Fünfte Szene

[36] Daselbst.


Demetrius und Chiron kommen mit der geschändeten Lavinia; ihr sind die Hände abgehauen und die Zunge ausgeschnitten.


DEMETRIUS.

So melde nun, wenn's deine Zunge kann,

Wer dir die Zung' ausschnitt und dich entehrt!

CHIRON.

Schreib' nieder, was du meinst, und hilf dir so:

Vermögen's deine Stumpfen, laß sie schreiben!

DEMETRIUS.

Wie gut sie noch mit Wink und Zeichen grollt!

CHIRON.

Geh, fordre frisches Wasser, wasch' die Hände!

DEMETRIUS.

Fordr' ohne Zunge, wasch' dich ohne Hände;

Und somit wandl' in stiller Einsamkeit! –

CHIRON.

Wär's mir geschehn, ich ging' und hängte mich.

DEMETRIUS.

Ja, hätt'st du Hände, dir den Strick zu knüpfen!


Demetrius und Chiron ab.


Marcus kommt zu Lavinien.


MARCUS.

Wer ist's? Die Nichte, die so eilend flieht?

Muhme, ein Wort! Wo ist dein Gatte? Träum' ich,

O hülfe all mein Gut mir dann zum Wachen!

Und wach' ich, schlüg' ein Blitzstrahl auf mich ein,

Daß ich fortschlummern mög' in ew'gem Schlaf! –

Sag, süßes Kind, wes mitleidlose Hand

Trennt' ab und hieb so frech von deinem Stamm

Der beiden Zweige süße Zier, die Laube,

In deren Schatten Kön'ge gern geruht

Und nimmer ein so reizend Glück erstrebt[36]

Als halb nur deine Gunst? Was sprichst du nicht?

Weh mir! ein Purpurstrom von warmem Blut,

Gleich einem Springquell, den der Wind bewegt,

Hebt sich und fällt dir zwischen ros'gen Lippen,

Und kommt und geht mit deinem süßen Hauch.

Gewiß, ach! hat ein Tereus dich entehrt,

Und, Strafe fürchtend, raubt' er deine Zunge.

Ach, wend'st du jetzt dein Antlitz weg aus Scham?

Und trotz des vielen Bluts, von dir verströmt

Wie aus dem Brunn', dem mancher Strahl entquillt,

Flammen die Wangen dir, wie Titan glüht,

Wenn er errötend mit den Wolken kämpft?

Soll ich statt deiner reden? Ist es so?

Kennt' ich dein Herz? O kennt' ich den Verruchten,

Daß ich ihm fluchen könnte, mir zum Trost!

Gehemmter Schmerz, wie ein verstopfter Ofen,

Verbrennt zu Asche die verschloßne Brust.

Verlor doch Philomele nur die Zunge,

Und wirkt' in trauriges Geweb' ihr Leid:

Doch, liebstes Kind, dir ward die Hülf entrissen,

Dein Tereus übte list'ger seinen Raub:

Er hat die zarten Finger abgehaun,

Die schöner wohl gestickt als Philomele.

Oh, sah der Unhold diese Lilienhand

Wie Espenlaub auf einer Laute zittern,

Daß sie mit Lust die Silbersaiten küßten, –

Nicht für sein Leben hätt' er sie berührt!

Und hört' er je die Himmelsharmonie,

Die jener süßen Zunge sonst entströmt, –

Sein Dolch entfiel' ihm, und ersänk' in Schlaf,

Wie Cerberus zu Orpheus' Füßen schlief!

So gehn wir! Und dein Vater werde blind:

Der Anblick muß ein Vaterauge blenden.

In einer Stund' ersäuft der Sturm die Matten:

Was bringt ein Jahr von Tränen Vateraugen?

O komm! All unser Schmerz ist dir geweiht:

Könnt' unser Schmerz doch mildern so viel Leid! –


Sie gehn ab.[37]


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4, Berlin: Aufbau, 1975, S. 36-38.
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