129.

[299] In Italien überlassen sich die jungen Mädchen, wenn sie lieben, völlig den Eingebungen der Natur. Höchstens werden sie noch durch ein paar recht treffliche Lebensregeln beeinflußt, die sie beim Lauschen an den Türen gelernt haben.

Als ob es der Zufall so wollte, daß hier alles auf die Erhaltung der Natürlichkeit hinwirkt, lesen sie auch keine Romane, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gibt.

In Genf und in Frankreich dagegen verlieben sich die jungen Mädchen mit sechzehn Jahren, um einen Roman zu erleben, und bei jedem Schritte und bei jeder Träne fragen sie sich: »Benehme ich mich jetzt auch so gut wie Julie von Etanges?«

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 299.
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