Nutzen des Reisens

[649] Man soll vom Hause sich entfernen,

Um in der Fremde neu zu lernen.

Mit off'nen Augen, frischem Sinn

Schöpft jeder Reisende Gewinn.


Ist dir im Kleinen wie im Großen

Gar manches seltsam aufgestoßen,

Beacht es wohl! Veracht es nie!

Und suche das »Warum« und »Wie«!


Du gehst ins Land der Italiener.

Da siehst du bald, wie der und jener

Mit Lächeln an der Ecke steht

Und seine Notdurft hier begeht.


Nun also, diese Menschlichkeiten,

Die uns Beschwerden oft bereiten,

Der mühsam unterdrückte Drang

Vollzieht sich hierorts ohne Zwang.
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Auch dieser Vorgang kann belehren

Und unsern Wissenskreis vermehren,

Wenn man das Typische daran

Mit Klugheit unterscheiden kann.


Zwar läßt sich die Behauptung wagen:

Die Art, das Wasser abzuschlagen,

Bleibt immer gleich, und nur das »Wo«

Ist unterschiedlich, so und so.


Jedoch man urteilt oberflächlich,

Erachtet man dies nebensächlich.

Der Denkende sieht die Kultur

In der Befolgung der Natur.


Ihm ist es auch kulturgeschichtlich;

Der Vorgang macht es ihm ersichtlich.

Er weiß jetzt und durchschaut es tief:

»Das Volk des Südens ist naiv.«

Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 6, München 1968, S. 649-650.
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