Ghasel

[237] Was frommt, wenn du nicht küssen willst, der Reiz der Schäferstunde dir?

Was, wenn du nimmer sie verstehst, der Minne süße Kunde dir?

Was frommt, wenn du nicht kühn und keck ihn brauchst zum Schwerthieb in der Schlacht,

Was frommt im feigen Wollustschlaf der Arm denn, der gesunde, dir?

Was eilt, wenn du nicht nippen willst, des Weines goldne Zauberpracht,

Was eilt des Bechers goldner Rand zu dem Philistermunde dir?

Wenn nicht der Liebe Lebenshauch im tiefsten Busen ist erwacht,

Was frommt, o Dirnlein, minniglich, der Busen denn, der runde, dir?

Was dudelst du ein Liedlein her, von lauen Seufzern angefacht,

Wenn wahre Lied- und Liebeslust nicht stehn im reinen Bunde dir? –

Blick' in der heiligen Natur schwarzdunkeln wahren Zauberschacht,

Dann senkt sich gern der Muse Wort zum tiefsten Herzensgrunde dir?

Und was das Auge dir umspielt, das halte fest mit kühner Macht,

Was in dir schläft, das blitz' empor aus Herz und Faust und Munde dir,

Dem Feigling blüht die Rose nicht durch seines Busens Nebelnacht,

Doch kühn schlürfst du des Glückes Trank aus seines Fasses Spunde dir.

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 237-238.
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