[122] Es war wieder Frühling, der erste Frühling seit neun Jahren, den ich als freier Mann begrüßte. Zwar auch im Gefängnisse hatte er sich mir in lieblicher Gestalt gezeigt;[122] ich gedachte mit Freuden der schönen Morgen, die ich in dem großen Directorgarten verlebt, und wie ich auf dem Belvedere gestanden und an der hohen Bastion rechts vorbei auf das Stück Meer geblickt hatte, welches unter dem lichten Frühlingshimmel zu mir herübergrüßte. Doch war diese Freude niemals ohne einen Beigeschmack von Wehmuth gewesen, wie der Gruß eines lieben Freundes, der uns, die wir auf dem Ufer stehen, vom Bord eines stromfahrenden Dampfers winkt. Grüß Dich Gott! – und Dich! – Ein Wort herüber und hinüber und der Wunsch, mitfahren zu können weit, so weit! und dann still und ernst nach Haus gehen müssen an die stille, ernste Arbeit!
Das war nun doch hier anders; anders und schöner, obgleich der lauschige, große Garten fehlte und mein liebes Meer. Aber dafür waren auch die Mauern nicht da, und die verriegelten Thore, und es war kein flüchtiger Gruß, den der Frühling und ich uns von fern zuriefen, worauf ich ihn ziehen lassen mußte in die fernen Lande, während ich selbst zurückblieb. Jetzt war es ein Händedrücken und ein freudiges Umarmen. Wie schön, daß Du wieder da bist! Und Du bleibst doch ein wenig? – Ich habe keine Eile! – Das ist herrlich. Jetzt muß ich an die Arbeit. Aber heut Abend? – Gewiß, heut Abend sehen wir uns wieder!
Und ich sah den Freund am Abend wieder, wenn ich nach der Arbeit noch eine Stunde umherschweifte in den entferntesten Theilen des großen Stadtparks, wohin selten Jemand kam, und wo in den knospenden Büschen die Nachtigall ihre süßen Lieder sang. Und ich sah ihn wieder, wenn ich am Morgen noch vor Aufgang der Sonne auf meinem Balcon stand und nach Osten schaute, wo über dem Gewimmel der Dächer und Schornsteine der östliche Himmel mit Purpurwolken umsäumt war; und eine Stunde später, wenn ich zur Arbeit ging, die ersten Strahlen auf die Giebel der alten, verräucherten Fabrikgebäude fielen, die Sperlinge auf den Regentraufen und in den Mauerlöchern zwitscherten, und die ersten Schwalben über den Maschinenhof schossen, so lustig und emsig, als wäre der schwarze, zollhohe Kohlenstaub das klarste, durchsichtigste Wasser.
Ja, der Frühling war wieder da; ich fühlte seinen warmen Athem mir Stirn und Wangen umspielen und fühlte seinen Kuß auf meinem Munde, und ich sprach bei mir selbst:[123] Es wird noch Alles gut werden! Ist doch so viel Schnee, der in den Winternächten gefallen, weggethaut vor dem milden Hauch des Freundes, und das Eis, das in jenen Nächten gefroren, ist geschmolzen – sollte da der Reif nicht verschwinden, der auch in ein paar Winternächten auf Dein Herz gefallen ist? Frühling, du lieber, linder! und Arbeit, du strenge, ernste! was könnte euch Widerstand leisten, wenn ihr Beide Hand in Hand geht? und welches Herz sollte nicht wieder muthig schlagen, das ihr Beide ganz erfüllt habt?
Und ich warf mich in die ausgebreiteten Arme des Frühlings, und ich faßte der Arbeit schwielige, treue Hand, und ich fand bis auf ein weniges die alte Kraft und das alte Selbstvertrauen wieder.
Bis auf ein weniges! aber das würde sich ja wohl noch finden!
Es gab jetzt Arbeit genug in unserer Fabrik, und es hätte noch viel mehr gegeben, wenn der Commerzienrath sich hätte entschließen können, auch den Bau von Locomotiven zu übernehmen. Die Frage war von der äußersten Wichtigkeit, ja, nach meiner Meinung fiel sie direct mit der Frage der Existenz, zum wenigsten eines wirklichen Gedeihens der Fabrik zusammen. Wenn die Fabrik sich in dieser Branche nicht den Forderungen der Zeit bequemte, war es um ihren wohlverdienten Ruf geschehen. Andere Fabriken, die vielleicht weniger günstig situirt waren, als die unsrige, würden sich mit Macht auf den neuen Zweig werfen, uns überflügeln, voraussichtlich für immer, denn, wenn irgend wo, so ist in der Industrie Stillstand nicht wieder einzubringender Rückschritt. Merkwürdigerweise sträubte sich der sonst so intelligente, unternehmende Mann gegen einen Entschluß, der freilich ohne die größten Anstrengungen, Umwälzungen, gewiß auch nicht ohne manche momentane Opfer in's Werk zu setzen war. Es mußten neue Maschinen angeschafft, es mußte die Dampfkraft gesteigert, das Personal der Bureaux, die Zahl der Arbeiter vermehrt werden; es waren neue Gebäude aufzuführen, was nicht geschehen konnte, wenn man nicht mit dem längst in Frage stehenden Ankauf des Areals, auf welchem ich wohnte, Ernst machte. Das Alles erforderte, um es auszuführen, viel Geld, eine große Einsicht, einen raschen Entschluß.
Nun fehlte es zwar dem Commerzienrath – in der[124] Meinung der Leute wenigstens – nicht an Geld, aber mit der Einsicht und dem Entschluß schien es nicht ebenso wohl bestellt zu sein. Alle, die etwas von der Sache verstanden: der Director der Anstalt, ein einfacher, aber braver Mann, mit dem ich in Arbeiter-Angelegenheiten wiederholt freundlich verkehrt hatte, die jungen Herren vom technischen Bureau, der Obermeister, selbst Klaus – alle waren sie ungeduldig und unzufrieden mit ihrem Chef, der immer noch mit dem entscheidenden Wort zurückhielt, trotzdem jede Woche, die ungenutzt verstrich, ein unwiderbringlicher Verlust war. Aber vielleicht war Niemand ungeduldiger und unzufriedener als ich.
Ich hatte die glänzende, junge Geschichte der Eisenbahnen in England, in Belgien sorgfältig studirt und war überzeugt, daß das Eisenbahnwesen sich auch bei uns in ungeahnten, colossalen Dimensionen entwickeln, mithin der Bedarf an Locomotiven in's Ungeheure wachsen würde. Dazu kam, daß die Locomotive die Lieblingsmaschine meines theuren Lehrers gewesen war, der in seiner genialen Weise mit seinen beschränkten Mitteln manche kühne Erfindung, welche die Zeit nachträglich bestätigte, vorausgeahnt und in seinen Modellen dargestellt hatte. Mir war das Glück zu Theil geworden, ihm bei seinen theoretischen Arbeiten, bei dem Construiren seiner Modelle helfen zu dürfen, und mir glühte der Kopf jetzt, wo ich sah, daß in's Leben treten mußte und wollte, was in der stillen Zelle des Denkers bereits zur Wahrheit geworden. So mag einem Rennpferd zu Muthe sein, das die Bahn, die es durchfliegen soll, vor sich sieht und noch immer zurückgehalten wird, wie es auch in das Gebiß knirscht und mit den Hufen scharrt. Ich sann und sann, wie es möglich sei, den verhängnißvollen Widerstand zu durchbrechen.
Endlich erschien mir dies das Beste: ich wollte ein Promemoria aufsetzen, in welchem ich ausführlich die Gründe entwickelte, die eine Erweiterung der Fabrik unabweislich machten, zugleich den Plan, wie diese Erweiterung ausgeführt werden könne. Dieses Schriftstück sollte dem Commerzienrath geschickt werden, für den eine solche Mahnung doch hoffentlich nicht vergeblich sein würde. Der Doctor, dem ich meinen Plan mittheilte, mißbilligte denselben nicht geradezu, ging aber keineswegs mit der Wärme darauf ein, auf die ich gehofft hatte. Allerdings war er nicht im Stande, sich die[125] theoretische Nothwendigkeit klar zu machen, auch theilte er natürlich meine Leidenschaft für die Locomotive nicht; aber es konnte ihm unmöglich entgehen, daß auf dem von mir angebahnten Wege hunderten und aber hunderten von Arbeitern Brod verschafft werden würde, und das war ihm doch sonst die Hauptsache. Dafür drang er abermals in mich, sein Anerbieten zu acceptiren, und selbst mit seinem Gelde ein Etablissement zu errichten, und es wäre fast wieder zwischen uns zum Bruche gekommen, als ich zum zweiten Male mich weigern zu müssen glaubte, von seiner Großmuth Gebrauch zu machen. Aber wie durfte ich ihn, dessen ganzes Leben ein einziges Opfer für die Armen und Elenden war, der Mittel berauben, welche er so zweckmäßig verwendete? Wenn mein Unternehmen fehl schlug – und es konnte doch fehl schlagen – nein! es mußte anderes Geld sein, mit welchem ich meine Pläne in's Werk setzte. Aber, woher es nehmen, ohne es zu stehlen, oder auf die Ankunft der javanesischen Tante zu warten, deren baldige Ankunft für Klaus und Christel ein Artikel unbedingten Glaubens war? Da mußten sich denn freilich meine Gedanken immer wieder auf den Commerzienrath lenken, und eines Abends fing ich an, mein Promemoria zu schreiben, und vollendete es in sechs aufeinanderfolgenden Nächten.
Aber als es fertig war, kam mir ein neues, schweres Bedenken. Unterzeichnete ich den Aufsatz mit meinem Namen, so war es mit meinem Incognito vorbei; und die Sache stand kaum anders, wenn ich ihn nicht unterzeichnete. Das Schriftchen konnte nur Jemand verfaßt haben, der in der Streber'schen Fabrik vollkommen Bescheid wußte. Der Commerzienrath würde jedenfalls sich nach dem Autor erkundigen; es würde ein Hin- und Herreden geben, das schließlich doch wohl auf den Autor führte, der dann ganz unnöthiger Weise und vielleicht nur zum Schaden der Sache Versteck gespielt hatte.
Es war ein verzweifelter Fall und ich ging Tage lang wie im Traume umher, immer nur an den unglücklichen Aufsatz denkend, der fertig in meiner Stube auf dem Tische lag, und der nun eben so gut hätte ungeschrieben bleiben können.
»Aber Du mußt Dich wirklich entscheiden,« sagte Paula; »und hier kann eigentlich gar keine Frage sein, wie Du Dich entscheiden mußt.«[126]
Ich hatte, aus einer erklärlichen Scheu, was mich jetzt so sehr bedrückte, Paula gegenüber nicht erwähnt, aber vor Kurt, der jetzt unter Klaus' Leitung in der Fabrik arbeitete, und fast jeden Abend, wenn er von der Arbeit kam, eine Stunde bei mir zubrachte, hatte mein Vorhaben kein Geheimniß bleiben können, und er hatte es der Schwester mitgetheilt.
»Du darfst deshalb nicht böse auf Kurt sein,« sagte Paula; »er kann sich nicht denken, daß Du dergleichen vor Deiner Schwester geheimhältst.«
»Und hast Du denn keine Geheimnisse vor mir?« erwiederte ich.
»Wie meinst Du,« antwortete Paula, indem sie mir nicht ohne einige Unsicherheit in die Augen blickte.
Ich mochte nicht weiter gehen, denn ich hätte sonst auf den bedenklichen Punkt kommen müssen, um welchen ich bis jetzt immer sogfältig herumgegangen war: ob die Correspondenz Paula's und Herminens sich zeitweilig auch mit mir beschäftigte. So murmelte ich denn eine unverständliche Erwiederung und brachte das Gespräch auf meine Pläne, meine Hoffnungen und Wünsche in Bezug der Fabrik zurück.
»Du hast mir in letzterer Zeit so wenig von dem, was in Deiner Welt vorgeht, mitgetheilt, ich bin gar nicht mehr orientirt. Laß mich doch Deine Abhandlung lesen; gieb sie Kurt heute Abend mit.«
Das war an einem Sonntag gewesen; in der folgenden Woche hatte es viel Arbeit in der Fabrik und besonders für mich gegeben. Für einen Kreidebruch, den der Commerzienrath neben so manchen anderen industriellen Unternehmungen auf Zehrendorf angelegt hatte, war in unserer Fabrik eine große Maschine von eigener Construction gebaut worden. Ich war bei der Montage der Maschine beschäftigt gewesen. Alles war der Ordnung gemäß vor sich gegangen. Die Grundplatte war nach der Wasserwage genau horizontal gelegt worden, die untere Fläche war nicht genau genug gehobelt gewesen, und man hatte nachgeholfen; die Schwungradwelle war gelegt, die Lagen waren regulirt, die Löcher gebohrt; die Maschine war so weit fertig, daß nur noch die Zusammenfügung der Steuerungstheile und die Regulirung des Dampfschiebers nothwendig war. Auch dies war geschehen; aber als der Monteur, in die Schwungradwelle greifend,[127] die Maschine probeweise in Bewegung setzen wollte, stellte es sich heraus, daß der Schieber eine falsche Bewegung machte. Der Monteur und ich sahen uns bedenklich an; wir verglichen auf das Sorgfältigste die Dimensionen der verschiedenen Theile mit den in der Zeichnung angegebenen Maßen, fanden aber keinerlei Differenz.
»Da sollte doch gleich das Donnerwetter drein schlagen,« sagte der Monteur.
»Was giebt es denn?« fragte der Obermeister Roland, der eben herantrat.
Der Obermeister Roland war ein cyclopenhafter Mann, dem das linke Bein vor Jahren von einer Maschine gebrochen war, und der in Folge dessen hinkte, worauf er sich nicht wenig zu gute that, nachdem er einmal gehört, daß der Gott seines Handwerks, der alte Vulcanus, mit demselben Gebrechen behaftet gewesen sei. Der Obermeister Roland hatte überhaupt eine so gute Meinung von sich, daß unter dem weit überhängenden Strohdach seines dicken Schnurrbartes um den linken Mundwinkel beständig ein überlegenes Lächeln spielte, welches von Zeit zu Zeit in den dichten Urwald seines struppigen Kinn- und Backenbartes schlüpfte, um dort vermuthlich ungesehen weiter zu spielen.
Der Obermeister Roland blickte, nachdem ihm der Fall vorgelegt war, den Monteur, mich und zwei andere Arbeiter, die noch zugegen waren, der Reihe nach an, ließ das sonnige Urwalds-Lächeln unter dem Strohdach munter spielen und sagte dann: »Nun, dann steckt irgendwo ein Fehler in der Ausführung, geben Sie mir einmal die Zeichnungen.«
Herr Roland verwechselte übrigens consequent den dritten mit dem vierten Fall und umgekehrt; er behauptete in gemüthlichen Stunden, daß seit Blücher, ja wahrscheinlich schon seit undenklichen Zeiten, alle großen Männer in Deutschland dieselbe liebenswürdige Schwäche gehabt hätten.
Herr Roland fing an, die Maße zu vergleichen, gerade wie wir es, bevor er dazu kam, gethan hatten; aber je länger die Vergleichung dauerte, ohne daß ein Resultat zu Tage kam, je matter wurde das sonnige Lächeln und es war gänzlich in dem Urwald verschwunden, als er eine Viertelstunde später mit den Zeichnungen in der Hand zum Maschinenhaus hinaus in das technische Bureau ging, und unter[128] dem Strohdach hervor mit ärgerlicher Stimme brummte: »Da muß irgend ein Fehler in den verdammten Zeichnungen sein.«
Ich war bereits nicht mehr der Meinung, die ich anfänglich allerdings auch gehabt hatte. Mir dämmerte der Verdacht auf, daß die Zeichnungen freilich richtig und eine Differenz der Maße auch nicht vorhanden sei, die Sache vielmehr tiefer stecke.
So stand ich denn mit über der Brust verkreuzten Armen, während der Monteur, die Hilfsarbeiter und noch einige Andere, die hinzugetreten waren – denn die Feierabendstunde war bereits angebrochen – den bösen Fall auf ihre Weise ventilirten. Da sollte an der Expansions-Schiebestange ein Gewinde mit falscher Steigung eingeschnitten sein, und auf welche Vermuthungen diese eifrigen und ernsten Männer sonst geriethen.
»Die Sache wird sehr einfach sein;« sagte Herr Windfang vom technischen Bureau, welcher eben mit dem betrübten Obermeister herantrat.
Herr Windfang hatte gar nichts Cyclopenhaftes, im Gegentheil, er war ein feiner, junger Herr, der auch durchaus nicht hinkte, und bei welchem selbstverständlich das Verhältniß des dritten zum vierten Fall vollständig geregelt war.
»Die Sache wird sehr einfach sein,« wiederholte Herr Windfang; »lassen Sie einmal Probe drehen.«
Es wurde, ich weiß nicht zum wie vielten Male, Probe gedreht, und der abscheuliche Schieber blieb in unbegreiflicher Hartnäckigkeit dabei, seine falsche Bewegung zu machen.
»Geben Sie mir die Zeichnungen,« sagte Herr Windfang; »ja so, ich habe sie schon hier; der Fehler muß in der Ausführung stecken.«
Während dieselben Untersuchungen und Messungen noch einmal angestellt wurden, die der Monteur und ich vorhin schon angestellt hatten, war ich meiner Sache so gewiß geworden, daß ich, als Herr Windfang mit einem sehr verblüfften Gesicht Herrn Roland, und Herr Roland mit einem schwachen Schimmer des sonnigen Lächelns um den linken Mundwinkel Herrn Windfang ansah, ich mich nicht länger halten konnte und sagte: »Das Vergleichen hilft uns nichts, die Maße stimmen; der Fehler ist so nicht herauszubringen, denn er ist ein Constructions-Fehler und steckt im Steuerungs-Mechanismus.«[129]
Ein so kühnes Wort konnte nicht verfehlen, die Blicke aller Anwesenden auf mich zu lenken. Der junge Herr Windfang nahm mit den Augen mein Maß von unten bis oben und dann von oben bis unten, was, da er ziemlich klein war, einige Zeit erforderte; in dem Urwald des Roland'schen Backenbartes spielte unter dem Schutze des Strohdaches das bewußte Lächeln bereits recht munter. Wenn die Sache sich so verhielt, wie ich sagte, so traf weder ihn noch einen seiner Untergebenen die Schuld, welche in das technische Bureau zurückfiel, was unter allen Umständen für das Herz eines braven Obermeisters eine erfreuliche Wendung ist; der Monteur, der große Stücke auf mich hielt, nickte mit dem Kopfe, als wenn er sagen wollte: da habt Ihr's; die Arbeiter sahen sich an und lächelten.
»Wie können Sie so etwas sagen, Herr!« rief Herr Windfang, indem er sich vor mich hinstellte und in möglichster Schnelligkeit mir noch einmal das Maß mit den Augen nahm.
»Weil ich überzeugt bin, daß es sich so verhält,« antwortete ich ruhig.
»Das ist eine Arroganz, Herr!« schrie der Ingenieur.
»Aber Sie und die anderen Herren sind doch nicht unfehlbar, wie der Papst zu Rom,« erwiederte ich.
Hier lachten die Leute laut heraus.
»Wir werden uns wieder sprechen!« rief Herr Windfang.
»Ja, das werden wir,« erwiederte ich.
Der kleine cholerische Herr lief zornentbrannt zum Maschinenhause hinaus, aber der Obermeister schüttelte mir die Hand und sagte: »Ich danke Ihnen, Hartwig; Sie haben es ihm ordentlich gegeben;« und die Leute begleiteten mich bis über den Hof, laut auf mich einsprechend und mir auf jede Weise zu erkennen gebend, daß meine Sache auch die ihre sei. Klaus und Kurt, die aus einer anderen Werkstatt kamen, traten gleichfalls heran. Sie hatten eben von dem großen Streit, der zwischen mir und dem technischen Bureau entbrannt war, gehört, und sie verlangten zu wissen, wie die Sache stehe. Ich gab ihnen nothdürftig Bescheid, denn es drängte mich, nach Hause zu kommen, den hingeworfenen Handschuh zu verfechten. Ich hatte sämmtliche Zeichnungen und Maße der Maschine, um die es sich handelte, und an welcher ich von den ersten und rohesten Arbeiten an mitgearbeitet hatte.[130] An literarischen Hilfsmitteln fehlte es mir auch nicht; auf der Lampe war Oel, in dem Kamine glühte ein Kohlenfeuer, der Nachtkühle zu wehren.
Und so saß ich denn die kühle Frühlingsnacht hindurch mit brennender Stirn und glühenden Augen messend, rechnend, vergleichend und construirend, und als über dem Gewimmel der Dächer und Schornsteine die ersten rosigen Morgenwolken sich zeigten, hatte ich gefunden, was ich suchte, unverlierbar mit unwiderleglichen Formeln und Zahlen. Da lag es auf dem Tische in einer sauberen Zeichnung mit eingeschriebenen Maßen und da stand es in meinem Kopf und aus dem Kopf zog der Sieg hinab in mein Herz, das stark und kühn gegen die Rippen schlug und schier übermüthig zu pochen anfing. Aber ich sagte: sei ruhig, Herz! Du verdankst doch schließlich Alles ihm! Und es war mir, als ob aus der rosigen Dämmerung das verklärte Antlitz meines Freundes und Lehrers auf mich herabschaute, und die Thränen kamen mir in die Augen. Dann ging ich still in mein Zimmer zurück, warf mich auf mein Lager und schlief ein oder anderthalb Stunden einen so tiefen, süßen Schlaf, wie ich je im Leben geschlafen.
»Nun, wie steht's, Malaye?« fragten meine Collegen, als ich auf dem Platze erschien.
»Nun, wie steht's, Hartwig?« fragte der Obermeister, der bereits wieder – ohne zu lächeln – vor der unglücklichen Maschine stand.
»Nun, wie steht's, Georg?« fragten Klaus und Kurt, die aus ihrer Werkstatt herübergekommen waren.
»Die Sache ist die,« sagte ich.
Und ich trat an die Maschine und begann einen kleinen Vortrag, in welchem ich das Resultat meiner nächtlichen Arbeit, ich glaube, in klarer, bündiger Weise darzulegen wußte, denn es hörten Alle mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu und auf den Gesichtern meiner Zuhörer wurde es heller und heller, bis, als ich meinen Vortrag beendet, Kurt in die Hände klatschte, Klaus mit unsäglichem Stolz um sich blickte, die Leute sich mit bedeutsamen Mienen einander zunickten und der Obermeister Roland mit einem wahrhaft sonnigen Lächeln unter dem Strohdach mir die Hand reichte und sagte: »Immer drauf, mein Sohn, immer drauf, wir wollen es ihnen schon geben!«[131]
»Du sollst einmal zum Director kommen, Malaye,« meldete der Bureaudiener, der herantrat.
Meine Zuhörerschaft blickte sich bedenklich in die Augen.
»Immer drauf, mein Sohn!« sagte der Obermeister, »gieb es ihnen!«
Der Director, Herr Berg, war allein in seinem an das technische Bureau grenzenden Arbeitszimmer. Er schien mich mit einiger Ungeduld erwartet zu haben.
»Ich habe gehört, Hartwig,« sagte er, »daß Sie den Fehler an der neuen Maschine entdeckt haben wollen. Obgleich mir das nun mehr als zweifelhaft erscheint, so findet denn auch manchmal Euer Einer etwas, wonach die Anderen tagelang vergeblich suchen. Ich habe selbst von der Pike auf gedient, und kenne das. Was glauben Sie denn nun, was es ist?«
»Ich glaube es nicht mehr, Herr Director, seit einer Stunde weiß ich es;« sagte ich.
Ich sagte es ohne jede Ueberhebung, ganz bescheiden; und ganz bescheiden nahm ich meine Berechnung und Zeichnung aus der Tasche und fing an, dieselbe dem Director zu erläutern. Der Fall war ziemlich complicirt und die Rechnung nicht minder, und die Formeln, die zur Anwendung kamen, nicht sehr einfach. In meinem Eifer dachte ich gar nicht daran, daß ich, indem ich so meine Weisheit auskramte, das so lange und streng festgehaltene Incognito fallen ließ, und wurde erst durch die sonderbare Miene aufmerksam gemacht, mit welcher der Director mich anblickte. Der Mann stand da und sah so verwundert aus, wie der arme Menelaus ausgesehen haben mag, als sich vor seinen Augen und unter seinen Händen der räthselhafte Meergreis in einen bärtigen Leuen des Gebirges verwandelte.
»Um Gottes willen, Herr, wie kommen Sie denn dazu?« rief er endlich, als er wieder Worte finden konnte.
»Aber Sie haben mir ja selbst gesagt, Herr Director, daß Sie von der Pike aus gedient haben, und da wissen Sie doch wie man bei einigem Fleiß und einiger Aufmerksamkeit zu dergleichen kommt.«
Herr Berg sah mich mit einer Miene an, aus der erklärlich zu lesen war, daß er für den Augenblick nicht wußte, was er aus mir machen sollte. Er faßte sich indessen als ein verständiger Mann und sagte: »ich möge ihm die Zeichnung[132] und die Ausarbeitung ein wenig dalassen; er gäbe mir sein Ehrenwort, daß Niemand außer ihm dieselbe zu sehen bekommen werde; wenn ich das Rechte gefunden, solle mir der Ruhm verbleiben, unterdessen würden ja auch wohl die Herren vom technischen Bureau mit ihrer Ansicht hervortreten.«
Aber es währte ein, zwei, drei Tage, bis dies geschah; es währte so lange, daß die ganze Fabrik in ein Fieber der Erwartung hineingerieth. Von dem Obermeister bis zu dem letzten Mann, der den schweren Zuschläger schwang, wußten Alle, daß der Malaye aus der Schlosserwerkstatt herausgefunden habe, wo der Fehler in der neuen Maschine stecke, und daß die Herren vom technischen Bureau schon seit drei Tagen rechneten, und ihn nicht finden könnten, und daß Klaus Pinnow gesagt: er wolle seinen Kopf verwetten, der Malaye werde gewinnen, und daß der junge Herr von Zehren, der bei Klaus Pinnow in der Werkstatt lerne, zu Herrn Windfang – mit dem er übrigens sonst sehr befreundet war – geäußert: Es sei ein großer Leichtsinn, seinen Kopf gegen das technische Bureau zu verwetten, da dasselbe, obgleich es aus sechs Köpfen bestehe, keinen dagegen einzusetzen habe.
So kam der Sonnabend heran. Die unglückliche Maschine stand noch immer unberührt da, – eine eigensinnige Sphinx, die vorläufig Niemandem als mir ihr Räthsel gesagt hatte. Wir hatten eine andere Arbeit vorgenommen, aber die Leute schafften nicht so fleißig, wie sonst wohl. Ist es doch dem Menschen eingeboren, daß er nicht gern an etwas Neues geht, bevor das Alte abgethan ist, und da lag etwas hinter den Leuten, was noch nicht abgethan war.
»Sie möchten einmal zum Director kommen, Herr Hartwig!« sagte der Bureaudiener, der herzutrat.
Die Leute blickten von ihrer Arbeit auf, augenscheinlich verwundert, daß aus dem Malayen plötzlich ein »Herr Hartwig« geworden war. Sie sahen sich einander an; ein Jeder fühlte, daß jetzt die Entscheidung da sei; und der Obermeister Roland, der zufällig durch den Raum ging, trat mit feierlich hinkendem Schritt auf mich zu, reichte mir seine Cyclopen-Hand, und sagte: »Immer drauf, mein Sohn, immer drauf, gieb es ihnen! gieb es ihnen tüchtig!«
Mit diesem Segen ausgerüstet, erschien ich eine Minute später in dem Zimmer des Directors, der sich bei meinem[133] Eintreten von seinem Zeichnentisch aufrichtete, mir entgegenkam, und die Hand bot. Seine Hand schien mir etwas nervös und die ehrliche Miene des Mannes drückte eine nicht geringe Verlegenheit aus.
»Ich gratulire Ihnen, Herr Hartwig,« sagte er; »Sie haben Recht gehabt. Ich habe schon seit drei Tagen nicht daran gezweifelt, aber freilich: wenn Einer das Ei hingestellt hat, weiß der Andere auch, wie man es machen muß. Und dann war ich gar nicht sicher, ob ich es selbst herausgefunden haben würde. So war es denn recht und billig, daß ich die Herren vom Bureau erst einmal ihr Heil versuchen ließ. Nun, es hat lange gedauert, bis sie damit zu Stande gekommen sind, und schließlich ist Ihre Berechnung gerade dreimal so einfach, als die der Herren. Ich habe ihnen schon ein wenig die Köpfe gewaschen. Jetzt sitzen sie da, und lassen sie hangen.«
Der bescheidene Mann ließ seinen Kopf auch ein wenig hangen.
»Nun, Herr Director,« sagte ich, »es ist ja gut, daß der Fehler entdeckt ist; wer ihn entdeckt hat, darauf kommt ja schließlich wenig an.«
»Erlauben Sie, Herr Hartwig,« sagte der Director; »ich bin anderer Meinung. Es kann für den Director einer Anstalt, wie diese, nicht gleichgültig sein, ob die Aufgaben des technischen Bureaus im Bureau, oder in der Maschinenwerkstatt gelöst werden. Denn die Hauptsache ist doch, daß Jeder an der Stelle steht, wo er hingehört, und nach dieser Probe hier« – der Direktor legte seine Hand auf die vor ihm liegende Zeichnung – »bedarf es ja wohl keines weiteren Beweises, daß Sie sich in einer verzweifelt falschen Stellung befunden haben.«
»Aber, Herr Director,« sagte ich, »das ist denn doch schließlich meine Schuld; es pflegt Jeder so zu liegen, wie er sich bettet.«
»Ja,« sagte der Director, »das ist auch mein Trost; aber lieber wäre es mir doch gewesen, wenn Sie mir von Anfang an reinen Wein eingeschenkt hätten. Ich könnte dann die Nase, die mir der Herr Commerzienrath heute geschickt hat, mit Protest zurückschicken. Da – lesen Sie einmal!«
Ich nahm das Blatt, welches mir der Director reichte, und überflog einen etwa vier Seiten langen Brief, in welchem der arme Herr mit allen möglichen Vorwürfen überschüttet[134] wurde, weil er einen Menschen wie mich, dessen mathematisches und technisches Genie von ihm – dem Commerzienrath – längst gekannt sei, in der Fabrik gehabt, und ihm davon keine sofortige Meldung gemacht habe; »und schließlich, Herr Director, wenn Sie die wichtigsten Ereignisse verschweigen zu dürfen glauben, so wäre es wenigstens Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, meinem jungen Freunde eine seinen Fähigkeiten angemessene Stellung einzuräumen; oder fürchteten Sie vielleicht, daß diese Stellung keine andere sein würde, als Ihre eigene Stellung, mein Herr Director?«
»Aber das ist unwürdig!« rief ich, den Brief auf den Tisch werfend.
Der brave Mann schüttelte den Kopf. »Er meint es nicht so schlimm,« sagte er, »und wenn auch, unser Einer ist daran gewohnt; lesen Sie nur weiter!«
»Ich mag nichts mehr lesen,« sagte ich.
»Doch, Sie müssen,« entgegnete der Director; »das Wichtigste kommt noch: sehen Sie hier: ›Unter diesen Umständen gibt es für meinen jungen Freund nur eine Genugthuung. Diese besteht darin, erstens, daß Sie ihn sofort in das technische Bureau befördern, zweitens, das Sie ihn in meinem Namen bitten, die Aufstellung der Maschine für den Kreidebruch auf Zehrendorf an Ort und Stelle zu überwachen. Ich habe dieserhalb auch an ihn selbst geschrieben.‹«
»Nun,« sagte der Director mit gutmüthigem Lächeln, »was den ersten Punkt betrifft, so haben Sie sich ja durch Ihre Arbeit selbst einen Platz im technischen Bureau erobert, und was das Zweite angeht, so thun Sie mir einen speciellen Gefallen, den Sie mir der Nase wegen – Sie wissen, was ich meine – vielleicht schuldig sind, wenn Sie den Auftrag, nach Zehrendorf zu gehen – ich wollte eigentlich Herrn Windfang schicken – acceptiren. Die Umänderung der Maschine wird doch eine Woche in Anspruch nehmen, und wie ich den Commerzienrath kenne, riskire ich durch diese Verzögerung meine Stelle, findet sich nicht ein Freund, der ein gutes Wort für mich spricht. Und nun gehen Sie sofort nach Haus. Sie werden Manches zu besorgen haben, und Sie müssen heute Abend mit dem letzten Zuge fort; ich komme aber noch vorher zu Ihnen.«
Der Director schüttelte mir kräftig die Hand, und ich ging nach Hause in der seltsamsten Stimmung von der Welt.
Ausgewählte Ausgaben von
Hammer und Amboß
|
Buchempfehlung
»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro