Assessorchen

[661] Ein Bezirksamtsassessorchen, nicht wahr?

Schreibt mit krummen Fingern das ganze Jahr;

Sein Horizöntchen – na ja, ihr wißt,

Wie ein Assessorhorizöntchen ist.

Zuerst der Komment, dann Examennot,

Dann die Sorge um das tägliche Brot,

Die eigene Meinung bänglich versteckt

Und immer korrekt – und immer korrekt.

Ein bißchen Angst und ein bißchen Schiß

Vor jedem Karrierehindernis.

Sich kümmerlich kümmern den ganzen Tag,

Ob der Vorgesetzte ihn leiden mag,

Und ob er ihn endlich qualifiziert,

Daß Assessorchen ein Amtmännchen wird!

Da habt ihr das ganze Konglomerat,

Da habt ihr so ziemlich den ganzen Salat

Gemischten Inhalts im kleinen Gehirn

Hinter der hohen Assessorstirn.

Doch wenn ihr glaubt, so ein Herrchen wird

Nur für den spätren Dienst präpariert

Und hat ein Ämtchen von kleinem Gewicht,[661]

Ihr Herren, da irrt ihr, so ist es nicht.

Trotz Horizöntchen – ei hört doch nur!

Assessorchen hat die Pressezensur!

Beschnüffelt, verbietet und konfisziert,

Bestimmt höchstselbst, was gelesen wird,

Bewacht als ein treuer Gewissensrat

Gesellschaft, Kirche und unsern Staat.

Ja, ja, ihr Leute! Und wenn euch bangt,

Daß sein Gehirnchen dafür nicht langt,

So sollt ihr denken: »Dem Vaterland

Ist wenig geholfen mit viel Verstand,

Gesinnungstüchtig, so voll und ganz,

Ist immer nur eines – die Ignoranz.«

Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 6, München 1968, S. 661-662.
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