[77] Wiederum ist der Herbst im Land; die Linden werden kahl, ihre herzförmigen Blätter flattern raschelnd zu Boden und knistern unter meinen Schuhen, die meinen stolzen Schritt über die dürren, krachenden Herzen dahintragen.
Mir zu Häupten im hohen Gewölk klingt es in fremden und doch wieder vertrauten Tönen. Ich muß an ein Jagdhorn denken, so schwellen sie an und klagen und verwehen. Und ein altes schwedisches Lied, töricht und lieblich wie ein Kindermärchen, klingt in mir auf.
Rauscht mein Lindenbaum noch?
Singt meine Nachtigall noch?
Weint mein Töchterlein sehr?
Lächelt mein Weib noch je?
Dein Lindenbaum rauscht nicht mehr,
Deine Nachtigall singt nicht mehr,
Dein Töchterlein weint Tag und Nacht,
Dein Weib lächelt nie mehr, nie mehr.
Die wilden Gänse des Nordens sind es, die mich auf ihrer Wanderschaft nach wärmeren Ländern und weiteren Himmeln begrüßen.
Der Nachtwind fährt durch die Linden und – o Wunder! – die für das kommende Jahr bestimmten Knospen sind aufgebrochen, und die schwarzen Gerippe grünen wieder wie Aarons Stab. Also die Friedhofslinden[78] fangen an, unsterblich wie die Ewigen zu werden, »sempervirens,« Dank den Toten, die sie mit ihren Körpern und Seelen nähren.
»Das organisierte Wesen entnimmt seiner Umgebung unablässig neue Moleküle und läßt sie aus dem Zustand des Todes in den des Lebens übergehen. Wenn eines dieser Moleküle uns seine Geschichte erzählen wollte ... Seit die Erde steht, würde es vielleicht sagen, habe ich gar merkwürdige Wanderungen gemacht. Zuerst war ich ein Grashälmchen, dann wurde ich von den Wurzeln einer mächtigen Eiche aufgesogen; dann ward ich eine Eichel, und ach! gefressen durch wen? dann wurde ich eingesalzen, um eine lange Reise zu machen, dann verdaute mich ein Matrose, dann ward ich Löwe, Tiger, Walfisch; endlich kam ich in eine kranke junge Brust usw.«
Es ist J. Rambosson in seinen Pflanzenlegenden, der mir auf diese Weise in meinen transmutatorischen Spekulationen recht gibt. Als ich beim Grabe Banvilles vorbeikomme, frage ich mich, warum die Freunde des Verstorbenen Rosen und Jasmin darauf gepflanzt haben. Wenn es der Wille des Verstorbenen war, hat er dann gewußt, daß die Leichengifte nach Rosen, Jasmin und Moschus riechen? Ich glaube nicht, aber ich möchte fast glauben, daß wir in den Augenblicken am weisesten sind, wo wir am wenigsten wissen.
Warum übrigens all die Blumen auf den Gräbern? Die Blumen, diese Lebendig-Toten, mit ihrem seßhaften Leben, die sich gegen niemanden zur Wehr setzen, eher leiden als schaden, und sich dabei sinnlich zu lieben[79] scheinen, vermehren sich ohne Kampf und sterben ohne zu klagen. Es sind höhere Wesen, die den Traum Buddhas verwirklicht haben, nicht zu wünschen, alles zu ertragen, und sich in selbstgewählter Beschränkung auf sich allein zurückzuziehen.
Deshalb ahmen vielleicht die weisen Hindus das passive Dasein der Pflanze nach, und enthalten sich, mit der Außenwelt, sei es selbst durch ein Zeichen, einen Blick oder ein Wort, in Verbindung zu treten.
Ein Kind fragte mich einmal: »Warum singen die schönen Blumen nicht auch, wie die Vögel?«
»Sie singen,« erwiderte ich, »aber wir können sie nicht hören.«
Ich hielt vor dem Relief Banvilles.
Kann man in diesem Rentiergesicht mit seinen aufgeblasenen Backen, seinen fleischigen Gourmand-Lippen und seinen Geizhals-Augen eine Spur von Rosen und Jasmin entdecken? Nein, das kann nicht der Dichter Gringoires sein! Das muß ein anderer sein! Aber wer?
Ich erinnere mich der Büste Boulays. Diese Gnomennase, dieser Mund, boshaft wie der eines alten Zauberers, diese verschmitzte Bauernmiene – nein, das kann doch nicht der brave und ehrenwerte Boulay sein!
Und Dumont d'Urville, der gelehrte Natur- und Sprachforscher, der kühne und kluge Entdecker! Was der Künstler da gemacht hat, ist das Gesicht eines ganz gemeinen Wechselagenten. Was ist das? Trägt der Mann eine Maske?
Ich rufe mir die Bilder der großen Zeitgenossen zurück: Darwin ein Orang-Utan; Dostojewski der anerkannte[80] Typus eines Galeerensträflings; Tolstoi ein Straßenräuber; Taine ein Börsianer; ... genug!
Nun, sie haben alle zwei Gesichter, zum mindesten zwei, unter ihrer mehr oder weniger behaarten Haut. Eine römische Legende erzählt uns, daß die äußere Schönheit Jesu Christi ohnegleichen, aber in Augenblicken des Zornes von einer abschreckenden, ja bestialischen Häßlichkeit gewesen sei.
Sokrates mit seiner Faungestalt und einem Gesicht, auf dem alle Laster, alle Verbrechen sich spiegelten, lebte wie ein Heiliger und starb als ein Held.
Der hl. Vincent de Paul, der alles dahingab und sich aufopferte, sah aus wie ein verschmitzter und boshafter Dieb.
Woher diese Masken? Sind sie das Erbe eines früheren irdischen oder überirdischen Daseins?
Vielleicht hat Sokrates die Lösung in seiner berühmten Antwort an seine Verleumder gegeben, als sie ihm sein Verbrechergesicht vorwarfen:
»Wie groß also, denkt euch, muß meine Tugend gewesen sein, wenn sie mit so vielen schlechten Anlagen zu kämpfen hatte!«
In freier Anwendung: Die Erde ist eine Bußkolonie, in der wir die Strafe der Verbrechen erleiden, die wir in einem früheren Dasein verübten, und deren schwache Erinnerung unser Gewissen mahnt, uns zu beständigem Streben nach Veredelung anzufeuern. Folglich sind wir alle Verbrecher, und der Pessimist, der immer Übles von seinem Nächsten denkt und spricht, hat nicht unrecht.[81]
Heute morgen verletzte in der Allee Lenoir eine Kleinigkeit mein Schönheitsgefühl. Die geraden Reihen der Zypressen waren durch den Wipfel eines Baumes gestört, der über den Weg gestürzt war. Vom Winde geschüttelt, winkt er mir, stehen zu bleiben, ich verlangsame meine Schritte und mache halt. Eine schwarze Amsel, die in den Zweigen versteckt war, fliegt schwatzend auf und setzt sich auf ein steinernes Kreuz am Wege. Wir betrachten uns gegenseitig. Sie pickt auf das Kreuz, um meine Aufmerksamkeit dar auf zu lenken, und ich lese die Grabschrift: »Wer mir folgt, wird nicht in Finsternis wandeln.«
Der schwarze Vogel erhebt sich und fliegt zwischen den Gräbern hindurch, und ich gehe ihm gedankenlos nach. Er setzt sich auf das Dach einer kleinen Kapelle, über deren Tor die Worte stehen: »Eure Traurigkeit wird sich in Freude verkehren.«
Mein Führer fliegt auf und führt mich mit seltsamem Flöten, das ich gern verstehen möchte, weiter in das Gräberlabyrinth hinein. Als er endlich bei einem Holunderstrauch verschwindet, stehe ich einem Mausoleum gegenüber, das ich noch nie beachtet habe. Es ist ein Künstlertraum, eine Dichtervision, oder noch mehr eine halbvergessene und durch die Tränen der Liebe wieder belebte Erinnerung! Ein Hautrelief stellt auf goldenem Grunde ein sechsjähriges Kind dar, das ein Engel über Wolken gen Himmel führt.
Kein Schimmer von Verbrechertypus zeigt sich in diesem Kindergesicht mit seiner vollkommenen Heiterkeit und seinen großen Augen, die viel eher geschaffen[82] sind, Schönheit und Güte auszustrahlen, als diese unreine Welt zu betrachten. Das Näschen ist durch die Gewohnheit, das Köpfchen an der Brust der Mutter zu bergen, an der Spitze leicht eingedrückt.
Es sitzt mit seinen muscheligen Flügeln wie ein reizendes Ornament über dem herzförmigen Mündchen, nicht um nach irgendeiner Beute zu wittern, noch um gute oder schlechte Düfte zu riechen, ja es ist gar kein Organ: es ist Schönheit um der Schönheit willen.
Es ist das Kind vor dem Ausfall der Zähne, dieser Perlen ohne irgendeinen anderen ersichtlichen Nutzen, als ein Lächeln leuchtender zu machen.
Und das soll nun vom Affen herstammen! Zwar, gestehen wir's nur, daß der gealterte Mensch mit seinem behaarten Körper, faltigen Gesicht, hervorstehenden Zähnen, gekrümmten Rücken und gebogenen Knien sich dem Affenartigen wieder nähert, es sei denn, sein Äußeres sei nur eine Maske. Ein Fortschritt im entgegengesetzten Sinne?
Oder wie? Hat es das goldene Zeitalter Saturns gegeben und sind wir von diesen Glückseligen degeneriert, die wir nie vergessen können, und deren Verlust das Kind bei seiner Ankunft in einer Welt, in der es heimatlos ist, weinend beklagt.
Weiß man, was man tut, wenn man die Kinder mit Milch und Honig und später mit mehr oder weniger goldenen Früchten nährt? Wenn man sie an das goldene Zeitalter erinnert, wo:
Flumina jam lactis, jam flumina nectaris ibant
Flavaque de viridi stillabant ilice mella.
[83]
Warum erzählt man den Kindern diese Geschichten vom Schlaraffenland, von Kobolden, Zwergen und Riesen, ohne ihnen zu sagen, daß das alles Lüge ist? Warum stellen diese Spielsachen Ungeheuer und Engel, vorsintflutliche Tiere und verunstaltete Pflanzen vor, die es nicht gibt?
Wäre die Wissenschaft aufrichtig, sie würde antworten: Um dem Kinde über seine Phylogenie hinwegzuhelfen, das heißt die Wiederholung seiner vergangenen Zustände, wie es vor der Geburt seine tierische Entwickelung durchläuft.
Die von ihrem Flug zurückkehrende Amsel lockt mich mit ihrem hellen Ruf. Von einem eisernen Gitter herab zeigt mir ihr Schnabel einen Gegenstand, dessen Form und Farbe ich nicht zu unterscheiden vermag. Als ich mich nähere, erhebt sich der Vogel und läßt seine Beute auf dem Geländer zurück. Es ist eine Schmetterlingspuppe, jene einzig dastehende Bildung der Natur, die im ganzen Tierreiche keine formale Analogie hat.
Ein Schreckbild, ein Ungetüm, eine Tarnkappe, weder Tier noch Pflanze noch Stein; ein Leichentuch, ein Grab, eine Mumie, nicht geworden, denn sie ist ohne Ahnen hier unten, sondern offenbar geschaffen.
Der große Schöpfungskünstler hat sich im Gefühl seiner Meisterschaft einmal darin gefallen, etwas Zweckloses zu bilden, l'art pour l'art, vielleicht auch wollte er ein Symbol schaffen. Ich weiß wohl, diese Mumie enthält nichts als aus Schleimhäuten ausgesonderten[84] Schleim, in dem sich nicht die geringste Struktur findet, und der nach frischem Kadaver riecht.
Und diese Herrlichkeit ist mit Leben und Selbsterhaltungstrieb begabt, denn sie knirscht unter dem kalten Eisen und kann sich, zu sehr gerüttelt, mit Fäden festhalten.
Ein lebender Kadaver, der sicher auferstehen wird.
Und die andern da drunten, die sich in ihren Puppen verwandeln, die dieselbe Nekrobiose durchmachen, sie werden, nach der Weisheit der Akademien, diesen Abtrünnigen ihres eigenen Meisters, nicht mehr erwachen!? Man hat wohl vergessen, was Voltaire über die letzten Dinge bekannt hat! Nun ich, der Voltairianer, mache mir ein Vergnügen daraus, diesen Stein des Anstoßes neu aufzurichten und zu zitieren, wie dieser Skeptiker alles zuließ, indem er alles leugnete –:
»Die Auferstehung ist etwas ganz Natürliches; es ist nicht erstaunenswerter, zweimal als einmal geboren zu werden.«
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