Kasperles Krankheit

[140] Der Herzog August Erasmus kam sehr übelgelaunt von seiner Spazierfahrt zurück. Er hatte Kasperle strafen wollen und hatte sich selbst gestraft, denn er hatte den lustigen kleinen Quirl sehr vermißt. Er befahl also, man solle schnell Kasperle holen, und meinte, das könnte ihm schnell die schlechte Laune vertreiben.

Der Haushofmeister ging selbst hinab, um das Kasperle zu holen. Er blieb an der Tür stehen und rief freundlich: »Komm heraus, Kasperle, komm!«

Aber er konnte lange rufen, kein Kasperle kam. Nur ein seltsames Stöhnen und Schnarchen war zu hören, und der Haushofmeister sah endlich den kleinen Burschen auf der Erde liegen. Eingeschlafen ist der arme Kerl, dachte er mitleidig; er mag sich recht gefürchtet haben in dem dunklen Keller. Und er ging hin, rüttelte und schüttelte das Kasperle, doch das schnarchte und stöhnte weiter. Nun hob es der Haushofmeister auf und trug es aus dem Keller. Draußen rief er nach Veit, und beide versuchten Kasperle zu wecken.

Vergebens, das wurde nicht munter. Veit kam auf den Gedanken, es mit einem Wassergüßlein über den Kopf zu versuchen. Er holte ein Glas Wasser und goß es Kasperle auf die Nase. Das strampelte und zappelte eine Weile und – schlief weiter.

Inzwischen klingelte der Herzog ungeduldig. »Kasperle soll kommen!« rief er.[140]

»Kasperle schläft«, meldete der Diener.

»Es schläft? Ja, da weckt es doch auf! Wie kann es schlafen, wenn ich es sprechen will!« schrie der Herzog.

»Es wacht nicht auf«, stotterte der Diener erschrocken.

»Es wacht nicht auf? Aber das ist ja unerhört. Man gieße ihm Wasser über den Kopf!« Der Herzog war ganz aufgeregt, und als er hörte, Veit habe Kasperle schon das zweitemal Wasser über den Kopf gegossen, bekam er Angst. Er verlangte den Leibarzt, und dann lief er selbst, um sich das schlafende Kasperle anzusehen.

Das schlief und schlief, grunzte, stöhnte und schnarchte, und der Leibarzt schüttelte bedenklich den Kopf. »Es ist krank«, sagte er, »ganz bestimmt ist es krank, oder – es schläft nun wieder einmal viele, viele Jahre. Bei einem Kasperle kann man eben nicht wissen, wie eine Sache ausgeht.«

Der Herzog wurde leichenblaß. »Lieber Leibarzt«, flehte er, »machen Sie mir das Kasperle wieder munter! Zwölf Jahre lang habe ich alles versucht, um Kasperle zu bekommen, und nun – ja, nun schläft es vielleicht länger, als ich noch lebe. Oh, oh, ist das eine dumme Geschichte!«

Der Leibarzt legte den Finger an die Nase, schüttelte wieder den Kopf und begehrte ganz genau zu wissen, was eigentlich mit Kasperle zuletzt geschehen sei.

»Eingesperrt war es in einem dunklen Keller«, brummte der Haushofmeister.

»Ach, da haben wir's! Eingesperrt in einem dunklen Keller – nein, das verträgt kein Kasperle«, rief der Leibarzt. Er war froh, etwas sagen zu können, und weil er auch fand, der Herzog sei zu streng mit dem kleinen Schelm gewesen, schüttelte er immer wieder ernsthaft den Kopf.[141] »Schlimm, schlimm, schlimm, sehr schlimm!«, murmelte er. Er verordnete, Kasperle müsse im Bett liegenbleiben und kalte Umschläge bekommen, und stets solle jemand neben ihm sitzen, damit es gleich ordentlich geschüttelt werden könne, wenn es aufwache.

»Alles soll geschehen, nur machen Sie mir mein Kasperle wieder gesund«, rief der Herzog.

»Ja, das geht nicht so schnell!« Der Leibarzt runzelte die Stirne, wiegte wieder den Kopf hin und her und sagte wieder: »Schlimm, schlimm, sehr schlimm!«

Kasperle wurde nun in sein Bett getragen, und eine ganze Stunde saß der Herzog selbst neben seinem Bett. Und Kasperle schnarchte, stöhnte, ein paarmal murmelte es auch etwas im Schlaf, und jedesmal dachte der Herzog: Jetzt wacht es auf. Und er neigte sich über es und fragte zärtlich: »Bist du munter, mein Kasperle?«

Weil das aber nicht aufwachte, ließ er wieder den Leibarzt holen, und gerade da fing Kasperle an zu brummeln und zu murmeln, und als sich der Herzog über es beugte und sanft fragte: »Mein Kasperle, was fehlt dir denn?« griff Kasperle plötzlich nach des Herzogs Nase und schrie: »Hallo, hallo, Michele, der Kasperlemann! Hallo, hallo!«

Und dabei zerrte und zog Kasperle an des Herzogs Nase, als wäre diese eine Klingelschnur. Zipp-zapp, zipp-zapp! Dem Herzog verging Hören und Sehen. Er brüllte laut und suchte sich zu befreien, die andern halfen, und da schlug Kasperle auf einmal seine Augen auf, gähnte schrecklich, klappte die Augen wieder zu und schnarchte rissel, rassel weiter.

»Oooh!« rief der Herzog und rieb sich seine Nase. Kasperle[142] hatte schon einen festen Griff, die Nase war feuerrot geworden.

»Eine sehr böse Krankheit! Es hat Fieber.« Der Leibarzt schüttelte wieder den Kopf und sah höchst besorgt drein. »Ruhe, Ruhe!« sagte er.

Und dann gingen alle. Der Herzog hielt sich seine Nase, und der Leibarzt sagte, er müsse auch kalte Umschläge auf seine Nase machen. Der Herzog war böse und traurig zugleich. Das Nasenanfassen und daß Kasperle ihn Kasperlemann genannt hatte, verdroß ihn. Aber freilich, Kasperle war krank, und wer weiß, ob es jemals wieder aufwachte!

Kasperle schlief und schlief. Im Schloß fragte von Viertelstunde zu Viertelstunde einer den andern: »Ist es wieder aufgewacht?« Doch das Kasperle dachte nicht daran, das schnarchte weiter, rissel, rassel, sogar im Treppenhaus war es zu hören.

Alle glaubten, das Kasperle sei wirklich furchtbar krank, nur der alte Haushofmeister nicht. Der wußte besser im Schloß Bescheid als der Herzog selbst; er kannte alle verborgenen Türen und Winkel. Sein Vater, der auch schon Haushofmeister gewesen war, hatte sie ihm verraten. Und als sich alle um das Kasperle sorgten, ging er ganz leise noch einmal unten in den Keller hinein. Er meinte nämlich, von Kasperle sei ein Düftlein ausgegangen, das an Wein erinnerte. Das verborgene Pförtchen fand er schnell und gelangte in des Herzogs geheimen Weinkeller, zu dem dieser den Schlüssel wohl verwahrt hatte. Und richtig, da fand der Haushofmeister Kasperles Spuren: alle drei Fässer waren leer, die Hahnen waren aufgedreht. »Ei, du heilloser Schelm, du kleiner Nichtsnutz, du, ein Schwipslein hast du!« schalt der alte Mann, aber er lachte leise dazu.[143] Dann drehte er wieder an jedem Faß den Hahnen zu und ging zu dem verborgenen Türchen hinaus. Das schloß er sorgfältig ab und brummte dabei vor sich hin: »Na, die Prinzessin Gundolfine wird wütend sein!« Gerade die Weine aus dem Keller liebte die Prinzessin nämlich sehr; allemal wenn sie zu Besuch kam, stieg der Herzog selbst in den Keller und holte ein Krüglein voll herauf.

Was der Haushofmeister entdeckt hatte, sagte er keinem Menschen. Nur als Veit klagte: »Kasperle wird noch sterben!«, meinte er heiter: »I wo, das stirbt nicht! Paß auf, morgen ist es wieder putzmunter.«

Es dauerte aber wirklich sehr lange, bis Kasperle aufwachte. Vierundzwanzig Stunden schlief es wie ein Säcklein, und der Herzog stand gerade wieder traurig an seinem Bett, und der Leibarzt sagte: »Sehr schlimm!«, da schlug Kasperle auf einmal die Augen auf. Es sah den Herzog, den Doktor und etliche Hofherren an seinem Bett stehen, und alle staunten sie es an.

Wie sonderbar das war! Kasperle lag ein Weilchen, rührte und regte sich nicht und sah mit seinen schwarzen Glitzeräuglein nur immer in die verdutzten Gesichter. Es fand das ungemein spaßhaft, bis es plötzlich ein heftiges Grimmen in seinem Bäuchlein spürte. Das knurrte laut, und der Herzog drehte sich erschrocken rundum. »Man jage den Hund aus dem Zimmer!« rief er. »Wo ist der Hund, der so knurrt?«

Und alle drehten sich um, suchten und suchten, bis Kasperle jäh in ein lautes, heftiges Geschrei ausbrach. »Hunger, Hunger!« jammerte es, und da erst merkten es alle: Kasperles Magen knurrte.

»Es hat Hunger!« Der Herzog sank vor Erstaunen auf[144] einen Stuhl, der Leibarzt schüttelte wieder den Kopf, er sagte aber doch: »Man bringe schnell etwas zu essen, ein Süppchen und ganz kleine Brötchen!«

Kasperle, der Schelm, merkte wohl, alle waren in Angst um es. Es verstand zwar nicht recht warum, denn es konnte sich erst gar nicht besinnen, was mit ihm geschehen war. Das Angsthaben machte ihm aber den größten Spaß. Es verdrehte seine Äuglein, schnitt fürchterliche Gesichter und wiederholte kläglich: »Hunger, Hunger!«

»Schnell, schnell, bringt doch etwas zu essen!« rief der Herzog.

Da rannte auch schon ein Diener herbei, der brachte Suppe und ein paar hauchdünne Schinkenbrötchen, mehr nicht. Kasperle machte plötzlich sein Räubergesicht, steckte schwipp, schwapp, sämtliche Schnitten in den Mund; schluck, schluck, weg waren sie, und der Strick schrie: »Mehr, mehr, ich sterbe!«

»Merkwürdig!« Der Leibarzt sah das Kasperle verwundert an, der Herzog aber rief: »Mehr, bringt mehr!« Und weil er selbst gern Schokolade lutschte, holte er eine feine silberne Dose aus der Tasche, reichte sie Kasperle und sagte: »Nimm eins!«

Ein Schokoladenplätzchen für ein Kasperle, jemine! Kasperle nahm die Dose, und weg waren alle Plätzchen, verschwunden in seinem großen Mund. Kasperle aber schrie jetzt richtig ungezogen: »Mehr, noch mehr!«

Da rannte schon wieder ein Diener in das Zimmer mit einer Platte, auf der die leckersten Dinge lagen, und der Herzog sagte gerade: »Man muß ihm etwas aussuchen, es darf nicht zuviel essen«, aber da schluckte das Kasperle schon.

Himmel, wie das ging! Dem Herzog, dem Leibarzt, den[145] Hofherren, allen blieb der Mund vor Staunen offen. Wie ein richtiges kleines Raubtier benahm sich Kasperle. Belegte Brote, Kuchen, Braten, ein Schüsselchen Gemüse, alles schluckte es hinab, und zuletzt nahm es sich den großen Pudding, der auch auf der Platte stand, und von dem es nur kosten sollte, und futterte drauflos.

»Es wird zuviel auf einmal«, schrie der Herzog und wollte selbst den Pudding wegnehmen, aber Kasperle hielt seinen Pudding fest, es schmauste und schmauste und sah dabei so vergnügt drein, daß der Leibarzt plötzlich sagte: »Es scheint, es ist gesund.«

»Aber es ißt zuviel. Kasperle, mein liebes Kasperle, gib den Pudding her!« bat der Herzog.

»Nä!« Kasperle grinste, und als der Herzog wieder nach der Schüssel greifen wollte, schnitt es ein Hexengesicht.

»Oooh!« Der Herzog wich erschrocken zurück.

Da sagte auf einmal der alte Haushofmeister: »Es ist genug, Kasperle.« Und dabei sah er Kasperle freundlich und doch streng an, und der kleine Schelm spürte plötzlich, der gütige alte Mann meinte es am allerbesten mit ihm. Er gab ohne ein Widerwort die Schüssel zurück und streckte sich ganz still und brav in seinem Bett aus.

Der Leibarzt, der etwas sagen wollte und nicht recht wußte, was er sagen sollte, denn in seinem Leben hatte er noch kein Kasperle behandelt, murmelte: »Es muß im Bett bleiben.«

Doch da redete der alte Haushofmeister freundlich dazwischen, es wäre wohl am besten, Kasperle stünde auf und liefe im Park herum. Dies wäre gewiß gesund für es.

»Vortrefflich, ganz vortrefflich!« sagte der Leibarzt, und da stimmte auch der Herzog zu. Er ordnete freilich an, ein[146] Diener müsse Kasperle zum Schutz begleiten, und der alte Haushofmeister schlug vor, das könne Veit tun. Das war dem Herzog recht. Kasperle durfte aufstehen und in den Park laufen, und Veit sagte: »Geh nur an den Bach, das traurige Marlenchen wartet schon.«

Marlenchen saß wirklich am Bach, und es war heute wieder ganz traurig. Es hatte das blasse Gesichtchen über das Wasser geneigt und drehte darin Stein um Stein um. Plötzlich aber schrie es auf. Kasperles Bild erschien im Wasserspiegel, und nun sah das traurige Marlenchen gleich ein klein wenig nach Sonne aus. »Du bist da?« sagte es erfreut zu dem kleinen, unnützen Freund. »Ach, ich dachte schon, du kämst nie wieder.«

Kasperle schoß vor Vergnügen über die Freiheit und das Zusammensein mit dem traurigen Marlenchen einen Purzelbaum und platschte dabei ins Wasser; es spritzte hoch auf, und erst als das Kasperle klitschnaß war, setzte es sich neben Marlenchen und begann zu erzählen, wie es ihm ergangen war. So nach und nach fiel ihm alles ein. Da erzählte es auch den Streich aus dem Keller, und Marlenchen rief erschrocken: »Aber Kasperle!«

Kasperle senkte die Nase. Es schielte seine kleine Freundin von der Seite an, wie es die rechten Schelme tun, und es sah so unnütz und drollig aus, daß Marlenchen ein ganz klein wenig lachen mußte.

»Hach, du lachst!« Kasperle streckte die Beine in die Luft vor Vergnügen, und dann fing es an zu schwatzen, schneller als die Elstern auf der hohen Ulme. Das Bächlein erschrak ordentlich, es rann und lief, gluckste und plätscherte und dachte: Nein, der unnütze Strick da darf nicht flinker reden, als ich renne. Die Elstern erhoben auch ihre[147] Stimmen lauter, und es war im sonst so stillen Waldtälchen ein Geschwätz und Gelärme um das traurige Marlenchen herum wie noch nie.

Aber auch die Stunden hatten Eile wie das Bächlein; viel zu früh, meinten Kasperle und Marlenchen, kam Veit, und die beiden ungleichen Kameraden mußten Abschied nehmen.

Das war bitter. Marlenchen sagte betrübt: »Vielleicht wirst du nun wieder eingesperrt.«

Kasperle seufzte. Ach, es war schon schwer, in des Herzogs Dienst zu stehen! Die Sehnsucht nach dem Waldhaus stieg wieder heiß in ihm empor. Traurig gab es Marlenchen die Hand und sagte, es werde wieder kommen. »Und wenn er mich nicht fort läßt, dann brenne ich durch«, fügte es trotzig hinzu.

»Aber Kasperle!«

»Ja, ich tu's.« Und Kasperle schnitt ein Teufelsgesicht, ein Räubergesicht, sah wie eine Hexe drein, und Marlene begann sich ordentlich vor ihm zu fürchten. Sie wich erschrocken an das Bächlein zurück. Doch gleich machte Kasperle wieder ein so liebes, betrübtes Schelmengesicht, daß sie es flink streichelte: »Armes Kasperle!« sagte sie. »Aber ausreißen darfst du nicht, denn sonst – bin ich wieder ganz allein.«

»Ich reiße nicht aus«, versprach Kasperle gleich, und als es mit Veit dem Schlosse zuging, nahm es sich vor, ungeheuer artig zu sein, damit der Herzog es nicht wieder einzusperren brauchte. Marlenchen sollte nicht wieder vergebens auf es warten.

Es saß auch wirklich stumm und stocksteif am Abendtisch, und der Herzog verwunderte sich sehr über Kasperle.[148] Er dachte aber: Es ist müde, gewiß ist es doch noch krank, und dann fragte er sehr freundlich: »Willst du schlafen gehen, Kasperle?«

Nun war der Kleine kein bißchen müde nach seinen vierundzwanzig Stunden Schlaf, er riß darum seinen Mund weit auf und schrie, so laut er konnte: »Nä!«

»Mein Himmel, ich bin doch nicht taub!« sagte der Herzog beleidigt. »Schäme dich, so zu schreien!«

Kasperle senkte den Kopf. Jemine, war es schwer, bei Hofe den rechten Ton zu treffen! Einmal war es zu laut, einmal zu leise; sagte es viel, war es nicht recht, sagte es gar nichts, auch nicht. Vor lauter Ärger schnitt es sein Teufelsgesicht, und der Herzog rief wieder vorwurfsvoll: »Aber Kasperle!«

Es saß aber an diesem Tage einer am Tisch des Herzogs, das war ein lustiger und gütiger Mann; der Oberstallmeister war es. Dem hatte Kasperle schon viel Spaß gemacht, und er begann sehr herzhaft über das Teufelsgesicht zu lachen. Da merkte Kasperle gleich: Der versteht dich, und es schnitt flugs böse und lustige Gesichter durcheinander, wie es ihm einfiel. Zuletzt mußte selbst der Herzog lachen, und er sagte, Kasperle dürfe an diesem Abend bei ihm bleiben. Da trieb Kasperle die unglaublichsten Narrenpossen, und zuletzt sollte es dem Herzog noch etwas erzählen, als der schon im Bett lag und nicht einschlafen konnte.

Kasperle hockte neben ihm auf einem Stuhle und machte das allerdümmste Gesicht von der Welt, als der Herzog sagte: »Erzähle mir etwas!« Dazu hatte der Kleine keine Lust. Den Herzog allein wollte er auch nicht unterhalten; er dachte an das Einsperren und das kranke Marlenchen.[149] Da drehte er den Kopf schief und schaute den Herzog böse an.

»So ein Gesicht sollst du nicht machen!« rief der Herzog zornig. »Erzähle mir: Wer hat alles im Waldhaus gewohnt?«

Im Waldhaus! Bei der Erinnerung daran vergaß Kasperle seinen Zorn auf den Herzog; sein unnützes Schelmengesicht bekam einen lieben, zärtlichen Ausdruck, und als der Herzog mahnte: »Erzähle mal vom Waldhaus! Lebt denn der Meister Friedolin noch?« Da fing Kasperle an. Wie das Bächlein so flink ging seine Rede. Es vergaß, daß es der Herzog war, der im Bett lag, es war auf einmal wieder im Waldhaus bei Meister Friedolin und Mutter Annettchen. Es schwatzte von der schönen Liebetraut und Herrn Severin, von seinem Michele, von dem am meisten. So etwas hatte der Herzog noch nie gehört. Daß man abends nur Milchsuppe und ein Stück Brot aß und Feste feierte, wenn das erste Schneeglöckchen, die ersten Primeln blühten, die Singvögel heimkehrten, kam ihm wie ein Märchen vor.

Kasperles Augen glänzten. Es redete und redete, es erzählte von den Rehen, die ganz zahm waren und manchmal in die große Waldhausstube hineinschauten, und wie sie stehenblieben und sich streicheln ließen, wenn jemand aus dem kleinen Haus kam. Und von dem zahmen Eichkätzchen, von dem Hasen Wackelbart und der Ziege Ludowisia erzählte Kasperle.

Der Herzog lag ganz still und lauschte. Er meinte den Wald rauschen und die Vögel singen zu hören, und am liebsten wäre er aufgestanden und hätte gesagt: »Komm, Kasperle, wir fahren zum Waldhaus!«[150]

Da zupfte plötzlich der Kammerdiener Kasperle am Jackenzipfel und sagte leise: »Komm, sieh doch, der Herzog ist eingeschlafen!«

Der war wirklich eingeschlafen, er lag und träumte vom Waldhaus, und er sah dabei gar nicht mehr böse und streng wie sonst aus, sondern ganz milde. Kasperle schüttelte erstaunt den Kopf und brummelte: »Da liegt'n anderer im Bett drin!«

»I bewahre«, flüsterte der Kammerdiener, »es ist schon unser Herzog. Freilich, so freundlich hat er lange nicht ausgesehen. Lieber Himmel, ja, wenn er doch immer so aussehen möchte, dann diente ich ihm auch lieber! So, und nun gehe in dein Bett, Kasperle, und schlafe, es ist Zeit!«[151]

Quelle:
Herold Verlag, Stuttgart, 1983, S. 140-152.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon