?
Schlich Saturnin heran, wie einst Tarquin,
Als er vom Heer sich zu Lucretien stahl?
MARCUS.
Setz' dich, Lavinia; – Bruder, setz' dich her! –
Apollo, Pallas, Jupiter, Merkur,
Erleuchtet mich, den Täter zu erspähn! –
Bruder, sieh her, – geliebte Nichte, sieh;
Er schreibt seinen Namen mit seinem Stabe, den er mit dem Munde und den Füßen führt.
Hier auf dem ebnen Sande, wenn du kannst,
Schreib' du, wie ich jetzt meinen Namen zog,
Ganz ohne Hülf' und Beistand unsrer Hände.
Verfluchtes Herz, das zu dem Spiel uns zwingt!
Schreib', süßes Kind! und zieh ans Licht zuletzt,
Was unsrer Rach' entdecken will der Himmel:
Lenk' ihre Feder, Gott! ihr Leid zu schreiben,
Tu' uns den Frevler und die Wahrheit kund! –
Sie nimmt den Stab in den Mund, führt ihn mit den verstümmelten Armen, und schreibt.
TITUS.
O Bruder! Lies, was sie geschrieben hat!
Stuprum – Chiron – Demetrius.
MARCUS.
Was? Tamoras verbuhltes Knabenpaar
Vollbringer dieser blut'gen, schwarzen Tat?
TITUS.
– Magne dominator poli,
Tam lentus audis scelera? tam lentus vides?
MARCUS.
Oh, ruhig, teurer Bruder, – schrieb sie gleich
Mehr als zu viel auf diesen Boden hin,
Die Sanftmut selbst zur Notwehr zu empören
Und Kinder aufzustürmen zum Entschluß! –
Knie' mit mir nieder, Bruder, Nichte, knie',
Und Knab', auch du, des röm'schen Hektors Trost:
Schwört mir (wie dem unsel'gen Gatten einst
Und Vater der entehrten keuschen Frau
Held Brutus bei Lucretiens Leiche schwur) –,
Ausüben wollen wir nach bestem Rat
Tödliche Rach' an jenen tück'schen Goten,
Sie morden, oder selbst als Feige sterben.[52]
TITUS.
Recht schön von dir, wenn du nur wüßtest, wie?
Doch triffst du nur die Jungen, dann gib acht:
Du weckst die Alte; wittert sie den Streich,
Ei, mit dem Löwen ist sie eng im Bund,
Und wiegt ihn ein, auf ihrem Rücken spielend,
Und schläft er erst, dann tut sie, was sie will.
Du bist zur Jagd noch jung, drum laß es gut sein!
Wart' nur! ein Täflein hol' ich her von Erz,
Und grabe drauf mit scharfem Stahl die Namen,
Und berg' es: sonst verweht der tück'sche Nord
Wie der Sibylle Blätter diesen Sand,
Und dann, wie ständ's um unsre Lektion?
Was sagst du, Knabe?
KNABE.
Ich sage, teurer Herr, wär' ich ein Mann,
Nicht ihrer Mutter Schlafgemach beschützte
Dies Knechtsgezücht, das röm'sche Ketten trug.
MARCUS.
Recht, wackrer Knab'! Oft tat dein Vater schon
Das Gleiche für sein undankbares Volk.
KNABE.
Und leb' ich, Oheim, tu' ich so wie er.
TITUS.
Komm, geh mit mir in meinen Waffensaal:
Lucius wird ausgestattet; und mein Knabe
Soll gleich von mir den Söhnen Tamoras
Geschenke bringen, die ich senden will.
Komm, du bestellst die Botschaft; willst du nicht?
KNABE.
Großvater, ja; mein Dolch für ihre Brust!
TITUS.
Nein, Kind, nicht so; ich lehr' dich andern Weg.
Lavinia, komm; Marcus, geh in mein Haus!
Lucius und ich, wir setzen's durch bei Hof,
Ja traun, das tun wir, und wir finden Gunst.
Sie gehn ab bis auf Marcus.
MARCUS.
Götter! Könnt ihr den Guten weinen sehn,
Und lenkt nicht ein, und hegt kein Mitgefühl?
Marcus, verlass' ihn nicht in diesem Wahnwitz;
Mehr Narben trägt sein gramverwundet Herz,
Als Feindesscharten sein zerstoßner Schild;
Und doch so treu, daß er nicht Rache sucht;
Rächt, Götter, denn den Greis Andronicus!
Ab.[53]
Ausgewählte Ausgaben von
Titus Andronicus
|
Buchempfehlung
Nach einem schmalen Band, den die Droste 1838 mit mäßigem Erfolg herausgab, erscheint 1844 bei Cotta ihre zweite und weit bedeutendere Lyrikausgabe. Die Ausgabe enthält ihre Heidebilder mit dem berühmten »Knaben im Moor«, die Balladen, darunter »Die Vergeltung« und neben vielen anderen die Gedichte »Am Turme« und »Das Spiegelbild«. Von dem Honorar für diese Ausgabe erwarb die Autorin ein idyllisches Weinbergshaus in Meersburg am Bodensee, wo sie vier Jahre später verstarb.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro