Fünfte Szene

[82] Die Vorigen. Arratos, umgeben von den Großen der Stadt, darunter Hegesias, Artemidor, Diokles, erscheint auf der Terrasse links.


DIE MENGE schreiend.

Heil Arratos![82]

ARRATOS.

Freunde!

Wenn ich zu sprechen mich erkühnen mag,

So bitt' ich, daß ihr mit des Jubels Lohnung

Sparsamer seid. Was tat ich Großes? Was

Gelang mir, daß geneigten Herzens ihr

Mich lobt?


Rufe freundlichen Widerspruchs.


Ich weiß, ihr nennet mich den Sieger

Der Quellenschlucht. Doch bin ich's wirklich?


Rufe: »Ja – ja!«.


DER BLINDE in Verwunderung.

Hört!

ARRATOS.

Bin ich der Weise, dessen hoher Wille

Fernschauend Weg und Ziel vorherbemaß?

Bin ich wohl gar ein sonnenfroher Held,

Der in des Augenblickes Strudel tollkühn

Hinabgetaucht, Verlornes an das Licht

Zu heben? Nein, ihr Freunde, denn ich selber

Ward an das Licht gehoben von dem Strudel

Des Unglücks, das mir Glück hieß und so allen

In Glück sich wandelte.

DER BLINDE leise.

Ist er ein Heuchler

Oder ein Narr geworden?[83]

ARRATOS.

Darum jauchzet

Mir nicht als eurem Helfer blindlings zu,

Seid herrisch nicht in eurem Dienenwollen,

Und gönnet mir, dem Leis'hinwandelnden,

In eurer Mitte schweigend zu verschwinden.


Unter den Beifallsrufen des Volkes steigt er die Stufen nach der Mitte der Bühne herab.


DER BLINDE.

Für einen Schweigenden spricht er zu gut.

EURYTIMOS.

Verschwinden wird er auch nicht.

ARTEMIDOR sich Arratos entgegenstellend.

Hoher Fürst!

Erlauchter Vater!


Es wird still.


DER BLINDE.

Wer sprich jetzt?

EURYTIMOS leise.

Sein Sohn

Artemidor.

DER BLINDE leise.

Acht auf dies Spiel![84]

ARTEMIDOR.

Gewähr uns,

Wenn nicht dich selbst zu preisen – dies verbietet

Dein hochgemuter Wille –, so doch uns!

Uns, die wir unter deines Zepters Obhut

Des goldnen Weltenalters Blütentage

Neu sich vollenden sehn. So schufest du

Granitnen Boden für die Macht, die du

Und nach dir dein Geschlecht, das glückliche,

Der Stadt erobern soll. Denn dies Geschlecht,

Durch mich vertreten – und ich schwör' es heut'

Mit heil'gem Schwure – wird dir ähnlich sein.


Vereinzelter Beifall.


DER BLINDE.

Der Schlaukopf schwört in seine eigne Tasche.

DIOKLES zu Artemidor.

Nicht neid' ich dir des Thrones Anwartschaft,

Und stets will ich dir dienen. Doch warum

Dir nichts als Ehren und mir nichts als Schmach?

HEGESIAS der sich mit den ihn umgebenden Männern leise verständigt hat.

Im Namen dieser Edlen, die des Rechtes

Bestimmung zwar in deine Hand gelegt,

O Herr, doch nicht der Wünsche sich entäußert,

Bitt' ich, Hegesias, des Theron Sohn:[85]

Gib, was die Zukunft dieser Stadt an Macht

Und


Mit einem Blick nach Artemidor.


Machtgelüst einst bringen wird, für heute

Den Winden. Laß in liebesinnendem

Gedenken uns zu jenen rückwärts schauen,

Die – ob nun schuldvoll oder nicht, ob nun

Vergessen oder nicht – auf daß wir leben,

In heißer Treue sich den Tod gewählt.

DER BLINDE für sich.

Der Falke stieß gradaus!

DIOKLES für sich.

O das tat wohl!

ARRATOS seinen Arger verbeißend.

Ihr edlen Freunde! Glaubet nicht, daß ich

Den Notkampf dieser Nacht verkleinern will.

Ich selbst hab' ihn geführt.

EINER AUS DEM VOLKE.

Noch eben sagt' er,

Er tat es nicht.

ARRATOS.

Ich selber besserte

Nach meiner schwachen Kraft, was andere

Leichtfertig unterhöhlten.[86]

DER BLINDE knirschend, leise.

Glaubst du das?

ARRATOS.

Doch nein! Nicht so! Mein eignes Walten zählt

Nicht mit. Ein Speerschaft war ich nur, ein toter,

Zielsicher schwirrend aus der Hand von Helden.

Gewaltiges, Nichtzubegreifendes

Geschah in jenem Dunkel, dessen Wirrnis

Dem Wissenden sogar, was wahr und falsch,

Zu solchem Knoten durcheinander knäult,

Daß auch der Augen allerschärfstes nicht – –

DER BLINDE sehr laut, mit schriller Stimme.

Hier kniet ein Blinder, und der löst ihn euch!


Bewegung.


ARTEMIDOR.

Was ist's? Wer wagt den güt'gen Herrn der Stadt

Mit kecker Zwischenrede zu verdrießen?

DER ZWEITE SPÄHER sich an Arratos drängend, leise.

Das war der Mann, von dem ich Kunde brachte.

ARRATOS fährt zusammen, faßt sich rasch.

Laßt, Freunde! Dieses Tages Wohlgefühl

Darf keinen Mißklang in die Ferne tragen.


[87] Leichthin.


Ein Bettler, sagt man mir, der dort am Tore

Nach Gaben lungert. Führt ihn in die Schenke,

Gebt ihm zu trinken, und so sei's genug.


Zum zweiten Späher, leise.


Du sorgst dafür, daß, wenn ich sein begehre –

DER ZWEITE SPÄHER.

Ja, Herr!

HEGESIAS.

Mahn' ich dich, Herr, zum andern Male,

Vergib's in Gnaden. Doch falls dieser Blinde

Nicht ganz Betrug, nicht ganz Verirrung ist,

So wär's ein Schaden, wollten wir in Hoffart

An ihm vorübergehn. Darum – im Namen

Auch dieser Edlen – bitt' ich ohne Zagen:

Hier und vor allem Volke heiß ihn reden.

Schon mit dem ersten Wort wird sich's erweisen,

Ob er um Zeit und Achtung uns bestiehlt.


Zustimmung im Volke.


ARTEMIDOR leise.

Ich flehe: Sprich ein Ja. Des Augenblicks

Bedeutung will es so.

ARRATOS.

Du blinder Mann,

Was du mir zu verkünden hast, verkünde.

DER BLINDE einfältig.

Verkünden? Ich? Was könnt' ich dir, Erhabner,

Der du ja alles besser weißt als ich,[88]

Wohl je verkünden? Nein doch: Bloß zu fragen

Erkühn' ich mich – und das ist schon zu viel.

Drei Fragen, Herr – drei ganz, ganz kleine Fragen,

Für unsre armen Toten, die von Blumen

Und von Musik und von den schönen Reden

Nichts hören und nichts sehn – dir vorzulegen,

Bitt' ich, der Ärmste aller Lebenden,

Dich, Herr, den Quell der Einsicht und der Würde.


Zustimmung im Volke.


ARTEMIDOR leise.

Sieh, wie das Volk sich seiner annimmt, Vater!

DER BLINDE.

Und nicht einmal begehr' ich einer Antwort.

Beliebt es dir zu schweigen, Herr, so schweige.

Dein gnäd'ges Ohrhinhalten gilt genug.

Und nochmals bitt' ich: höre meine Fragen,


Halb lauernd, halb einfältig.


Weil – du's – vielleicht – den Toten schuldig bist.


Erhöhte Zustimmung.


ARRATOS nach einem Zaudern.

Die toten Helden, die ich heiß beklage,

Sollst du vergebens nicht gerufen haben.

Zu hören, was du fragst, gelob' ich.[89]

DER BLINDE.

Dank,

Erhabner! Meiner Fragen erste lautet:

Wenn du die toten Helden heiß beklagst,

Beklagst du nicht den Feldherrn, der sie führte?

ARRATOS verwirrt.

Den Feldherrn? – Welchen Feldherrn?

STIMMEN IM VOLKE.

Horcht! O horcht!

DER BLINDE.

Ich hörte sagen:


Schrill.


Lykon heißt der Mann.

Ja – Lykon – ja!


Große Bewegung im Volk. Der Name geht in scheuem Flüstern von Mund zu Munde.


DIOKLES.

Ihr Götter, was wird dieses?!

ARRATOS.

Genug des Lärms. Gesetz in Syrakus

– Ein jeder kennt's, ein jeder kennt die Gründe –

Ist, daß der Name jenes toten Mannes

Für alle Zukunft nicht genannt soll werden.

Du, Blinder, hast hiergegen dich verfehlt

Und wirst die Strafe dulden. Nehmt ihn in

Gewahrsam.


Einige Wächter umringen den Blinden.
[90]

DER BLINDE lachend.

Solches nennst du Strafe, Herr?

Fast lieblich fühl' ich es, denn – beim Hephästos! –

Das Kettentragen bin ich sehr gewöhnt.

ARRATOS zu den Edlen, scheinbar unbefangen.

Welch seltsam Ungetüm! Aus Einfalt halb

Und halb aus Arglist dünkt er mich gebacken.


Zu dem Blinden.


An Freveln, scheint es, schleppst du mancherlei,

Du Gauch – warst unter jenen Feinden gar,

Den steineschleudernden, die wir verfluchen.

DER BLINDE.

Kann sein, o Herr! Versuch es zu ergründen!

Und jetzt – und trotz den Fäusten, die mich kitzeln –

Kommt meine zweite Frage. Sie zu hören,

Hast du vorhin gelobt. Jetzt höre sie:

Verfluchst du jener Feinde Steineschleudern

Und fluchst nicht auch dem mitternächt'gen Gaste,

Der dies gedroht?


Große Bewegung.


STIMMEN IM VOLKE.

Der mitternächt'ge Gast?

Was will er damit sagen? Welcher Gast?

EINER.

O seht, der König wankt.[91]

HEGESIAS.

Erhabner Fürst!

Ein Wahnwitz dünkt uns dieses Blinden Rede,

Doch ist dem anders – und so scheint es gar –

Dann klär uns dies: der mitternächt'ge Gast –

Wer war's? Und von wem redet er?


Quelle:
Hermann Sudermann: Der Bettler von Syrakus. Stuttgart und Berlin 2-51911, S. 82-92.
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