Maigesang

[210] Er naht, der Freuden – Schöpfer Lenz

Auf sonnenrothem Wagen,

Liebkosend bringen Weste mir

Dies Himmelskind getragen;

Aus seinen goldnen Locken sinkt

Ein Blüthenregen nieder,

Im jungen Laube tönen schon

Der Nachtigallen Lieder.


Des Maies kräft'ger Hauch verweht

Der Veilchen süsse Düfte:

Des Pfirsichs Kronen tauchen sich

In's Bad der Abendlüfte.

Der Kirschbaum neiget seinen Kranz

Herüber zu der Quelle,

Und nicket seinem Bilde zu

Im Tanz der Silberwelle.


Der Liebe süsser Athem weht

Vom goldnen Himmel nieder,

Er regt sich leis' im Blumenkelch,

Und wecket Wehmuthslieder.

Der Sylphe hüpft zum Blumenschooss,

Sanft flötet Philomele,

Und zaubert in die kalte Brust

Das Echo ihrer Seele;
[211]

Und Alles fühlt und Alles schwimmt

In Liebe, Lust und Wonne,

Und spiegelt sich im Morgenthau,

Bei'm ersten Stral der Sonne.

Ihm, der die Welt so schön erschuf,

Soll unser Lied ertönen,

Es steig' empor zum Sternenplan,

Zum Vaterland des Schönen!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 210-212.
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