Drittes Kapitel.

[15] – – Und ein Kapitel soll ihm werden, und ein ganz verteufeltes obendrein. Also, vorgesehen! –

Entweder Plato, oder Plutarch, oder Seneca, oder Xenophon, oder Epictet, oder Theophrast, oder Lucian, oder vielleicht auch ein späterer, also vielleicht Cardian, oder Budäus, oder Petrarch oder Stella, ja möglicherweise auch ein Heiliger oder Kirchenvater, also etwa St. Augustin oder St. Crispin oder St. Bernhard – genug irgend einer von diesen bezeugt, daß es eine unwiderstehliche und ganz natürliche Neigung sei, über den Verlust unserer Freunde oder Kinder zu weinen, – und Seneca (diesmal aber bin ich gewiß) sagt uns irgendwo, daß ein Kummer der Art sich auf diesem besondern Wege am besten entleere. Deshalb finden wir denn auch, daß David um seinen Sohn Absalon, Hadrian um seinen Antinous, Niobe um ihre Kinder weinten, und daß Apollodorus und Crito um Sokrates noch vor seinem Tode Thränen vergossen.

Mein Vater verfuhr mit seinem Kummer anders und unterschied sich in der Art, wie er ihn behandelte, von der Mehrzahl der Menschen alter und neuer Zeit; denn er weinte ihn nicht aus, wie die Hebräer und Römer, noch schlief er ihn aus, wie die Lappländer, noch hing er ihn weg, wie die Engländer, noch ersäufte er ihn, wie die Deutschen, auch wetterte und fluchte, und exkommunicirte, und reimte, und pfiff er ihn nicht weg – Aber er wurde ihn doch los.

Möchten mir Ew. Wohlgeboren nun erlauben, hier eine ganz, ganz kleine Geschichte einzuschieben.

Als dem Tullius die geliebte Tochter Tullia entrissen ward, nahm er sich das zuerst sehr zu Herzen; er horchte auf die Stimme der Natur und modulirte die seine danach. O meine[15] Tullia! meine Tullia! mein Kind! und immer, immer, immer wieder: O meine Tullia! meine Tullia! Mir ist, als säh' ich meine Tullia, als hört' ich meine Tullia, als spräch' ich mit meiner Tullia! – Aber sobald er anfing, sich nach den Hülfsmitteln der Philosophie umzusehen und zu erwägen, wie viel Vortreffliches sich über die Sache sagen lasse – da, ruft der große Redner aus, war es unbegreiflich, wie glücklich und wie froh mich das machte. –

Mein Vater bildete sich auf seine Beredsamkeit ebenso viel ein, als Marcus Tullius Cicero auf die seinige und, meiner völligen Ueberzeugung nach, mit ebenso großem Rechte; sie war seine starke und seine schwache Seite. Seine starke, – denn er war wirklich beredt; seine schwache, – denn er ließ sich stündlich von ihr zum Narren haben. Bot sich ihm nur eine Gelegenheit dar, sein Talent zu zeigen, konnte er nur etwas Kluges, Witziges oder Feingedachtes sagen, so fehlte ihm (den Punkt mit dem systematischen Mißgeschick ausgenommen) weiter nichts. Ihm galt ein Glücksfall, der ihm die Zunge band, nicht mehr als ein Unglücksfall, der sie ihm auf gute Art löste, ja manchmal zog er das Letztere sogar vor. War z.B. das Vergnügen des Redehaltens = 10, und der Schmerz, welchen der Unglücksfall ihm verursachte, = 5, so hatte er hundert Procent dabei gewonnen und stand sich besser dabei, als wäre nichts geschehen.

Damit erklärt sich manches, was sonst in dem häuslichen Leben meines Vaters ganz unerklärlich gewesen sein würde, und daher kam es zugleich, daß bei allen vorkommenden Nachlässigkeiten und Versehen der Dienstboten, oder bei anderen unvermeidlichen Unannehmlichkeiten in der Familie die Heftigkeit oder Dauer seines Aergers jeder Berechnung spottete.

Mein Vater hatte eine kleine Lieblingsstute, die er von einem sehr schönen arabischen Hengste belegen ließ, um von ihm ein Reitpferd für sich zu erzielen. Sanguinisch, wie er in all seinen Plänen war, sprach er nun tagtäglich von seinem Reitpferde, mit einer Sicherheit, als ob es schon großgezogen und zugeritten wäre, und nur noch gesattelt und aufgezäumt zu werden brauche, um bestiegen zu werden. Obadiah hatte aber[16] wahrscheinlich nicht ordentlich Acht gegeben; genug, meines Vaters Erwartungen wurden jämmerlich getäuscht: es fiel ein Maulesel, ein so häßliches Thier, wie man sich nur vorstellen kann.

Meine Mutter und mein Onkel Toby befürchteten, daß mein Vater Obadiah zu Leibe gehen würde, und machten sich schon auf endloses Reden und endloses Jammern gefaßt. – Nun sieh, Du Schlingel! schrie mein Vater und zeigte auf den Maulesel, – was Du da gemacht hast! – Ich bin nicht schuld daran, sagte Obadiah. – Wie kann ich das wissen? erwiederte mein Vater.

Meines Vaters Augen schwammen bei dieser Antwort im Triumph, – das attische Salz biß ihm das Wasser heraus, – und Obadiah hörte kein Wort mehr über die Sache.

Jetzt wollen wir zu meines Bruders Tode zurückkehren.

Die Philosophie hat über Alles einen treffenden Ausspruch. Ueber den Tod hat sie eine ganze Unzahl; es war nur schade, daß meinem Vater zu viele einfielen, so daß es schwer war, sie aneinander zu reihen und etwas daraus zu machen, was sich als ein Ganzes konnte sehen lassen. – Er nahm sie also, wie sie kamen.

Es ist ein unvermeidliches Loos, – das Grundgesetz der magna charta, – eine unabänderliche Parlamentsakte, lieber Bruder: Alle Menschen müssen sterben.

Das wäre zu verwundern gewesen, wenn mein Sohn nicht hätte sterben können, – nicht daß er gestorben ist.

Herrscher und Fürsten tanzen mit uns denselben Reigen.

Sterben ist die große Schuld, die wir der Natur zahlen müssen; selbst die Grabmäler und Monumente, die unser Gedächtniß erhalten sollen, zahlen sie, und das stolzeste von allen, die Pyramide, sie, die Macht und Wissenschaft thürmten, hat ihre Spitze verloren und ragt verstümmelt am Horizont des Wanderers. (Mein Vater spürte eine bedeutende Erleichterung und fuhr deshalb fort:) Königreiche und Provinzen, Herrschersitze und Städte, haben sie nicht ihre Zeit gehabt? und wenn die Kräfte und Gewalten, welche sie verbanden und zusammenfügten, ihre verschiedenen Evolutionen durchgemacht haben, so sinken sie[17] dahin. – Bruder Shandy, sagte mein Onkel Toby und legte bei dem Worte »Evolutionen«, seine Pfeife hin. – Revolutionen, meine ich, sagte mein Vater, – bei Gott! ich meinte Revolutionen, Bruder Toby; Evolutionen ist Unsinn. – Unsinn ist's nicht, sagte mein Onkel Toby. – Aber ist's nicht Unsinn, mir den Faden meiner Rede so zu zerreißen? rief mein Vater; ich bitte Dich, Bruder Toby, fuhr er fort und ergriff seine Hand, – ich bitte Dich, ich beschwöre Dich, unterbrich mich jetzt, in solchem Augenblicke, nicht. – Mein Onkel Toby steckte die Pfeife wieder in den Mund.

Wo ist Troja und Mycene und Theben und Delos und Persepolis und Agrigent? fuhr mein Vater fort und nahm dabei das Posthandbuch wieder auf, das er vorher hingelegt hatte. Was, Bruder Toby, ist aus Niniveh und Babylon und Cyzicus und Mitylene geworden? Die herrlichsten Städte, die je die Sonne beschien, sind nicht mehr! ihre Namen nur sind geblieben und auch die (denn viele werden schon ganz falsch buchstabirt) fallen nach und nach in Trümmer, bis sie endlich vergessen und mit der ewigen Nacht bedeckt werden, die Alles einhüllt. Die Welt selbst, Bruder Toby, muß vergehen.

»Auf meiner Rückfahrt von Asien, als ich von Aegina nach Megara segelte« – (wann kann denn das gewesen sein? dachte mein Onkel Toby) – »betrachtete ich das Land rund um mich her; Aegina lag mir im Rücken, Megara vor mir, Piräus zur Rechten, Korinth zur Linken. Was für blühende Städte, die nun darniederliegen! Ach! ach! sprach ich zu mir selbst, wie kann der Verlust eines Kindes eines Menschen Seele trüben, wenn so viel wie hier vor seinen Augen in Trümmer dahingesunken liegt? Gedenke, sprach ich dann weiter zu mir selbst, gedenke, daß du ein Mensch bist!« –

Nun wußte mein Onkel Toby nichts davon, daß dieser letzte Absatz ein Bruchstück aus des Servius Sulpicius Trostbrief an Tullius war, denn der gute Mann war in den Bruchstücken, wie in den ganzen Werken der Alten gleich wenig bewandert, und da mein Vater in seinem türkischen Geschäfte zwei- oder dreimal in der Levante gewesen war und einmal länger als[18] ein Jahr in Zante verweilt hatte, so schloß mein Onkel Toby ganz natürlich, daß er bei Gelegenheit einer dieser Reisen auch einen kleinen Abstecher durch den Archipelagus nach Asien gemacht hätte, und daß diese ganze Seefahrt mit Aegina hinten, Megara vorne, Piräus zur Rechten u.s.w. nichts Anderes als sein wirklicher Reisecours und die Betrachtungen dabei seine eigenen Betrachtungen wären. Seine Art war's, und mancher unternehmende Kritiker würde auf ein schlechteres Fundament noch ein paar Stockwerk höher gebaut haben. – Bitte, Bruder, sagte mein Onkel Toby und legte die Spitze seiner Pfeife, so zart als möglich ihn unterbrechend, auf meines Vaters Hand, nachdem er erst das Ende des Absatzes abgewartet hatte: – in welchem Jahre unseres Herrn war denn das? – In gar keinem Jahre unseres Herrn, erwiederte mein Vater. – Wie wäre das möglich? rief mein Onkel Toby. – Simpel, sagte mein Vater, es war vierzig Jahre vor Christi Geburt.

Mein Onkel Toby konnte nur zweierlei annehmen: entweder war sein Bruder der ewige Jude, oder das Unglück hatte ihm den Kopf verwirrt. – Daß Gott im Himmel ihn schütze und behüte! sagte er mit stillem Gebete für meinen Vater und mit Thränen im Auge.

Mein Vater schrieb die Thränen auf Rechnung seiner Rede und fuhr mit größerem Schwunge fort: »Gut und Uebel sind sich einander nicht so ungleich, als die Welt meint.« (Solche Aeußerung war, beiläufig gesagt, nicht dazu geeignet, meines Onkels Verdacht zu zerstreuen.) »Arbeit, Sorge, Kummer, Krankheit, Mangel und Elend sind Würzen des Lebens.« – Wünsche guten Appetit, sagte mein Onkel Toby zu sich. – »Mein Sohn ist todt«, desto besser; – es wäre schmählich, wenn man in solchem Sturme nur Einen Anker hätte.

»Aber er ist für immer von uns gegangen«, – sei's – er ist der Hand des Haarkräuslers entlaufen, bevor er kahl geworden; er stand vom Mahle auf, bevor er sich den Magen überladen hatte, – vom Trinkgelage, bevor er trunken war.

Die Thracier weinten, wenn ein Kind geboren ward (Wir waren auch sehr nah daran, sagte mein Onkel Toby), und feierten[19] Freudenfeste, wenn Einer starb. Sie thaten recht. Der Tod öffnet das Thor des Ruhmes und schließt hinter sich das Thor des Neides; er nimmt dem Gefangenen die Kette ab und übergiebt die Arbeit des Sklaven einem Andern.

Zeige mir den Mann, der das Leben kennt und ihn fürchtet, so will ich Dir einen Gefangenen zeigen, dem es vor seiner Freiheit graut.

Ist es, lieber Bruder Toby, nicht besser, gar nicht zu hungern (denn jeder Hunger ist ein Unwohlsein), als zu essen – gar nicht zu dursten, als seinen Durst mit Arzenei zu löschen?

Ist es nicht besser, frei zu sein von allen Sorgen und Plagen – von Liebe und Schwermuth – von all den Fieberparoxysmen des Lebens, als, gleich dem fußmüden Wanderer, der erschöpft zur Herberge kommt, gezwungen zu sein, seine Wanderschaft von Neuem zu beginnen?

Er ist nicht schrecklich – Bruder Toby – all sein Schrecken entlehnt er dem Stöhnen und den Krämpfen, dem Nasenschnauben und Thränenabwischen in die Zipfel der Bettvorhänge, diesen unerläßlichen Zugaben jedes Sterbezimmers. – Nimm das hinweg – Was ist er? – Er ist besser in der Schlacht als im Bette, sagte mein Onkel Toby. – Nimm ihm das Leichengepränge, die Träger, das Trauergefolge – die Federn – die Wappen und alle die andern Aeußerlichkeiten hinweg – was ist er? – Besser in der Schlacht! fuhr mein Vater lächelnd fort, denn er hatte meinen Bruder Bob nun gänzlich vergessen; – er ist nirgends schrecklich – denn sieh, Bruder Toby, – sind wir, so ist der Tod nicht, und ist der Tod, so sind wir nicht. – Mein Onkel Toby legte seine Pfeife hin, um sich den Satz etwas näher anzusehen; aber meines Vaters Beredsamkeit war zu eilfertig, um auf Jemanden zu warten, – sie stürmte weiter und riß meines Onkel Toby's Gedanken mit sich.

Deshalb, fuhr mein Vater fort, lohnt es die Mühe, sich daran zu erinnern, wie wenig Veränderung die Annäherung des Todes in großen Männern bewirkt hat. Vespasian starb mit einem Scherz über seinen Stuhlgang, – Galba mit einer Sentenz, – Septimius Severus bei der Abfassung einer Depesche,[20] – Tiberius mit einer Verstellung und Cäsar Augustus über einem Kompliment. – Ich hoffe, daß es ein aufrichtiges war, sagte mein Onkel Toby.

Es war an seine Frau gerichtet, sagte mein Vater.

Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 2, Leipzig, Wien [o. J.], S. 15-21.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Tristram Shandy
Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman
Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman: (Reihe Reclam)
Tristram Shandy
Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman (insel taschenbuch)
Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon