Achtzehntes Capitel.

[208] Ich hatte mich auf eine Bank gesetzt, die hier in dichtem Baum- und Buschwerk stand. Es war ein lauschiges Plätzchen. Die Vögel zwitscherten gar vergnüglich; ein leiser Wind, der aus dem Garten heranwehte, trug süßen Wohlgeruch auf seinen weichen Schwingen; von dem blauen Himmel strahlte eine warme, erquickliche Sonne – der Ort war so lieblich und die Stunde war so schön, und ich mußte denn[208] doch der holden Lockung folgen, so sehr ich ihr auch heute wiederstrebte. Mein Blut fing an ruhiger zu fließen, ich begann mich für ein Spechtpärchen zu interessiren, das in dem Astloch eines benachbarten, kürzlich erst aus dem Rossow'schen Park hierher verpflanzten Baumes seine junge Wirtschaft angesiedelt hatte und zu der engen Oeffnung aus- und einschlüpfte: es war ein so friedliches, liebes Bild; die Thierchen hatten es so eilig und waren so unermüdlich fleißig und alles offenbar aus eitel Liebe – die Welt war am Ende doch nicht so schlecht, wie sie mir eben erschienen war.

Und mit diesen Gedanken mußte ich die Augen geschlossen haben, wohl gar eingeschlafen sein, denn ich sah, wie mir gegenüber die Büsche, hinter welchen ein Pfad vorüberführte, auseinandergebogen wurden, und in der so entstandenen Oeffnung ein Gesicht sich zeigte: ein schönes Mädchengesicht, auf dem die Sonnenlichter mit den Schatten der Zweige spielten, und das ich in Folge dessen, und weil ich es eben nur träumte, nicht genau genug sehen konnte, um zu entscheiden, ob das, was in den Augen glänzte, Zorn war oder Liebe. Als ich selbst die Augen wieder öffnete, sah ich wohl die Stelle in den Büschen noch ganz deutlich, aber natürlich das holde Gesicht nicht mehr; dafür schlug in diesem Augenblicke helles Lachen an mein Ohr, und laute Worte und Peitschenknall und dazwischen ängstliche Rufe, wie einer Bittenden und plötzlich ein geller Angstschrei, der mich von der Bank auffahren und nach dem Orte hineilt ließ, von welchem der Lärm zu mir herüberschallte.

Es war ein ebenfalls mit Buschwerk umgebener runder Platz, der als Reitbahn benutzt wurde, und von mir selbst während meines Aufenthaltes wiederholt benutzt worden war, indem ich unter Aufsicht und Leitung des alten Kutschers Anton, eines früheren Cavalleristen, meine etwas lückenhafte Kenntniß der equestrischen Kunst zu erweitern mich bestrebte. Wir hatten das in der ersten Morgenfrühe in aller Stille gethan, weil ich wußte, daß Hermine, die eine leidenschaftliche Reiterin war, während des Vormittags bald früher oder später eine Stunde Schule zu reiten pflegte. Neuerdings hatte mir Anton noch anvertraut, daß auch Fräulein Duff an diesen Uebungen Theil nehme, auf Wunsch des gnädigen Fräuleins, die es sich plötzlich in den Kopf gesetzt, auf ihren Ausflügen und Besuchen in der Nachbarschaft außer dem Reitknecht,[209] den sie noch dazu oft genug zu Hause lasse, eine Begleiterin zu haben. Die Sache war mir, trotzdem sie mir der alte Anton, der gar nicht wie ein Schelm aussah, mit dem ernsthaftesten Gesicht versichert hatte, ganz unglaublich erschienen; jetzt sollte ich mich von der Wahrheit der seltsamen Nachricht überzeugen.

In der Mitte der Reitbahn standen Arthur, der mit einer großen Peitsche unaufhörlich knallte; Hermine, die sehr lachte; die beiden Eleonoren – noch in Unschuld-Weiß – die sich umschlungen hielten; zuletzt Anton, der offenbar nicht wußte, ob er dem mehrmals wiederholten Befehle Arthur's: »daß Sie sich nicht unterstehen!« Folge leisten, oder den flehentlichen Bitten Fräulein Duff's nachkommen und der Aermsten vom Pferde herabhelfen sollte. Es schien, als ob man eben die Longe, vielleicht zum ersten Mal, losgelassen hatte, und die ungeschickte und überaus furchtsame Reiterin darüber in tödtliche Angst gerathen sei. Wenigstens hatte sie in diesem Augenblicke ihre beiden Arme in voller Verzweiflung um den Hals des Pferdes – eines kleinen, krausmähnigen, ponyartigen Thieres – geschlungen, das seinerseits wieder die bereits halb aus dem Sattel Geschleuderte vollends abzustreifen suchte, und mit gesenktem Kopfe unaufhörlich hinten ausschlug. Das sah nun allerdings unglaublich lächerlich aus; aber ich konnte doch meine gute Freundin nicht einen Augenblick in der Situation sehen, ohne ihr zu helfen, und so war ich denn mit ein paar raschen Schritten an ihrer Seite, und hatte sie, die mir ihre Arme sofort entgegenstreckte, aus dem Sattel gehoben. Ich wollte sie nun sanft auf die Erde gleiten lassen, aber vergebens, daß ich ihr mit leisen Worten zuredete, doch verständig zu sein und keine Scene zu machen. Wie sie vorhin den Hals des Pferdes umklammert hatte, so umklammerte sie jetzt den meinigen, und schien die größte Lust zu haben, in meinen Armen, an meiner Brust ohnmächtig zu werden. Mag nun gleich eine derartige Situation unter Umständen für den Ritter nicht ohne alle Reize sein, so wird sie bedenklich, falls seine holde Last durchaus in den Jahren ist, in ihren eigenen Schuhen stehen zu können, und geradezu unerträglich, wenn die Umstehenden, anstatt sich seiner zu erbarmen, und ihn von seiner Bürde zu befreien, die Hände nur regen, um wie toll zu klatschen und in ein nicht endenwollendes Gelächter ausbrechen.[210]

Und das Letztere thaten wenigstens Hermine und Arthur, während von den beiden Eleonoren die zweite die erste vorläufig nur fragend ansah, ob sie lachen dürfe.

»Duff'chen, Duff'chen!« rief Hermine, »ich habe es Dir ja immer gesagt, daß Du Dich vor ihm in Acht nehmen sollst.«

»Fräulein Duff!« rief Arthur, »ziehen Sie die Canthare fester an!«

»Darf ich?« fragte die zweite Eleonore dringender; und die erste antwortete! »lache, Du unschuldiger Engel!« und ging selbst mit gutem Beispiel voran.

»Kommt, wir wollen sie allein lassen, so haben sich gewiß noch viel zu sagen!« rief Hermine, und eilte unter jubelndem Gelächter davon. Die Andern folgten, alle lachend, so sehr sie konnten, selbst der trockene Anton, der mit dem tückischen Pferde hinterdrein ging, lachte, und das tückische Pferd wieherte laut und lachte vermuthlich auf diese seine Weise auch.

Im nächsten Augenblicke stand ich da, allein mit meiner Last auf den Armen, beschämt, beleidigt, ärgerlich, wüthend, wie ich es noch nie im Leben gewesen, so daß ich die gute Gouvernante, wenn ein Strom zufällig vorüber geflossen wäre, ohne weiteres, glaube ich, hineingeworfen haben würde. Glücklicherweise aber war kein gefälliger Strom in der Nähe und Fräulein Duff erholte sich, gerade als das Lachen der enteilenden Gesellschaft weniger deutlich zu uns herüberschallte, und sie flüsterte, indem sie ihre Arme von meinem Halse löste: »Richard, Sie sind mein Retter!«

Richard war gar nicht in der Laune, auf die Sentimentalitäten der armen Gouvernante einzugehen; Richard hatte in diesem Augenblicke nichts weniger als ein Löwenherz in der Brust; im Gegentheil: ein kleines, ungroßmüthiges, rachsüchtiges, eitles Herz, und so ließ er denn seinen Schützling, ohne viele Umstände zu machen, auf den Boden gleiten, und stand mit finstern Brauen und vermuthlich sehr zornigen Augen vor der Aermsten, denn sie schlug die Hände ängstlich zusammen, und flüsterte: »Richard, um Gottes willen, verzweifeln Sie nicht, ob auch die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmel stehn!«

»Fräulein Duff,« sagte ich, »ich muß Ihnen bekennen, daß ich in diesem Augenblicke gar nicht zum Scherz geneigt[211] bin, und noch weniger dazu, Andere mit mir Scherz treiben zu lassen. Verzeihen Sie deshalb, wenn ich Sie bitte, mich zu entschuldigen.«

Und ich versuchte, meine Hand aus ihren Händen zu ziehen, was mir denn auch nicht ohne einige Mühe gelang. Aber ich hatte kaum ein paar Schritte gethan, als ich ein so klägliches Weinen und Schluchzen hinter mir hörte, daß ich nicht umhin konnte, mich umzuwenden. Und da stand sie nun im grünen Reitgewande, dessen lange Schleppe sich wie eine Schlange um ihre Füße ringelte, auf den blaßgelben, verwirrten Locken einen halbhohen, zerknitterten Hut mit grünem Schleier, von dem die Schleife, anstatt hinten zu sitzen, ihr vorn über das Gesicht hing – ein Bild kindisch-hilflosen Jammers.

»Liebes Fräulein, bestes Fräulein!« sagte ich. »Kommen Sie! Sie haben es schließlich gut gemeint!« – Und ich legte ihren Arm in den meinen und führte die Weinende langsam von dem Orte des Schreckens fort, mit manchen freundlichen Worten sie zu trösten versuchend, bis wir zu der Bank gelangten, auf der ich vorhin gesessen hatte, und auf welche ich die gänzlich Erschöpfte sich niederzulassen nöthigte. So saßen wir eine Weile nebeneinander, ich düster vor mich hin auf den Sand starrend, sie leise und leiser schluchzend und endlich die verweinten Augen zu mir erhebend, und also sprechend: »Wie kann ich Ihnen Ihre Güte lohnen, Sie treuer, edler Freund?«

»Wenn Sie kein Wort weiter davon sagen,« erwiederte ich, »wenn Sie mich mit keinem Worte mehr an die lächerliche Scene erinnern, die aber auch – das schwöre ich! – die letzte in der traurigen Komödie gewesen sein soll, die ich hier, Gott sei es geklagt, so lange habe mit mir spielen lassen.«

»Komödie?« sagte Fräulein Duff, indem sie ihr Taschentuch mit der einen Hand vor die Augen drückte, und mich, der ich aufgesprungen war, mit der andern festhielt: »Sie brauchen Ruhe, lieber Karl – Ihr Blut ist jetzt in Aufruhr – setzen Sie sich zu mir – weg mit den schwarzen Fieberphantasien!«

Ich mußte lachen, so zornig ich war, und nahm wieder an ihrer Seite Platz.

»O,« rief Fräulein Duff, »Ihr seid gut und fröhlich, und kennet doch den Menschen auch – sollten Sie sich wirklich in dieser Mädchenseele täuschen, die so klar vor mir liegt,[212] wie der Himmel, ja, wie der Himmel,« wiederholte sie und breitete schwärmerisch die Arme nach oben, von wo allerdings mit der ganzen sonnigen Klarheit eines Frühlingsnachmittags der blaueste Himmel auf unser heimliches Plätzchen zwischen dem dichten, blühenden Gesträuch herabblickte.

»Wie kann man kennen, was sich im besten Falle selbst nicht kennt?« erwiederte ich.

»Sie irren, mein Freund;« erwiederte die Gouvernante, »Sie halten das ängstliche Flügelschlagen dieser keuschen jungfräulichen Seele für Fluchtversuche, und es will doch nur zu Ihnen, das scheue Vögelchen; zu Ihnen und einzig nur zu Ihnen!«

»Um Gottes und aller Heiligen Willen, hören Sie auf! Sie machen mich toll mit diesen Reden,« rief ich, indem ich nun wirklich aufsprang und wie ein Unsinniger, der ich halb und halb war, auf dem kleinen Platze umherzulaufen begann; »ich will und will nichts mehr davon wissen, und nichts glauben, und wenn ich es aus ihrem eigenen Munde hörte.«

»Sie werden es;« sagte Fräulein Duff.

Ich brach in ein höhnisches Gelächter aus.

»Sie werden es,« wiederholte sie; »nur Geduld, Richard, nur Geduld!«

»Zum Teufel die Geduld!« rief ich.

»Was soll die Wette gelten, Prinz,« sagte die Gouvernante, mit schalkhaftem Lächeln den magern Zeigefinger ihrer durchsichtigen Hand erhebend, »ich rufe Geschichten in Ihr Herz zurück, Geschichten – weiß ich es doch noch, als wäre es gestern gewesen, wie sie weinte, das achtjährige Kind, und sich nicht beruhigen konnte, als sie hörte, daß man den schönen, stattlichen Jüngling, der sie immer so hoch geschaukelt, in den Kerker geworfen! wie sie alle ihre Puppen mit dem Namen des Theuren nannte, und sie in den Käfig des Papageien steckte und davorstand und sagte: das sei ihr Liebster, der nun im Kerker säße und Jocko sei der Kerkermeister und wolle ihrem Liebsten mit dem krummen Schnabel den Kopf abhacken! Und als ich, – denn, mein Freund, eine gute Erzieherin muß sein wie der gute Gärtner, der von dem Dornstrauch Rosen pflückt, – als ich eine so bizarre Form des kindlichen Schmerzes durch eine poetischere zu ersetzen suchte, als ich ihr von Richard erzählte, dem löwenherzigen, sagenverherrlichten, und von Blondel, dem treuen Sänger, da sah sie ihr Ideal nur[213] noch in dieser Gestalt und schweifte durch die Lande, die Zither in der Hand, bis sie ihn fand, den sie suchte. Der Zufall, oder muß ich sagen: der Gott der Liebe? wollte, daß sie ihn wirklich im Kerker sehen durfte, blasser freilich, als sonst, aber immer schön und hehr, und so hat sie sein Bild im Herzen getragen, sechs, sieben Jahre lang, ohne auch nur einen Augenblick ihrem Richard untreu zu werden. Sie lächeln ungläubig, o, mein Freund! Sie wissen nicht, wie diamanten die Seele eines echten Weibes ist. Sieben Jahre! Das dünkt Ihnen eine Ewigkeit! Mein Freund! Ich kenne Herzen, die fünf und dreißig Jahre lang geliebt, hoffnunglos geliebt haben.«

Und das gute Fräulein drückte sich das Tuch in die Augen und schluchzte laut; raffte sich alsbald wieder auf und sagte:

»Doch das gehört nicht hierher; ich will Ihr schönes Herz in diesem Augenblicke, wo es an dem eigenen Geschick so schwer zu tragen hat, nicht noch mit der Tragik eines anderen Lebens belasten, für welches ewige Nacht aus einem Mißverständniß geworden ist, das an Ihrem Horizont nur als eine vorübergehende Wolke schwebt. Und Mißverständniß ist für Euch ein falsches Wort; Ihr versteht Euch ja, wie die beiden Vöglein sich verstehen – und Fräulein Duff deutete irgend wohin in die Büsche, wo ein Finkenpärchen einander lockte – nur daß Ihr Menschen seid, mit Menscheneitelkeit und Menschenhochmuth. Ach, und sie ist gar nicht, was sie scheint! Wie hat sie sich vor ihrer Liebe gedemüthigt, wenn sie allein gewesen ist mit ihrem Gott, und selbst in meiner Gegenwart, vor der sie keine Geheimnisse hat! Wie oft hat sie vor mir auf den Knieen gelegen, das Gesicht in meinen Schooß gedrückt und hat gesagt, daß ihr Liebster erhaben über ihr sei, wie die Sterne; daß sie nie hoffen dürfe, des Braven, Tapferen, Starken werth zu sein. O, mein Freund, sie ist stolz auf Sie! wie hat sie geschwärmt, als ihr das liebe Fräulein Paula schrieb, wie Sie sich in der Sturmnacht ausgezeichnet, und: es giebt nur einen solchen Mann! hat sie begeistert ausgerufen, als Sie im vorigen Herbst auf dem Dampfschiff unser Retter wurden. Ja, mein Freund, sie sind ihre Religion, und sie bekennt sich zu Ihnen vor Allen – nur vor Ihnen nicht. Hat sie nicht ihren Richard wenigstens im Bilde haben müssen, was auch der herzlose Vater dagegen sagen mochte! Hat sie dieses Bild nicht wie ein Heiligenbild[214] verehrt, und, damit es eine würdige Umgebung habe, ihr Zimmer eigens im orientalischen Style decoriren lassen? dasselbe Zimmer, das Sie jetzt inne haben. War ihr doch kein anderes für ihren Richard gut genug! Und ihr Richard mußte es haben, mochten die Leute die Köpfe schütteln, der tyrannische Vater in seiner häßlichen Weise dagegen schreien und ich selbst – ich will es nur gestehen – meine bescheidenen Einwendungen machen. Mein Freund, dazu – zu einem solchen Schritte, der lächerlich sein würde, wenn er nicht erhaben wäre – gehört Muth, Begeisterung, gehört die ganze Ueberzeugungs-Innigkeit einer großen idealen Liebe. Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen – das ist, wenn irgend ein Dichterwort, eine ewige Wahrheit, und sie, glauben Sie mir, auch sie hat ihr Märtyrerthum auf sich nehmen müssen; es ist keine Pygmäenarbeit, sich gegen einen solchen Vater zu behaupten. Ich will ihm nichts Böses nachsagen; ich will gar nichts sagen, denn wo sollte ich da anfangen, wo enden? Und doch, sie hat das Unmögliche möglich gemacht, der Tiger schmiegt sich zu den Füßen des Lammes.«

»Ich habe es heute Mittag erfahren,« sagte ich.

»Erinnern Sie mich,« rief Fräulein Duff, »nicht an diese schreckliche Stunde, die doch nur wieder ein Beweis ihrer Liebe ist. O, lächeln Sie nicht so bitter: war es doch seit langer Zeit ihr liebster Gedanke, hier an diesem Orte, der ihr so theuer, mit ihrem Richard dereinst den Traum ihrer Liebe verwirklichen zu können; und nun hören zu müssen, daß sie aus diesem Paradiese vertrieben werden soll, und daß der Engel mit dem flammenden Schwert kein Anderer als der geträumte Herr des Paradieses ist!«

»Aber,« rief ich, »bin ich es denn, der sie vertreibt! wie kann sie mich verantwortlich machen, für etwas, wovon sie doch weiß, daß es der eigenste Wunsch und Wille ihres Vaters ist, der die Scene heute Mittag vielleicht geflissentlich hervorgerufen hat.«

»Wohl möglich,« erwiederte Fräulein Duff, »wer könnte die Ränke des verschlagenen Greises ergründen! Ja, wenn ich mich recht erinnere, hat sie selbst Derartiges angedeutet, als wir auf ihrem Zimmer angekommen waren und sie mit einer Fluth von Thränen ihrem gepreßten Herzen Luft machte.«

»Was ihr nach dem eben Erlebten gut genug gelungen zu sein scheint,« sagte ich.[215]

»Mein Freund,« sagte die Gouvernante, »der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt! Wollen Sie weniger duldsam sein, als ich, die ich für des liebekranken Kindes krause Launen nur eine mitleidige Thräne des Humors im lächelnden Auge habe?«

»Es ist nicht Jedem gegeben, sich so gutwillig tyrannisiren zu lassen, liebes Fräulein!«

»Ich bin erschöpft,« sagte Fräulein Duff, die flache Hand gegen die Stirn drückend, »all' meine Proben gleiten von diesem schlangenglatten Sonderling.«

»So lassen Sie uns diese Unterredung abbrechen; die Stunde, wo ich nach Rossow muß, ist überdies gekommen.«

Ich war aufgestanden; die Gouvernante erhob sich ebenfalls, nahm mit einer kühnen Schwenkung die lange Schleppe ihres Reitkleides über den linken Arm und sagte, indem sie sich in meinen rechten Arm hing:

»Richard, gehen Sie nicht nach Rossow; es ist jetzt nicht wohlgethan; folgen Sie mir; ich habe der Kassandra ahnendes Gemüth.«

»Ich gehe ebenfalls, wenn schon aus andern Gründen, nicht gern dahin,« erwiederte ich; »aber ich bin entschlossen, meine Pflicht zu thun, und das Versprechen, das ich dem Commerzienrath gegeben, zu halten, mag er es mir nun in bösem oder in gutem Sinne abgefordert haben; und was auch daraus entstehe.«

»Stolz will ich den Spanier,« erwiederte Fräulein Duff mit einem schwärmerischen Augenaufschlage; »aber es ist nicht immer der Stelze, der die Braut heimführt, auch der Listige kommt manchmal zum Ziel: Ein frecher Günstling des Monarchen buhlt um ihre Hand – fürchten Sie Arthur gar nicht?«

»Wenn man in solchen Fällen fürchten soll, muß man zuvor hoffen oder wünschen; ich habe, soviel ich weiß, von mir weder das Eine noch das Andere behauptet.«

Fräulein Duff zog erschrocken ihre Hand aus meinem Arm und rief, indem sie stehen blieb: »Ja, mein Gott, was höre ich? Und wie soll ich es deuten? O, bei Allem, Roderich, was ich und Du dereinst im Himmel hoffen: Lieben Sie sie nicht? Lieben Sie wirklich Paula, wie Arthur, der Listige, ihr beständig in die Ohren flüstert?«

Ich sollte der guten Dame die Antwort auf eine so verfängliche[216] Frage schuldig bleiben, denn in diesem Augenblicke kam Wilhelm durch die Anlagen, nach mir rufend und meldend, daß der Wagen von Rossow schon eine halbe Stunde vor der Thür halte, und daß er mich überall gesucht habe.

»Leben Sie wohl, Fräulein Duff,« sagte ich.

»Und keine Antwort, keine?« rief die Gouvernante mit einem Gesicht, in welchem sich die ängstlichste Erwartung ausprägte.

»Dies ist meine Antwort,« erwiederte ich, auf den Wagen zeigend.

Kassandra mochte finden, daß orakelhafte Sprüche selbst für Seherinnen manchmal schwer zu deuten sind, denn als der Wagen durch das Gitterthor fuhr, sah ich sie noch auf der Stelle, wo ich sie verlassen, stehen, in der Attitüde des betenden Knaben: Augen und Hände zum Himmel gehoben.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 208-217.
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