Sechsundzwanzigstes Kapitel

[236] Elimar und er saßen einander gegenüber nach einer kurzen, auf beiden Seiten etwas verlegenen Begrüßung.

Sie wissen, weshalb ich komme, begann Elimar.

Ich ahne es wenigstens.

Das erleichtert mir meine Mission, wenn ich etwas so nennen darf, wozu mich auch die eigene Empfindung gedrängt haben würde.

Ich meine, daß die Empfindung in solchen Fällen ein sehr trügerisches Leitmotiv ist.

Mag sein; aber als Erstes, Spontanes verdient sie doch wohl einige Berücksichtigung.

Dann kann ich nur sagen: ich würde es tief beklagen, wenn ein Mann, wie Sie, keine Empfindung hätte für die furchtbare Beleidigung, mit der man mich heimgesucht hat.

Der in Ihren Worten versteckte Vorwurf trifft mich nicht. Im Gegenteil: ich glaube, es giebt niemand, der diese Beleidigung tiefer mitfühlt. Nichtsdestoweniger –

Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche: was wissen Sie von diesem ganzen Handel?

Alles.[236]

Aus dem Munde meiner Frau?

Ja.

Dürfte dann Ihre Behauptung nicht etwas gewagt sein? Wir Juristen haben den Grundsatz: Audiatur et altera pars.

Ich weiß es. Und gerade deshalb habe ich mir erlaubt, Sie aufzusuchen. Leider, wie ich fürchten muß, zu spät: ich traf in Ihrer Hausthür mit Herrn von Fernau zusammen. Ich habe nicht gewagt, ihn zurückzuhalten; er würde sich auch schwerlich haben zurückhalten lassen. Aber die einem Kartellträger gegebenen Instruktionen sind ja nicht unwiderruflich, sind jedenfalls modificierbar; und ich hege die stille Hoffnung, Ihr gerechter Unwille wird nach unserer Unterredung weniger – etwas weniger heftig sein.

Ich teile zu meinem Bedauern Ihre Hoffnung nicht, Indessen, bitte, sagen Sie mir, was Sie mir sagen zu müssen glauben. Ich muß dabei freilich bemerken, daß meine Zeit gerade heute nicht sehr reichlich bemessen ist, da ich noch eine Menge wichtiger Dinge zu erledigen habe.

Ich will mich bemühen, möglichst kurz zu sein. Ihre Frau kam heute morgen um zehn zu meiner Frau, ich darf wohl sagen: zu meiner Frau und mir, denn meine Gegenwart hinderte sie in nichts an der Offenherzigkeit und Vollständigkeit ihrer Beichte. Einer tief traurigen Beichte. Sie bereut aufs tiefste, sich von einem Gefühl haben hinreißen zu lassen, welches sie selbst jetzt als ein schiefes, oberflächliches, ihr durchaus unwürdiges anerkennen muß. Sie räumt willig ein, sich an Ihnen, an Ihren Kindern in einer Weise vergangen zu haben, die es schwer, sehr schwer macht, ihr zu verzeihen. Ich[237] wiederhole: sehr schwer. Und doch wohl nicht unmöglich: sie hat uns geschworen: es sei nichts geschehen, was zu verzeihen den Menschen allerdings selten gelingt, wenngleich des Menschen Sohn uns mit seinem erhabenen Beispiel vorangegangen ist.

Warum der Mann nur nicht Pastor geworden ist, dachte Viktor, der diese ganze Auseinandersetzung im Grunde beleidigend fand, und laut sagte er:

Nehmen wir an, meine Frau ist in ihrer Beichte, um mich Ihres Ausdrucks zu bedienen, streng bei der Wahrheit geblieben, obgleich das in solchen Fällen sehr schwer sein soll. Hat sie Ihnen zum Beispiel auch ihre saubere Aventüren von gestern abend gebeichtet? Wo nicht, würde Ihnen dieser Brief –

Den sie verloren hat, sagte Elimar. Bemühen Sie sich nicht! Ich weiß durch sie, was der Brief enthält und was gestern abend geschehen ist, vielleicht besser und ausführlicher, als Sie es aus dem Bericht Ihres Beauftragten erfahren haben.

Viktor richtete sich in den Hüften auf.

Ich erwarte jetzt nur noch, sagte er mit schneidender Ironie, daß Sie mir Vorwürfe machen über die Maßregeln, die ich treffen zu müssen glaubte, um hinter die Schliche der Dame zu kommen.

Er hatte unwillkürlich das Wort gebraucht, welches ihm aus den Berichten Herrn Krügers so geläufig war.

Um Gottes willen, rief Elimar, ihm die Hand auf das Knie legend, erhitzen wir uns nicht in einem Augenblick, wo ich den Himmel anflehe, uns seinen Frieden zu geben!

Ich bin völlig kaltblütig, entgegnete Viktor. Und so, ganz kaltblütig, frage ich Sie: würden Sie, der Hauptmann[238] von Meerheim, wenn Ihnen begegnet wäre, was mir begegnet ist; Sie beleidigt wären, wie ich beleidigt worden bin; in Ihrer Ehre gekränkt, vor der Gesellschaft, in der Sie leben, bloßgestellt wären, wie ich es bin: würden Sie – ja, könnten Sie anders handeln, als ich zu handeln gedenke? Würden Sie und könnten Sie unterlassen, den Buben, der gewagt hat, mit seinen schmutzigen Fingern an Ihr blankes Wappenschild, an Ihren reinen Namen zu tasten, vor die Mündung Ihrer Pistole zu stellen?

Die Worte hatten Elimar schwer getroffen. Da klaffte wieder einmal der tiefe Spalt zwischen dem, was sein Herz und sein Verstand ihm gesagt und geboten hatten, lange bevor es ihm seine geliebten Denker und Dichter bestätigten, und jenem andern, in dessen engem Bann er nun schon so viele Jahre gelebt hatte in schmerzlicher Resignation einer besseren Ordnung der menschlichen Dinge, die herbeizuführen dem einzelnen Menschen nicht gegeben war. Hatte er nie die Kraft in sich gefunden, Fesseln zu sprengen, die ihm ins Fleisch schnitten, wie durfte er es erwarten und verlangen von einem, den sie nicht einmal drückten, der sie im Gegenteil als einen höchsten Schmuck trug?

Er fühlte peinlich, daß er eine Position verteidigte, die er nicht würde behaupten können; aber ohne einen letzten Versuch wollte er sie nicht aufgeben.

Es giebt zweierlei Ehre, sagte er, die gesellschaftliche und die individuelle. Die erstere trägt ihre Gesetze nicht sowohl in sich, als sie ihr vielmehr von dem Milieu diktiert werden, in welchem wir leben. Die Vernunft dieses Milieu braucht nicht die unsre zu sein; ich kann[239] mir sogar denken, daß wir in ihr die bare Unvernunft sehen. Aber freilich, solange das Milieu das unsre ist; ich meine: solange wir aus diesem oder jenem Grunde den Schwerpunkt unserer äußerlichen Existenz darein verlegt haben, müssen wir in Rom wie die Römer thun. Quaeritur: ist in unserm Falle diese Milieu-Ehre beleidigt? Sind Sie es der Gesellschaft schuldig, ihre in Ihnen beleidigte Ehre zu rächen? Ich glaube: nein. Die ganze unglückselige Angelegenheit ist für den Ihnen befreundeten und bekannten Kreis tiefes Geheimnis; ich nehme meine Frau und mich aus, von denen wir hier wohl absehen dürfen.

Pardon! erwiderte Viktor; ich urteile darin anders und, ich glaube, richtiger als Sie. Es ist mir nicht gleichgültig, wie Herr von Fernau, der in die ganze Sache eingeweiht werden mußte, über mich denkt: ob er mich für einen Mann von Principien hält, oder für einen, der seine Principien, ich weiß nicht welcher sentimentalen Wallung wegen, aufgiebt. Herr von Fernau spielt in meinem speciellen Kreise eine große, und, ich darf sagen, verdiente Rolle. Es handelt sich aber keineswegs um ihn allein. Herr von Luckow und Fräulein Stephanie Sudenburg hegen den schlimmsten Verdacht: davon habe ich mich überzeugen müssen, als ich vorgestern eine sehr vorsichtige Rekognoscierung nach dieser Seite anstellte. Niemand steht mir dafür, daß die Genannten ihre Wissenschaft für sich behalten; bei der großen Solidarität der Gedanken und Interessen, die in der Sudenburg'schen Familie herrscht, ist es sogar mehr als unwahrscheinlich. Ich kann also Fritz und Franz Sudenburg nicht mehr in die Augen sehen. Und wem[240] noch sonst nicht? Ich habe in dieser Gesellschaft Blicke aufgefangen, Anspielungen hören müssen, auf welche die einzig richtige Antwort eine Forderung gewesen wäre. Das alles ist schon mehr als genug. Soll ich noch von meinen Dienstboten sprechen, die seit zehn Tagen Zeugen des schlimmsten ehelichen Zerwürfnisses sind? und die nun hingehen und meine Schande durch die ganze Stadt tragen werden?

Viktor war aufgesprungen und maß mit heftigen Schritten das Zimmer auf und ab.

Das wäre die gesellschaftliche Ehre, die mit Füßen getreten ist. Nun die individuelle – so nannten Sie sie ja wohl? Ja, mein Bester, jeder ist seines Glückes Schmied, und die Ehre, die jeder in sich trägt, kann niemand in ihrem Wert taxieren, als er selbst. Mir nun gilt meine Ehre so hoch, daß, wenn ich sie angegriffen sehe, mein Leben mir nicht einen Strohhalm wert ist. Sie können nicht verlangen, daß ich das des Angreifers für heilig halte.

Elimars Stirn war auf die Hände gebeugt, die er über den Knauf des Säbels zwischen seinen Knieen gestaltet hatte. Ein leises Stöhnen kam aus seiner Brust. Nun richtete es das bleiche Gesicht in die Höhe und sagte schmerzlich:

Mein Gott, in welcher Welt der schauderhaften Widersprüche leben wir! Da ist eine Gesellschaft, vor der wir innerlich keinen Respekt haben, und die ihn auch, konfus, zerfahren, unlogisch, oberflächlich, nur nach dem äußeren Schein urteilend, wie sie ist, wahrlich nicht verdient! Da sind wir Männer, die wir uns nicht sündlos fühlen und bei dem Leben, das wir, und wären wir die[241] besten, geführt haben, fühlen können; und wir heben den Stein auf gegen ein Weib, das aus der Erziehung, die es gehabt, aus dem Leben, in das es unvorbereitet trat, keine Kraft des Widerstandes schöpfen konnte gegen die Versuchung, von der es doch nicht verschont bleiben sollte! Ein Weib, das der Mann, der trotzdem den Stein aufhebt, geliebt hat! Und das so liebenswert ist!

Die letzten Worte fand Viktor empörend. Wie durfte ihn der Mann daran erinnern, daß auch er zu den Liebhabern Klotildens gehört und, wie die Rede ging, es nur an ihm und nicht an Klotilde gelegen hatte, wenn sie nicht seine Frau geworden war!

Gewiß! sagte er, mit kaum noch verhehlter Wut: sehr liebenswert! zu liebenswert! Es mag das der Geschmack anderer Leute sein – meiner ist es nicht.

Elimar erhob sich aus dem Sessel und ergriff seinen Helm, der neben ihm auf einem Tischchen stand.

Ich bin umsonst hier gewesen, sagte er traurig, aber ohne Bitterkeit; ich hätte es voraussehen können. Verzeihen Sie einem alten Idealisten seine unbefugte Einmischung in den Lauf dieser realen Welt!

Er hatte die Hand ausgestreckt, die Viktor an den Fingerspitzen ergriff, um dann den unwillkommenen Gast mit der größten Höflichkeit zur Thür hinaus zu begleiten.

Dann schellte er Friedrich und hieß ihn, seine Uniform in das Ankleidezimmer zu bringen; auch die Schärpe nicht zu vergessen.

Er mußte zu dem Commandeur seines Regiments, der ihm besonders gewogen war, und dem er zu seinem[242] Geburtstag heute gratulieren wollte. Der Commandeur war ein schneidiger Herr, der in Ehrensachen keinen Spaß verstand. Dem sollte Elimar mit seinem sentimentalen Wischiwaschi gekommen sein! Wie die struppigen Augenbrauen in die Höhe gefahren wären! Nach der Friedensapostel-Physiognomie Elimars schon der Anblick des alten Haudegens, bei Gott! eine willkommene Erquickung! Er hatte eine Stunde Zeit. Früher konnte Fernau nicht zurück sein. Und vorher konnte er die Anzeige an den Präses des Ehrenrats mit der Angabe von Zeit und Ort des Rencontre und dem Namen des Unparteiischen nicht machen. Und dann: vielleicht kniff der Schulmeister. Und es mußte bei der Reitpeitsche sein Bewenden haben.

Er war wieder in seinem Zimmer, sich die Handschuhe aus dem Kasten zu nehmen. Die Bonne kam, anzufragen, ob sie die Kinder heute herausbringen dürfe? Es sei nur, weil die gnädige Frau nicht gesagt habe, wann sie wiederkommen würde.

Viktor hatte auf der Zunge: sie wird niemals wiederkommen; statt dessen sagte er heftig:

Wozu sind Sie Bonne, wenn Sie nicht wissen, was man mit Kindern zu thun hat!

Die Bonne, ein braves, nicht ungebildetes Mädchen, ging traurig davon: die armen Kinder! Seit acht Tagen hatte sich die gnädige Frau kaum einmal flüchtig nach ihnen umgesehen; und dem Herrn waren sie ja offenbar auch nur eine Last!

Viktor warf die ergriffenen Handschuhe wütend auf den Tisch.

Das hat man davon! Und das soll nun so weiter gehen! – Liebenswert! Die liebenswert, diese – wie[243] heißt es doch? – irgendwo in Maria Stuart – Meinetwegen! Aber diesen Mortimer will ich zeichnen, daß alle andern daran denken sollen!

Er setzte vor dem Spiegel den Helm auf, zupfte die Schärpe zurecht, strich mit der Taschenbürste den Schnurrbart rechts und links aufwärts und stieg, die Handschuhe anziehend, die Treppe hinab.[244]

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Zum Zeitvertreib. Leipzig 1897, S. 236-245.
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