4. Kapitel

[11] In einer unberührten Seele, zum Beispiel der eines jungen Mädchens, das in einem einsamen Schlosse auf dem Lande lebt, kann die geringste Anteilnahme an einem Manne eine schwache Bewunderung zur Folge haben und, falls sich die leiseste Hoffnung dazugesellt, Liebe und Kristallbildung hervorrufen.

In diesem Falle ist die Liebe anfangs eine Art angenehmen Zeitvertreibs.

Die Anteilnahme und die Hoffnung werden durch das Liebesbedürfnis und die Schwermut, die man mit sechzehn Jahren hat, kräftig unterstützt. Wir wissen zur Genüge, daß die Unruhe dieses Alters aus dem Durst nach Liebe entspringt; und es ist die Eigenschaft des Durstes, die Güte eines zufällig dargebotenen Trankes nicht allzu wählerisch zu prüfen.

Wiederholen wir das bisher Gesagte, so haben wir folgende sieben Stufen der Liebe:

1. Bewunderung,

2. sinnliche Gedanken,

3. Hoffnung,

4. Erwachen der Liebe,

5. erste Kristallbildung,

6. Zweifel,

7. zweite Kristallbildung.

Zwischen 1 und 2 kann ein Jahr vergehen, zwischen 2 und 3 ein Monat; wenn die Hoffnung nicht bald entsteht, verzichtet man unwillkürlich auf 2 wie auf eine Quelle des Leids.

Zwischen 3 und 4 ein Augenblick.[12]

Zwischen 4 und 5 überhaupt kein Zeitraum. Höchstens könnte die Hingabe dazwischen liegen.

Zwischen 5 und 6 können je nach dem Grad von Ungestüm und der gewohnten Kühnheit eines Charakters ein paar Tage liegen; zwischen 6 und 7 ist kein Zeitraum.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 11-13.
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