Sechzigstes Kapitel.

[92] Bei den alten Gothen in Deutschland, welche (darin ist der gelehrte Cluverus sehr bestimmt) ihren ersten Sitz zwischen der Weichsel und der Oder hatten und späterhin die Heruler, Rugier, sowie einige andere vandalische Völkerschaften mit sich vereinigten, herrschte der weise Gebrauch, jede wichtige Angelegenheit zweimal zu berathen, einmal im trunkenen, das andere Mal im nüchternen Zustande: im trunkenen, damit es ihren Rathschlägen nicht an Kühnheit, im nüchternen, damit es ihnen nicht an Vorsicht fehle.

Mein Vater, der sich Alles, was die Alten gesagt oder gethan hatten, zu Nutzen zu machen pflegte, aber ein entschiedener Wassertrinker war, hatte sich lange den Kopf darüber zerbrochen, was er hiermit für sich anfangen könne; erst im siebenten Jahre seiner Verheirathung und nach tausend fruchtlosen Einfällen und Versuchen war er auf einen zweckmäßigen Ausweg verfallen. Wenn nämlich in der Familie irgend eine wichtige und schwierige Frage auftauchte, deren Entscheidung sowohl große Ruhe als auch Entschlossenheit verlangte, so bestimmte er die erste Sonntagsnacht im Monat und die Samstagsnacht vor derselben dazu, um sie mit meiner Mutter im Bett zu diskutiren, auf welche Weise er, wie Sie einsehen werden, Sir, * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * *.

Dies nannte mein Vater, sonderbar genug, seine lits de[92] justice, denn aus den beiden sehr verschiedenen Entschließungen, welche in zwei ganz verschiedenen Stimmungen gefaßt waren, wurde dann das Mittel gezogen, welches den Kern der Weisheit so sicher traf, als ob er hundertmal betrunken und nüchtern gewesen wäre.

Es darf der Welt nicht verschwiegen bleiben, daß dies bei literarischen Fragen ebenso wirksam ist als bei militärischen oder häuslichen; aber nicht jeder Autor kann das Experiment den Gothen und Vandalen nachmachen; mancher würde dadurch seinem Körper schaden, und wollte er's wie mein Vater machen, so möchte das manchem für seine Seele schädlich sein.

Ich mache es so:

Stoßen mir heikle und schwierige Fragen zur Behandlung auf (und das ist in diesem Buche, Gott sei's geklagt, nur zu oft der Fall), bei denen ich befürchten muß, Ew. Wohlgeboren und Hochehrwürden auf den Hals zu bekommen, so schreibe ich die eine Hälfte im hungrigen, die andere im satten Zustande, – oder ich schreibe, wenn ich gegessen habe, und korrigire, wenn ich hungrig bin, – oder schreibe, wenn ich hungrig bin, und korrigire, wenn ich gegessen habe, was alles auf eins herauskommt.

Indem ich so von meines Vaters Verfahren viel weniger abweiche, als er von dem der Gothen, weiß ich mich mit ihm, was sein erstes lit de justice anbetrifft, auf gleicher Höhe, und was das zweite anbetrifft, so stehe ich nicht unter ihm. Diese verschiedenartigen und fast unbegreiflichen Wirkungen entströmen hier wie da der weisen und wunderbaren Einrichtung der Natur, – darum, geben wir ihr die Ehre! Alles, was wir thun können, ist, diese Einrichtung uns zu Nutzen zu machen und sie zur Vervollkommnung und besseren Handhabung der Künste und Wissenschaften anzuwenden.

Denn wahrlich, – schreibe ich mit vollem Magen, so schreibe ich, als ob ich mein Lebtag nicht wieder würde hungern müssen, d.h. ich schreibe unbekümmert um die Welt und ohne Furcht, ich zähle meine Narben nicht und meine Phantasie verliert sich nicht in dunkeln Gängen und Verstecken, um künftige Wunden vorauszumalen. Meine Feder läuft, wie sie will, und[93] kurz – ich schreibe aus vollem Herzen, weil ich mit vollem Magen schreibe.

Aber schreibe ich in hungrigem Zustande, dann, Ew. Gnaden, ist es ein ganz anderes Ding. Dann zolle ich der Welt alle mögliche Aufmerksamkeit und Rücksicht und habe (so lang es dauert) ebenso viel von der unterkriechenden Tugend der Vorsicht, als der Beste von Ihnen.

So zwischen beiden schreibe ich dagegen ein harmloses, höfliches, thörichtes, lustiges Shandy-Buch, das Ihnen allen das Herz erfrischen soll. –

Und den Kopf auch – wenn Sie's nämlich verstehen.

Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 2, Leipzig, Wien [o. J.], S. 92-94.
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