Die Erscheinung

[192] Denkend und noch die Gestalten ordnend,

Die vom alten Pergament mir hell

Entgegen leuchteten,

Im Sinnen über Wittich und Hildebrand,

Etzels Hofhalt im Geiste schauend

Erheb' ich auf der Engelsbrücke

Das Auge wieder zum Licht:

Und neben mir wandelt zart und leicht

Das liebliche Traumbild meiner frühen Jugend,

Ganz leiblich, die Zwillingsgestalt

Der ersten Sehnsucht der Liebe.

Auch der Blick ist es, die Wange,

Dasselbe Erröthen, der Schritt,

Jetzt anreden möcht' ich sie,

Jetzt zag' ich wieder und wähne

Nur das Gebild des Schlummers zu sehn.
[193]

Stumm, wie der Genius mit uns geht,

Schreit' ich entzückt neben ihr hin,

Die kleine Thür' in steinerner alter Hütte

Empfängt sie verschließend.


Oft bin ich wieder vorüber gewandelt,

Doch niemals ist sie mir erschienen,

Und wie ein Zauberschloß

Steht das kleine Haus mit seiner Treppe da,

Und niemals schaut aus seinen engen Fenstern,

Und niemals zeigt sich vor der kleinen Thür

Ein Menschenantlitz.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 3, Heidelberg 1967, S. 192-194.
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