Erziehung zur Kunst

[690] Welch ein Leben, welch ein reges Treiben

Herrscht doch in Florenzens Galerien!

Weil hieher ja alle bessern Klassen

Aus dem nördlichen Europa ziehen.


Männer, die daheim in dem Berufe

Keine Zeit und keine Muße haben,

Müssen hier an ungewohnten Schätzen

Ihre ungewohnte Bildung laben.


Mütter, die der Häuslichkeit sich widmen

Und die Strümpfe ihrer Söhne stopfen,

Sind verpflichtet, ihr Gehirn mit Dingen,

Die sie bald vergessen, vollzupfropfen.
[690]

Seht die Guten mit erhitzten Wangen

Durch die lange Flucht der Säle eilen!

Länger nicht, als höchstens zwei Sekunden

Dürfen sie vor einem Bilde weilen.


»Halt! Das müssen wir genau betrachten«,

Spricht der Vater, »denn bedenkt, wir stehen

Offenbar vor einem Meisterwerke,

Mit zwei Kreuzen ist's im Buch versehen.«


Leere Augen glotzen, es ertönen

Ah! und Oh!'s vermischt mit Prädikaten,

Und sie stürzen fort in andre Säle

Von dem treuen Baedeker beraten.


Müde kehren wieder sie zur Heimat,

Wo sie die Erinnerung genießen.

Und wir sehen überall die Früchte

Der erworb'nen Bildung reichlich sprießen.

Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 6, München 1968, S. 690-691.
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