An den Genius des Todes

[84] Holder! komm, umarme mich,

Sehnsuchtsvoll erwart' ich dich;

Eilend aus dem Weltgedränge

Hin in deine Schattengänge,

Hebt mein Busen freier sich.


O, dann wehet süße Ruh

Mir von Aschenhügeln zu;

Selbst bei spätem Vollmondscheine

Wall' ich gern um Leichensteine,

Mich erschreckt kein Traumgesicht.


Sonder Schrecken, sonder Graus

Wall' ich um das Knochenhaus,

In des Mondes Silberflimmern

Seh' ich Menschenschädel schimmern, –

Mir sind sie nicht fürchterlich.
[85]

Hoffnung hebt mich hier empor,

Voll Entzückens, glaubt mein Ohr,

Daß es schon der Sel'gen Chöre

Laute Hochgesänge höre,

Palmensäuseln fühl' ich schon!


Eil' ich einst der stillen Ruh

Froh in deinen Armen zu,

Wiegst du mich in sanften Schlummer,

Ausgeweint ist jeder Kummer,

Ueber Welten schweb' ich hin!


Eile drum, mein Genius!

Reiche mir den Weihekuß,

Mir erscheinst du nicht mit Hippe,

Wie ein schreckendes Gerippe,

Nein, als Engel grüß' ich dich.

Quelle:
Elise Sommer: Poetische Versuche, Marburg 1806, S. 84-86.
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