1.

[70] Seit meinem ersten Morgenspaziergang auf dem Kirchhofe von Montparnasse ist ein Jahr verflossen. Ich habe gesehen, wie die Blätter der Ulmen und Linden fielen, und wie alles wieder grün wurde und die Glyzinien und Rosen auf dem Grabe Theodor de Banvilles blühten; ich habe dem verführerischen Gesang der Amsel unter den Zypressen gelauscht, und wie die Tauben ihre Paarzeit auf den Grabmälern feierten.

Nun werden die Linden wieder gelb, die Rosen verwelken, und die Amsel singt nicht mehr; nur ein höhnendes Gelächter stößt sie aus über Lenz und Liebe von einst. Freilich, sie werden wiederkehren. Denn auch der kotige Herbst und der schmutzige Winter werden vergehen, wie alles vergeht.


Ich trete in den Kirchhof ein, und der lärmende Eintag des Montparnasse-Viertels liegt hinter mir. Noch verfolgen mich die ungesunden Träume der Nacht, aber ich nehme sie nicht mit hinein. Der Lärm der Straßen erstirbt, und der Friede des Todes tritt an seine Stelle.

Zu dieser frühen Morgenstunde immer allein, habe ich mich daran gewöhnt, den Friedhof als meinen Lustgarten zu betrachten, so daß ich – gleich den Toten – einen zufälligen Besucher als einen Eindringling empfinde.[70]

Dieses ganze Jahr über habe ich nie einen Freund oder eine Freundin hierher geführt, so daß keinerlei Erinnerung an irgendwen sich in meine persönlichen Eindrücke mischt. Ich gehe die Allee Lenoir hinauf, die gleich der Allee Raffet mit Zypressen besetzt ist, und begrüße meine Lieblinge Orfila, Thierry und Dumont d'Urville. Ein stolzes Machtgefühl überkommt mich, wenn ich so diese geraden Baumreihen durchwandele, die wie Grenadiere in grünen Pelzmützen zu präsentieren scheinen. Wenn ein wenig Wind weht, beugen sie sich und bringen auf beiden Linien ihren Gruß dar, indes ich stolz wie ein Marschall die Allee zu Ende schreite. Da lese ich Tag für Tag auf einem Leichenstein: »Boulay war gewiß ein braver und ehrenhafter Mann.« (Napoleon.)

Ich kenne Boulay nicht und will ihn nicht kennen, aber daß Napoleon sich alle Morgen von jenseit des Grabes an mich wendet, erfreut mein Herz, und ich dünke mir einer seiner Vertrauten zu sein.

Diese tausende von Gräbern zwischen den Zypressen, bedeckt mit Blumen, die auf den harten Steinen gewachsen sind, von Leichnamen genährt und von aufrichtigen oder erheuchelten Tränen begossen! Diese kleinen wie Puppenhäuschen geschmückten Kapellen in dem großen Garten, dazwischen die unzähligen Kreuze, welche abweisend die Arme gegen den Himmel ausstrecken, als riefen sie laut: O crux, ave spes unica! Es ist, so scheint es, die Generalbeichte der leidenden Menschheit. Inmitten des Laubes, hier, dort, überall das kurze: Spes unica! Und umsonst bemühen sich die Büsten der[71] kleinen Rentiers mit und ohne Kreuz der Ehrenlegion darzutun, daß es noch eine Hoffnung über den Tod hinaus gebe.

Man hatte mir von diesen häufigen Besuchen abgeraten, da sie wegen der miasmengeschwängerten Luft gefährlich seien. In der Tat hatte ich einen gewissen Nachgeschmack von Grünspan, der mir noch ein paar Stunden nach meiner Rückkehr nach Hause auf der Zunge blieb. Die Seelen, oder vielmehr vergeistigten Körper, hielten sich also schwebend in der Luft; so konnte ich mich wohl versucht fühlen, sie zu fangen und zu analysieren. Mit einem mit flüssigem essigsaurem Bleisalz gefüllten Fläschchen versehen, beginne ich denn auch wirklich diese Jagd auf Seelen oder vielmehr Körper, und die entkorkte Phiole krampfhaft in der Hand, ködere ich wie ein sorgloser Vogelsteller meine Beute.

Zu Hause filtriere ich den reichlichen Niederschlag und bringe ihn unter das Mikroskop.

Armer Gringoire! Bestand vielleicht aus diesen kleinen Kristallen der Gehirnmechanismus, der mich in meiner Jugend für den armen Dichter voreilig schwärmen machte, war er es, der zugleich die Liebe eines jungen hübschen Mädchens anzuziehen vermochte? Braver, ehrenhafter Boulay (der du den Kodex redigiertest, wie ich jetzt erfahren habe), solltest du es wohl sein, den ich da mit meiner Fliegenklappe gefangen? Oder du, d'Urville, der du mich während der langen Winterabende, weit von hier, unter dem Nordlicht in Schweden, zwischen Fuchtel und Schulbank meine erste Reise um die Welt machen ließest?[72]

Da sie nicht antworten, gieße ich einen Tropfen Säure auf mein Objekt. Die tote Materie bläht sich auf, bewegt sich unruhig hin und her, beginnt zu leben, haucht einen fauligen Geruch aus, beruhigt sich wieder und stirbt. Ich kann ohne Zweifel die Toten erwecken, aber ich will es nicht noch einmal wiederholen, denn die Toten haben verdorbenen Atem, wie Wüstlinge nach einer durchschwelgten Nacht. Schlafen sie denn nicht ganz fest da unten und harren der Auferstehung?

Seit zehn Jahren bin ich Atheist! Ich weiß selbst nicht recht warum! Das Leben langweilte mich, und ich mußte doch das Neue mitmachen. Jetzt, da das Neue alt geworden ist, möchte ich nichts mehr davon wissen, alle Fragen unentschieden lassen und warten.

Seit acht Monaten betrachte ich auf dem Friedhof ein schönes Denkmal. Sarkophag, Grab, Gewölbe, Mausoleum, Kenotaphion, Urne, alles im schönsten altrömischen Stil. Es ist in rotem Granit ausgeführt und trägt keine Inschrift. Ich habe es lange mit der zerbrochenen Säule, dem »Erinnerungsdenkmal aller derer, die kein eigenes Denkmal haben«, verwechselt. Welches Geheimnis liegt da verborgen? Eine stolze Bescheidenheit, die den Fremden zu fragen zwingt oder voraussetzt, daß er es bereits wisse? Am andern Tage blieb ich, tief in meine einsamen Gedanken versunken, vor einer Tafel stehen, die den Namen der Quer-Allee trug, in der das Denkmal des großen Namenlosen lag: Allee Chaveau-Lagarde. Wie ein Blitz durchfuhr es mein Gehirn, und dann fiel die Nacht des Vergessens völlig. Ich sah den Sarg an, der rot und gelb war[73] wie von geronnenem Blut und wiederholte »Chaveau-Lagarde«, wie man den Namen einer bekannten Persönlichkeit vor sich hin sagt.

Wahrscheinlich verdankte die Allee ihren Namen diesem Chaveau-Lagarde ... Rue Chaveau-Lagarde, hinter der Magdalenenkirche, halt! Der geheimnisvolle Mord an einer Greisin, 1893, Rue Chaveau-Lagarde ... rot von geronnenem Blut ... und die beiden Mörder blieben unentdeckt!

Gewohnt, alle Vorgänge in meiner Seele zu beobachten, erinnere ich mich, wie ich von einem ungewöhnlichen Schrecken gepackt wurde, während Bilder in bunter Folge wie Vorstellungen eines Wahnsinnigen mich durchjagten. Ich sah den Verteidiger Ludwig XVI. und im Hintergrund die Guillotine; ich sah einen großen, von grünen Hügeln gesäumten Strom, eine junge Mutter, die ein kleines Mädchen das Wasser entlang führt; dann ein Kloster mit einem Altarbild von Velasquez; ich bin zu Sarzeau, im Hotel Le Sage, wo es eine polnische Ausgabe des Hinkenden Teufels gibt; ich bin hinter der Magdalenenkirche, Rue Chaveau-Lagarde ...; ich bin im Hotel Bristol in Berlin, von wo ich eine Depesche an Lavoyer, Hotel London, sende; ich bin in Saint Cloud, wo eine Frau mit einem Rembrandthut sich in Kindesnöten windet; ich sitze im Café de la Regence, wo der Kölner Dom in Rohzucker ausgestellt ist, ... und der Kellner gibt an, daß er von Ranelagh und dem Marschall Berthier erbaut sei ...

Was war das? Ich weiß nicht! Ein Sturm von[74] Erinnerungen und Träumen, vom Anblick eines Leichensteins entfesselt und durch mein feiges Erschrecken wieder verscheucht! Doch wenn dieses Grab auch nicht Chaveau-Lagarde bergen sollte, was ich ja nicht weiß, so birgt es vielleicht ein Geheimnis, das mein eigenes Grab einst lüften wird!


Nichts ereignet sich in diesem Bezirk des Todes, ein Tag fließt dahin wie der andere, und nur wenn die Vögel brüten, wird es laut in der Stille. Es ist wie ein blühendes Eiland mitten im Meer; von ferne her tönt es wie Murmeln von Wogen. Eine Insel der Seligen, ein großer Spielplatz, auf dem die Kinder Blumen und Spielzeug zusammengetragen, und wo sie Kränze aus den Perlen des Strandes gereiht haben ...; und mit allerlei Flitter gezierte Kerzen brennen dazwischen ... Aber die Kinder haben die Flucht ergriffen und der Spielplatz ist leer ...

Da, eines Morgens im Monat Juni entdecke ich ein junges Weib, das die große Allee auf und ab geht. Sie ist keine Leidtragende, sondern scheint auf jemanden zu warten, und ihre unruhigen Blicke haften am Haupteingang, der so viele aufnimmt, um sie niemals wieder zu entlassen.

Ein verfehltes Rendezvous, und in der Wahl des Ortes nicht sehr heiter, denke ich mir und verlasse den Friedhof.

Am nächsten Morgen traf ich sie wieder an. Es war herzzerreißend! Sie sah auf die Straße, ging hin und her, blieb stehen, horchte, spähte.[75]

Jeden Morgen traf ich sie so, und sie ward immer bleicher; der Schmerz hat ihr Gesicht veredelt. So wartet sie, aber der Elende kommt nicht.

Eine Reise entführte mich auf fünf Wochen in ein entferntes Land. Als ich zurückkam, hatte ich alles vergessen. Ich betrete meinen Friedhof und bemerke inmitten der großen Allee das verlassene Weib. Sein abgemagerter Körper zeichnet sich gegen ein Kreuz ab, als ob es gekreuzigt wäre, und über ihm steht das alte: O Crux, ave spes unica!

Näher kommend sehe ich die Zerstörung, welche diese kurze Spanne Zeit in ihrem Gesichte hervorgerufen hat. Mir ist, als sähe ich unter der weißen schweigsamen Leinwand einen Leichnam, den sie eben in einem Krematorium verbrannt haben. Alles ist noch da und macht den Eindruck der menschlichen Gestalt, aber alles ist Asche und ohne Leben.

Oh, glaubt mir, sie ist erhaben in ihrem nicht kleinen Leid! Von Sonne und Regen sind die Farben ihres Mantels verschossen, die Blumen ihres Hutes sind mit den Linden gelb geworden; selbst ihre Haare haben sich verfärbt ... So wartet sie nun, Tag aus, Tag ein! Ist sie vielleicht wahnsinnig? Jawohl, ein Opfer jenes großen Wahnsinns »Liebe«! Vergeblich erwartet sie die Umarmung, die ein neues Leben in ihr erwecken soll und mit ihm – neues Leiden. Und so stirbt sie langsam dahin.


Ein Zugeständnis auf Lebenszeit? Warum nicht auf Ewigkeit! wenn die Materie unsterblich ist?


Ich möchte wieder fromm werden, aber wie soll ich[76] es werden ohne ein Wunder. Zwar vor einigen Tagen war ich sehr nahe daran. Ein Gewitter war im Anzuge, die Wolken ballten sich zusammen, die Zypressen schüttelten drohend ihre Häupter und wurden nicht müde, mir ihre Verbeugungen zu machen. Napoleon erklärte noch immer, daß Boulay ein braver und ehrenhafter Mann war; die Tauben paarten sich auf einem Steinkreuz; die Toten atmeten Schwefelgerüche aus, und die Miasmen schmeckten nach Kupfer.

Plötzlich veränderten die Wolken ihre wagrechte Lage und nahmen die Gestalt des Löwen von Belfort an. Dann drehten sie sich mit einem Male, wie ein Tier auf seinen Hinterbeinen, um, und richteten sich senkrecht in die Höhe. Nie habe ich etwas Ähnliches gesehen außer auf Gemälden des jüngsten Gerichts. Jetzt lösen die schwarzen Figuren sich auf und die Form der Gesetzestafel Mosis erscheint ungeheuer, doch deutlich umrissen am Firmament. Und diese eisengraue Tafel spaltet ein Blitz und reißt in sie den deutlich lesbaren Namen Javeh, d.i. Gott der Rache!


Der atmosphärische Druck bog mir die Knie. Aber keine andere himmlische Stimme ward vernehmbar als das Rollen des Donners, und so kehrte ich wieder nach Hause zurück.

Quelle:
Strindberg, August: Inferno. Berlin [1919], S. 70-77.
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