Zwölftes Capitel.

[135] Und diese Stimmung wurde noch gesteigert, als ich, nach Hause kommend, einen Brief des Commerzienrathes aus Zehrendorf auf meinem Tische fand.

»Lieber junger Freund! O diese Weiber, diese Weiber! So eben erfahre ich, was Sie mir ein halbes Jahr lang verschwiegen haben, daß Sie bereits seit eben so lange, wie Simson unter den Philistern, in meiner Fabrik arbeiten. Habe ich nicht schon, als ich Sie zuletzt im Hause meines unvergeßlichen verewigten Freundes sah, Sie gebeten und wieder gebeten, Sie möchten es mich wissen lassen, sobald Sie frei wären? Warum haben Sie es nicht gethan? warum Ihr Licht so lange unter den Scheffel gestellt? Das haben Sie nun freilich von jeher gethan; aber um so mehr ist es Zeit, daß Sie Ihr Licht leuchten lassen vor den Leuten, vorläufig vor mir. Kommen Sie deshalb so schnell als möglich hierher! Ich habe eine Menge Dinge mit Ihnen zu besprechen, so wohl hiesige, als Fabriksachen, welche Sie ja, wie ich leider erst seit heute weiß, aus dem Grunde – diese Worte waren unterstrichen – verstehen. Sie werden hier hoffentlich ein paar gute Tage verleben, unter lauter guten alten Bekannten, von denen keiner älter ist und es besser mit Ihnen meint, als Ihr ganz ergebenster Philipp August Streber.«

Ich ließ den Brief, welcher in einer großen runden, hier und da bereits etwas zitternden Kaufmannshand geschrieben war, auf den Tisch fallen, und ging, in tiefstes Erstaunen verloren, in meinem Zimmer auf und ab. Woher in aller Welt wußte der Mann, daß ich hier war? daß ich von diesen Dingen etwas verstand? von wem wußte er es? Es gab ja doch nur eine Möglichkeit. Aber weshalb –

»Aber weshalb mich mit allen diesen Weshalb quälen,« rief ich; ergriff meinen Hut und eilte den langen Weg in Paula's Wohnung.

»Wir sind heute Morgen ein wenig nervös,« flüsterte mir mein alter Freund zu, als wir vor der Thür zu Paula's Atelier standen.[136]

»Sie wissen nicht, was es ist?« fragte ich in demselben Ton.

Der würdige Mann schüttelte jenes Haupt, das nach seiner Meinung in der modernen Kunstgeschichte eine so große Rolle spielte und sagte: »Man müßte sieben Sinne haben, wie ein Bär, wenn man immer wissen sollte, was denen lieben Geschöpfen im Herzen steckt.«

Damit öffnete er mir die Thür. Paula war, wie mir bereits Süßmilch gesagt hatte, allein. Sie legte schnell Pinsel und Palette weg, und kam auf mich zu, mir schon von weitem die Hand entgegenstreckend. Ich sah auf den ersten Blick, daß sie geweint hatte, und obgleich ihre Wangen in diesem Augenblick in lebhaftem Roth aufglühten, erschien sie mir trotzdem bleich und angegriffen.

»Du hast mich erwartet, Paula,« sagte ich, ihre Hand in der meinen behaltend.

»Ja,« sagte sie, »und da Du außer der Zeit kommst, denke ich, weißt Du auch, weshalb ich Dich erwartet habe.«

»Nicht wahr, Paula,« sagte ich, »Du hast dies so gethan?«

»Ja,« sagte sie.

Sie sah mir groß in die Augen. Ihr Blick hatte wieder jenen seltsamen, halb wehmüthigen, halb zornigen Ausdruck, den ich nur einmal wahrgenommen – an dem Morgen des verhängnißvollen Tages, als sie an dem Belvedere, das der Sturm zusammengeworfen, sich aus meinen Armen löste, in denen ich sie hatte schützen wollen. Es war eine Erinnerung, die mich mit einer unbestimmten Furcht erfüllte, die mich so befangen machte, daß ich vor diesen großen herrlichen Augen meine eigenen Augen senken mußte.

Aber als ich aufschaute, war der seltsame Ausdruck aus ihren Augen verschwunden und ihre Stimme war sanft, wie immer, als sie, mich wieder bei der Hand ergreifend und zu einem kleinen Sopha führend, sagte:

»Komm, laß uns sitzen, und recht ruhig und klug, wie es sich für Geschwister schickt, überlegen, was wir thun wollen.«

»Hat man dort immer gewußt, daß ich hier war, Paula?« sagte ich.

»Ja,« erwiederte sie, »und ich hätte Dir Alles gesagt, sobald Du mich gefragt hättest; aber Du hast mich nicht gefragt; es war ein kleines Geheimniß, das Du, obgleich ganz[137] unnöthigerweise, vor Dir selbst haben zu müssen glaubtest; ein unschuldiges Versteckspielen, wie es wohl Jeder einmal mit sich spielt. Sie hat auch Versteck gespielt; ich sollte Dir durchaus nicht sagen, daß sie den Richard Löwenherz um jeden Preis haben mußte, und daß sie sich in jedem Briefe nach Dir erkundigt. Und auch ihr habe ich gesagt, daß ich nur so lange schweigen würde, als Du nicht fragtest. Der Commerzienrath aber hat es, glaube ich, wirklich nicht gewußt, obgleich man ihm nicht recht trauen kann. Denn, daß er jetzt, wie er mir selbst schreibt, so eifrig nach Dir verlangt, ist kein Beweis: er braucht Dich eben.«

»Du hast mein Promemoria an ihn geschickt?« fragte ich.

»Das war abscheulich, nicht?« sagte Paula, mit bleichen Lippen lächelnd; »aber ich mußte thun, was Du, zu thun, Dich scheutest, vielleicht selbst nicht thun konntest; mußte es auf die Gefahr Deiner Ungnade hin, denn hier stand, soviel ich sehen konnte, Deine ganze Zukunft auf dem Spiel.«

»Meine ganze Zukunft?«

»Kaum weniger als das, eher noch etwas mehr; denn Du mußt wissen, Georg, ich bin stolz ans Dich und überzeugt, daß Dir nur die Mittel fehlen, um in Deinem Fach etwas ganz Bedeutendes zu leisten. Der Commerzienrath hat die Mittel. Du mußt sie ihn anwenden lehren; Du bist der Einzige, der es kann. Ich weiß es von früher her, daß er mit jenem Scharfblick, der solchen Männern eigen ist, Deine Trefflichkeit sehr wohl erkannt hat; und nun hat er ja auch den Beweis in Händen, was Du vermagst; dazu kommt, daß er Dir persönlich wohl will, so weit bei einem Egoisten, wie er, von einem uneigennützigen, rein menschlichen Wohlwollen die Rede sein kann, mit einem Wort: der Augenblick ist so günstig, wie schwerlich je wieder.«

»Du schickst mich fort, Paula,« sagte ich, »aus den lieben alten Verhältnissen in ganz neue, ganz unbekannte, aus denen ich schwerlich wieder zurückkehren werde, wie ich gegangen bin, und schwerlich wieder finden werde, was ich verlassen habe. Hast Du das Alles wohl bedacht? und wenn Du es, wie ich annehmen muß, bedacht hast, so – Paula, ich wollte, es würde Dir weniger leicht, mich fortzuschicken.«

»Wer sagt Dir, daß es mir leicht wird,« erwiederte Paula, indem sie schnell aufstand, und ein paar Schritte in das Zimmer hineinthat. Es war wohl nur ein Zufall, daß[138] diese Schritte sie zu ihrer Staffelei führten. Sie blieb, von mir abgewandt, vor derselben stehen.

»Ich meine,« sagte ich, »es möchte Dir schwerer werden, mich zu missen, wenn nicht um Deinetwillen, so doch Deiner Mutter willen, und der Brüder willen, daß ich mit einem Worte ihnen das wäre, was Du ihnen jetzt bist. Aber, Paula, Du bist von jeher sehr stolz gewesen, und – Du hast freilich jetzt mehr Ursache dazu, als je.«

Es dauerte eine Zeit, bis Paula antwortete. Sie hatte sich an der Staffelei zu schaffen gemacht; endlich sagte sie:

»Ihr Männer seid doch wunderlich; überall wollt Ihr Eure Hand im Spiele haben; selbst das Gute geschieht nicht nach Eurem Sinn, wenn es nicht durch Euch geschieht. Aber das ist ja auch nur eine vorübergehende Stimmung, die ich sehr wohl verstehe –«

»Ich weiß nicht, ob Du sie ganz verstehst,« sagte ich beklommen.

»Doch, doch,« erwiederte Paula, indem sie sich tiefer auf die Staffelei neigte, »hat man Jemand so lieb, wie Du uns, möchte man immer nur schenken, und betrachtet es als eine schwere Einbuße, wenn man einmal dazu nicht im Stande ist. Aber ich weiß eigentlich nicht, weshalb wir uns ohne alle Noth das Herz so schwer machen. Du sollst uns ja nicht geraubt werden! Du sollst nur endlich aus einem engen, kläglichen Fahrwasser, das sich für ein so großes stolzes Schiff gar nicht ziemt, hinaus auf das offene Meer, hinein in die weite Welt. Da wirst Du uns freilich oft ein wenig, vielleicht manchmal ganz und gar vergessen müssen. Der Mann, der in's Große und im Ganzen wirken will, muß die Arme frei haben; er kann und darf nicht das Spielzeug seiner Kindheit, die Idole seiner jungen Jahre durch das ganze Leben schleppen. Ich möchte, daß Du Dir das ganz klar machtest, Georg, in diesem Augenblicke klar machtest, von dem ich wiederhole, daß ich ihn für durchaus entscheidend halte, denn zum ersten Male in Deinem Leben trittst Du nach langen, langen Lehrjahren in Deine Meisterrechte; zeigst Dich, darfst Dich zum ersten Male zeigen, als der, der Du bist. Vor diesem Entschluß – denn es ist ein Entschluß, Georg, sein zu wollen, was man ist, – muß alles Andere in den Hintergrund treten, Alles, Georg, und Alle – auch wir: unsere Mutter, die Brüder, Deine Schwester.«[139]

Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen – sie hatte es gar zu tief herabgebeugt; aber sie hatte Thränen in ihrer Stimme.

Ich trat an sie heran; sie wandte das Gesicht nicht zu mir.

»Paula,« sagte ich.

Ich wollte mehr sagen; ich wollte ihr Alles sagen; ihr sagen, daß, wenn ich sie darüber verlieren sollte, mir, was ich auch immer erringen könnte, sehr, sehr armselig erscheine, daß –

»Paula,« sagte ich noch einmal; aber ich sagte es auf meinen Knieen, während mir die heißen Thränen aus den Augen stürzten. Ich rang nach Worten; ich fand die rechten nicht; ich war außer mir.

Eine weiche Hand strich sanft über mein Haar, und ich weiß es nicht mehr – ich wußte es schon im nächsten Augenblicke nicht – aber mir war und ist, als ob ihre Lippen flüchtig meine Stirn berührten. Dann aber hörte ich ihre Stimme über mir und die Stimme klang mild und süß und klar: »Georg, mein Bruder, Du mußt Deiner armen Schwester das Herz nicht so schwer machen. Und nun stehe auf, Georg, und sage der Mutter Lebewohl! Sie hat diese Stunde lange kommen sehen, ja, sie hat sie ungeduldig herbeigewünscht. In ihr lebt mehr als in uns Beiden, Georg, viel mehr! – der Geist unsers herrlichen Vaters. Sie weiß es, denn sie hat es selbst erfahren, daß der Mann Haus und Hof und Weib und Kind und Alles, was ihm sonst theuer ist, verläßt, um sein Blut, sein Leben einer großen, guten Sache zu weihen. Komm, Georg!«

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 135-140.
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