Vor Sonnenaufgang

[191] Die frühen Stunden wenn die Purpurnebel

der vollen Sternennächte weich verströmen

hinsickern in den goldig matten Schein

der wie ein Meer aufflutet ... rings die Schatten

der Häuser wachsen riesig wie Gespenster

ins graue Licht und alles liegt und lauscht

und zittert. Und die Brunnen rauschen so.

Frühvögel steigen schrill von feuchten Hecken

ins flaumige Gewölk. Und in den Ästen

raschelt der Wind und traumhaft liegt das Land

und wie erstarrt indes der halbe Mond

aus mattem Reigen morgenblasser Sterne

wie eine Fackel durch die Nebel dampft ...


Die großen Stunden wenn die Sehnsucht mir

die vollen Schalen bunter Träume leicht

ausgießt wie einer Gold- und Perlenschmuck

hinschüttet und ich nur die zitternden Hände

im großen Hort verwühle und den Glanz

den ungeheuren Glanz mit heißen Augen

einschlürfe wie in jäher Trunkenheit ...

und weiß: Was da vor mir im blassen Licht

der Frühe seltsam schillert ist ein Schatz

ein ganzes Leben voller dunkler Wunder

glühend wie Sonne lösend wie die Nacht

und schwer und bebend wie die frühen Stunden

so zwischen Nacht und Dämmer Tag und Traum.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 2, Hamburg o.J. [1954], S. 191-192.
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