Wilhelm.

[232] Wilhelm war im Schauspielhause gewesen, wo ein Trauerstück gegeben worden. Bei seiner Zurückkunft fragte er den Vater, ob denn der Mann, den man erstochen, nun wirklich tod sei? »Nein, mein Sohn, entgegnete der Vater, alles was du gesehen hast, war nicht Wahrheit, sondern nur ein Spiel, aus welchem wir gesehen, wie weit das Unglück, oder oft auch eigne[232] Schuld und Thorheit die Menschen bringen können. Es macht dich auf viele Fehler aufmerksam, die du vielleicht besitzest, und deren Folgen du erkennest. Manche Leute gehen ins Schauspielhaus, blos um sich zu belustigen; es ist aber noch besser, sich zu gleicher Zeit das Lehrreiche jedes Stückes, das gegeben wird, recht zu merken, und es auf sich zu beziehen. Es zeigt uns oft, wie unglücklich ein Verschwender sich und andere machen kann, und wie lächerlich und verächtlich der reiche Geizhals wird, der seine Schätze mit thörichter Aengstlichkeit verschließt, und andere Noth leiden läßt, wohl selbst oft Noth leidet. Es lehrt uns, wie ruhig und heiter gute, edle Menschen sterben, und wie trostlos und verzweiflungsvoll die bösen in der Todesstunde sind. Und da man das nicht bloß mit Worten so deutlich zeigen kann, so werden da allerlei Begebenheiten durch Menschen vorgestellt, welche Schauspieler heißen; und je täuschender sie ihre Rollen spielen, um desto lebhafter kann man sich diese Begebenheiten als wahr vorstellen, ob sie es gleich nicht sind. So wie die Bienen aus allen Blumen Honig ziehen, aus einigen nur mehr, aus der andern minder, so kann ein vernünftiger, denkender Mensch Nutzen aus allem ziehen, und sich Belehrung verschaffen aus Dingen, die ein anderer, der ohne Nachdenken[233] lebt, übersieht. In Lustspiele kann man lernen Lächerlichkeiten vermeiden, durch welche man oft Andern zum Spotte wird, und kleine Thorheiten ablegen, die man deutlicher an Andern bemerkt als an sich selbst. Das ist mir lieb, sprach Wilhelm, daß ich das weiß, und ich will auch recht Achtung auf alles geben, und das Nützlichste merken. Und er hielt Wort; jedesmahl, so oft er in der Komödie gewesen war, erzählte er, was er gesehen und gehört hatte, und bat den Vater um Erläuterung dessen, was er nicht verstanden; die Eltern erklärten es ihm so, wie es sich für sein Alter und seine Einsicht schickte.«[234]

Quelle:
Karoline Stahl: Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Nürnberg 21821, S. 232-235.
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