Der Morgen

[156] Dein morgentiefes Auge ist in mir, Marie.

Ich fühle, wie es durch die Dämmerung mich umfängt

Der weiten Kirche. Stille will ich knien und warten, wie

Dein Tag aus den erblühten Heiligenfenstern zu mir drängt.


Wie kommt er sanft und gut

und wie mit väterlicher Hand

Umschwichtigend. Wann wars,

daß er mit grellen Fratzen mich genarrt,

Auf Vorstadtgassen,

wenn mein Hunger nirgends sich ein Obdach fand –

Oder in grauen Stuben mich

aus fremden Blicken angestarrt?


Nun strömt er warm wie Sommerregen über mein Gesicht

Und wie dein Atem voller Rosenduft, Marie,

Und meiner Seele dumpf verwirrt Getön hebt sanft sein Licht

In deines Lebens morgenreine Melodie.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 1, Hamburg o.J. [1954], S. 156-157.
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