Der Tanz

[559] Das Tanzen gilt als ein Vergnügen,

Bei dem sich zwei zusammenfügen,

Und sich – statt gradeaus zu gehen –

Nach links und rechts im Kreise drehen.


Wenn wir sein Wesen recht erkennen,

Wird man das Tanzen Arbeit nennen,

Man hat den triftigsten Beweis

In dem dabei vergossnen Schweiß.
[559]

Hier untersucht nun der Gelehrte:

Zum ersten schafft sie keine Werte,

Zum zweiten aber hat davon

Der Arbeitnehmer keinen Lohn.


Er dreht von acht bis morgens fünfe

Und immer gratis eine Nymphe.

Dies bildet doch ein Unikum!

Und deshalb frage ich: warum?


Erfolgt es wirklich unentgeltlich?

Geschieht es nicht doch vorbehältlich?

Entledigt man sich seines Speckes

Ganz ohne Hinblick eines Zweckes?


Hier ist der Angelpunkt der Frage,

Und ihre Lösung tritt zutage:

Der Tänzer leistet nur so viel

In Hoffnung auf ein Nebenziel.


Es kann sich jede Nymphe denken,

Wenn Männer sie im Kreise schwenken,

So hofft er schließlich, daß vielleicht

Er das Betreffende erreicht.


Es gibt natürlich Unterschiede:

Der eine sucht es bona fide,

Der andre will als Schmetterling

Die Blume ohne Ehering.


Im Bürger- und Familienkränzchen

Verbirgt der Teufel schlau sein Schwänzchen,

Auch ist die Mutter nah dabei,

Damit es niemals lüstern sei.


Man hält sich zart in der Bewegung,

Man unterdrückt die schlimmste Regung

Und ist voll Ernst, indem man spricht

Von Ideal, Beruf und Pflicht.
[560]

Beim Walzer hält man sich manierlich,

Nie leidenschaftlich, immer zierlich.

Das Zeichen, daß man sich was denkt,

Ist auf den Händedruck beschränkt.


Das Auge schweift voll Seelenadel

Kaum einmal auf die Busennadel,

Und stößt im Drehen Bein an Bein,

So muß es unversehens sein.


Der Ball der gut erzognen Töchter

Dient auch zum Finden der Geschlechter,

Doch sucht hier alles die Partie;

Die Sinnenfreude sucht man nie.


Die Mädchen sind bloß »heimzuführen«

Und deshalb ausgestellt. Berühren

Darf sie der Käufer hinterdrein.

So ist 's reell und sittenrein.


Wie anders denkt man auf dem Lande

Beim kernhaft echten Bauernstande!

Hier prüft man erst den Vorgeschmack

Und kauft die Katze nicht im Sack.


Hier kann man schon den Zweck verstehen,

Wenn sich im Dorf die Paare drehen.

Des biedern Burschen große Hand

Ruht auf dem schönsten Gegenstand.


Dort, wo es sich nach hinten rundet,

Hat er durch festen Griff erkundet,

Daß mancherlei vorhanden ist,

Was er nicht gerne hier vermißt.


Sein starker Druck gilt ihr als Zeichen,

Er möchte erst noch mehr erreichen.

Sie lacht. Geschlossen ist der Bund.

Ich heiße dieses kerngesund.
[561]

Hat sie ein nettes Tanzvergnügen,

Warum soll er nicht seines kriegen?

Und trinkt sie mit von seinem Bier,

So wär' es auch nicht schön von ihr.


Ja, meine Herren, das ist sicher

Viel edler und viel säuberlicher,

Als, den ich oben erst beschrieb,

Der Heirats- und Versorgungstrieb!


Und sprecht mir nicht von Ehrbegriffen!

Aufs Standesamt ist schon gepfiffen,

Natur genügt uns auch allein;

Nicht alles muß gestempelt sein.


In Schwabing auf dem Bauernballe

Begegnet man dem gleichen Falle.

Das Künstlervolk denkt auch so groß

Und ehebundsbedürfnislos.


Dem Malweib in Reformkostümen

Ist das besonders nachzurühmen.

Die Malerin braucht kein Papier,

Der Amor kommt auch so zu ihr.


Sie geht zum Ball als Gänseliesel;

In kurzen Hosen kommt der Hiesel,

Mit rauhem Griffe packt er sie

Und hat schon ihre Sympathie.


Ein Juhschrei und ein falscher Schnalzer,

Dann dreht er sie im wilden Walzer,

Und merkt beim ersten Schritt: Wie nett!

Das Mädel trägt ja kein Korsett!


Und was ihm da entgegenschwabbelt,

Ist wunderhübsch; das kribbelt, krabbelt

Und macht ihm einen Hochgenuß,

Daß er sie schleunigst küssen muß.
[562]

Und rechts und links ein wildes Stampfen,

Die Paare drehn, die Paare dampfen,

Beim Liesel hüpft es hin und her,

Der Hiesel spannt 's und freut sich sehr.


Die rechte Hand verirrt sich schmeichelnd,

Ganz unvermerkt den Busen streichelnd,

Und Liesel duldet 's ohne Groll,

Sie schaut verwirrt und seelenvoll.


Die Tour ist aus. Die Malerinnen

Sind nun schon alle fast von Sinnen,

Die Liebe schwillt, die Sehnsucht platzt,

Daß Lippe fest auf Lippe schmatzt.


Dann eine Maß in Kellerräumen;

Man heißt den Zustand »Selig träumen«,

Wenn er ihr Bein berührt, damit

Sie ihn auf seinen Plattfuß tritt.


Schon wird sie kühn und ausgelassen

Und läßt ihn dies und jenes fassen.

Sie schmilzt in heißem Liebesdurst,

Der Ehrbegriff ist ihr schon wurst.


Und wird der Hiesel sie verstehen,

Dann kann er jetzt nach Hause gehen.

Die Welt erlebt ein Ärgernis

Mit Sündenfall und Apfelbiß.


Sie schleichen still im Morgendämmern

Durch Schwabing. Ihre Pulse hämmern,

Sie stehen schon vor seinem Haus.

Schutzengel, komm! Sonst ist es aus.


Der Engel, ach! ist ausgeblieben,

Das andre denkt euch, meine Lieben!

Im vierten Stock ein Atelier

Und bloß ein schmales Bett – adje!

Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 6, München 1968, S. 559-563.
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