Am Sylvesterabend

[710] Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige

Stehst du mit großem Stolz und Selbstgenügung

Zum zweitenmal an des Jahrhunderts Neige!

Im Vorjahr war's nur preußische Verfügung.


Civis Germanus, laß dir heute brauen

Die große Bowle voll des heißen Punsches,

Zünd eine Pfeife an; dann laß uns schauen,

Was schon erreicht, und was noch Ziel des Wunsches.


Hast du bedacht und hast du wohl erwogen?

Auf deiner Stirn trägst du den Weltmachtsstempel,

Du hast jetzt Ruhm und Ehre eingesogen

Wie früher Schnaps und Wein und andern Plempel.


Die deutsche Fahne weht in fernen Zonen;

Graf Waldersee befehligt die Paraden.

Dir kosten sie zweihundert Millionen

Und den Ministern billige Tiraden.


Moderner Hunne, laß uns darauf prosten,

Es lebe Blücher, Waldersee und Wrangel!

Du siehst die Taten, die dich soviel kosten,

Dafür im Biograph, im Tingeltangel.


Du siehst die schönen Bilder in der »Woche«,

Kann auch die Zeitung keine Taten melden;

In dieser groß gearteten Epoche

Macht nicht die Tat, das Lichtbild macht den Helden.


Ja, deutscher Spieß, du wirst zur Zeit bewundert.

Von deinem Mute ist man hingerissen,

Man rühmt es noch im kommenden Jahrhundert,

Wie ihr den alten Krüger rausgeschmissen.


Laß das erhabne Bild uns noch ergänzen,

Es zeigt dir deutlich, was wir jetzt erleben,[711]

Daß wir auch innen, nicht bloß außen glänzen.

Es muß nicht gleich wo solche Lumpen geben.


Stoß an mit mir und laß dein Glas erklingen,

Das Jahr ist um; ein Scheidegruß dem alten!

Das neue wird uns viele Reden bringen,

Nur du, mein Lieber, hast das Maul zu halten.

Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 6, München 1968, S. 710-712.
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