3. Von der Hoffnung

[9] Ein sehr geringer Grad von Hoffnung genügt zur Entstehung der Liebe.

Die Hoffnung kann alsdann nach kurzem Dasein wieder schwinden, trotzdem lebt die einmal erwachte Liebe weiter.

Bei einem Manne von festem, kühnem und ungestümem Charakter und einer durch die Wechselfälle des Lebens entwickelten Phantasie kann die Hoffnung gering sein; sie kann sogar völlig aufhören, ohne damit die Liebe zu töten.

Wenn ferner der Liebende an Unglück gewöhnt ist, wenn er von Natur zärtlich und nachdenklich ist, wenn er an den anderen Frauen verzweifelt und eine lebhafte Bewunderung für die eine hegt, so kann ihn kein gewöhnliches Vergnügen von der zweiten Kristallbildung abziehen. Lieber träumt er sich in das ganz ungewisse Glück hinein, ihr eines Tages doch zu gefallen, als daß er die noch so restlose Hingabe einer gewöhnlichen Frau annähme.

Jetzt, wohlgemerkt nicht später, könnte die angebetete Frau die Hoffnung des Liebenden allerdings nur auf die grausamste Weise vernichten, etwa indem sie ihn mit so offenkundiger Verachtung behandelte, daß er dadurch überhaupt in der Gesellschaft unmöglich würde.

Die Entwickelung der Liebe läßt zwischen den einzelnen Stufen mitunter beträchtliche Fristen zu. Ein größeres Maß von Hoffnung und besonders von immer neugenährter Hoffnung verlangt sie bei kalten, phlegmatischen und bei Verstandesmenschen. Ebenso ist es bei schon bejahrten Leuten.[10]

Die zweite Kristallbildung entscheidet über die Dauer der Liebe, weil man dabei in jedem Augenblick sieht, daß es sich darum handelt, geliebt zu werden oder zu sterben. Wie könnte nach jener ununterbrochenen, durch die Gewohnheit der Liebe schon eingewurzelten Überzeugung der Gedanke Raum gewinnen, von der Liebe zu lassen? Je stärker ein Charakter ist, um so weniger ist er der Wankelmütigkeit unterworfen.

Die zweite Kristallbildung fehlt in der Regel bei Liebeleien mit Frauen, die sich zu schnell ergeben.

Sobald die Kristallbildungen, besonders die zweite stärkere, stattgefunden haben, ist der ursprüngliche Zweig den Augen Gleichgültiger nicht mehr wahrnehmbar, denn

1. er ist mit Vorzügen oder Diamanten geschmückt, die sie nicht sehen,

2. er ist mit Vorzügen geschmückt, die nicht für sie sind.

Ein früherer Freund seiner Geliebten rühmte jemandem die Vollkommenheit ihrer Reize. Dieses Lob und das lebhafte Aufflackern in den Augen des Freundes erweckten in ihm neue Kristalle. Was er so in einer Abendgesellschaft erfuhr, umspann ihn eine ganze Nacht mit Träumen.

Eine offenherzige Antwort, die mir Einblick in eine zärtliche, edle, feurige, oder wie man gemeiniglich sagt, romantische Seele gewährt, die das harmlose Vergnügen, einsam mit der Geliebten um Mitternacht durch den Park zu wandeln, über das Glück aller Könige setzt, verführt auch mich eine ganze Nacht zu Träumereien.1

Jemand sagt mir vielleicht, meine Geliebte sei prüde; ich möchte ihm antworten, die seine sei eine Dirne.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 9-11.
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