1. Adriano an Francesco

[591] Florenz.


Schon seit ich von Rom entfernt bin, wollte ich Ihnen schreiben, ja ich wollte Sie schon vor meiner Abreise einmal mündlich sprechen, allein eine gewisse Blödigkeit hielt mich immer davon zurück. Ich bin wirklich darin unglücklich, daß ich meinem Verstande den übrigen Menschen gegenüber zu wenig zutraue, ich muß erst in einen gewissen Enthusiasmus gebracht werden, und dann traue ich meinen Überzeugungen vielleicht wieder zu viel: wenn ich also bis jetzt gegen Sie zurückhaltend war, so schieben Sie es allein auf diese Unentschlossenheit, auf kein Mißtrauen, das ich wahrlich gegen Sie am wenigsten kenne.

Andrea hat mir geschrieben, und sein Brief ist ein Beweis seines Unwillens darüber, daß ich Rom verlassen habe; und dennoch, was kann ihm an mir liegen, da er andre Freunde hat, mit denen er öfter und lieber umgeht?

Seit einem Jahre kenne ich Sie und Andrea, und ich hielt im Anfange Andreas Bekanntschaft für das höchste Glück meines Lebens. Er gab meinem Geiste eine gewisse enthusiastische Richtung, die ich bis dahin noch nicht gekannt hatte. Meine Seele ward durch ihn für mündig erklärt, und sie erschrak im ersten Augenblicke über das große Vermögen, das ihr jetzt plötzlich zu Gebote stand, und eben dieses Erschrecken war die Ursache, daß ich es viel zu hoch anschlug; ich hatte viel gewonnen, aber doch noch nicht die Kunst, mich selbst zu beobachten und richtig zu schätzen. Andrea nahm mir Vorurteile und Irrtümer; ich hatte vieles bis dahin angenommen, ohne je darüber gedacht zu haben, meine eigene Seele war mir gleichsam fremd geblieben, ich hatte das große Feld des Denkens nicht gekannt, und auch keine Sehnsucht nach dieser Bekanntschaft gefühlt. Andrea lehrte mich die große Kunst, alles auf mich selbst zu beziehn und so die ganze Natur meinem Innern näherzurücken. Wie hab ich diesen Mann[591] damals verehrt! mit welcher Liebe habe ich in der ersten Zeit an ihm gehangen!

Nicht, daß ich ihn nicht noch jetzt achtete, aber meine ehemalige Liebe hat er verloren. Er hat oft über mich gespottet, daß ich mit meinem Verstande immer nur gradeaus will, und alle Gedanken rechts und links am Wege liegenlasse, er hat mir immer eine gewisse Einfalt zugesprochen, und ich weiß, daß mich sein Scherz nie erbittert hat, denn er hatte vollkommen recht: es fehlt meinem Geiste jene Fähigkeit gänzlich, durch das ganze Gebiet verwandter Gedanken zu streifen, eine Überzeugung zu finden, und gegenüber den Zweifel dazu zu suchen, alle Kombinationen zu ahnden und sie dann mit dem Scharfsinne wirklich zu entdecken, mit den Analogien zu spielen, und die entfernteste kühn mit der ersten zu verbinden; mein Blick ist beschränkt, die Natur hat mir wie einem Zugpferde die Augen zu beiden Seiten bedeckt, und ich kann immer nur die gebahnte Straße vor mir sehen. Dränge mein Blick in die ungeheuren Abgründe der Zweifelsucht, die neben meinem Wege liegen, und sähe er seitwärts die unübersteiglichen Gebirge, so würde ich vielleicht scheu werden, und mein wilder Geist über unebene Wege mit mir davonrennen, um sich in die Abgründe zu stürzen.

Ich fand daher die Zweifelsucht, als die erste Veranlassung des Denkens sehr ehrwürdig, aber ich erschrak vor dem Gedanken immer nur zweifeln zu können, keine Wahrheit, keine Überzeugung aus dem großen Chaos der kämpfenden Gedanken zu erringen. Wenn der Geist zweifeln muß und sich auf dieses Bedürfnis die wahre Verehrung des Skeptizismus gründet, so verlangt eben dieser Geist auch endlich einen Ruhepunkt, eine Überzeugung, und ich kann also darauf auch die Notwendigkeit der Überzeugungen gründen.

Sollten wir denn auch die trostvolle Aussicht haben, unser Leben hindurch zu denken, Gedanken gegen Gedanken und Zweifel gegen Zweifel unaufhörlich abzuwägen, indes die Waage ewig in einem ermüdenden Gleichgewichte steht? Sollte unser Geist nur immer die Reihe von Gedanken wie bunte Bilder mustern, ohne sich selbst in einem einzigen zu erkennen?

Als die Zeit vorüber war, in der mich meine Eitelkeit vorzüglich an Andrea knüpfte, glaubte ich doch in ihm selbst eine gewisse Unvollendung zu entdecken, die Sucht, mehr durch seine Gedanken zu glänzen und zu erschrecken, als die Wahrheit und das letzte Bedürfnis der Seele zu suchen. Er verachtet die übrigen Menschen so wie sich selbst, ihm ist daher nichts in seinem[592] Innern ehrwürdig, er spielt mit den Menschen nur so wie mit seinen Gedanken, er ist nichts als ein gefährlicher philosophischer Scharlatan, bei dem ein witziger Einfall und ein scharfsinniger und großer Gedanke einerlei ist, der sich selbst bis auf den Grund zu kennen glaubt, indem er nur seine Fähigkeiten und Anlagen bemerkt hat. Er ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Skizze zu einer kolossalischen Figur, aber die Vollendung, die Verteilung des Lichtes und Schattens fehlt ihm gänzlich.

Ich glaube, daß Sie mich kennen und daß Sie es mir zutrauen, wie gern ich mich unter den größern Fähigkeiten einer höhern Seele beuge; ich werde mich nie darüber wundern, wenn ein Freund eine Gefälligkeit von mir und Nachsicht gegen seine Meinungen verlangt, denn es werden sich Gelegenheiten finden, wo ich von ihm dasselbe fordre; – aber welcher Freund wird den andern tyrannisieren wollen, wie es Andrea unaufhörlich tat? Hielt er uns nicht alle wie ein Heer von Dienern, die auf alles schwören mußten, was er sagte, die bestimmt waren, ihm in den wunderlichsten und seltsamsten Grillen nachzugeben? Ja, ist es Ihnen nie eingefallen, daß er uns nicht vielleicht zu noch schlimmeren Absichten gemißbraucht hat? – O gewiß, nur waren Sie zu gutmütig, den Argwohn in sich deutlich werden zu lassen und meine Zurückhaltung veranlaßte die Ihrige.

Wozu waren jene seltsamen nächtlichen Versammlungen, in denen er uns in eine gewaltsame Spannung zu versetzen suchte? Ich war Tor genug, einigemal dort mit Heftigkeit zu deklamieren, um von einer Schar von Dummköpfen bewundert zu werden, die bei Andrea in der verächtlichsten Knechtschaft stehen. – Aus welchen Ursachen kettete Andrea den jungen Lovell so fest an sich? Wozu jene Gaukeleien und Erscheinungen, von denen Sie doch so wenig wie ich werden hintergangen sein, und die den jungen Engländer fast wahnsinnig machten? Ich stand seitwärts und zum ersten Male schlich ein verachtender Widerwille gegen Andrea in mein Herz. – Wozu Lovells geheimnisvolle Abreise? – Was will er mit diesem jungen Menschen, und warum muß er uns als mittelbare Maschinen brauchen, seine Plane, seien sie auch welche sie wollen, durchzusetzen?

Alle diese Gedanken fielen mir schon seit lange ein, aber ich traute mir selber nicht. Ich hatte Andrea sonst so sehr verehrt, daß ich es für wahrscheinlicher hielt, daß ich seine Größe nicht begreifen könne, als daß er nicht ganz groß sein sollte: aber seit ich hier in einem ruhigern Leben und unter einfachern und einfältigern Menschen bin, kömmt mir alles von Rom aus so seltsam[593] wie ein Traum vor. Andrea erscheint mir in einem andern Lichte und alles, was sonst in mir nur ferne, leise Ahndung war, ist nun zur Gewißheit geworden. Aus diesem Grunde werde ich nicht nach Rom zurückkehren, um mich nach und nach dem Andrea und seinen Gesellschaftern fremd zu machen; denn mögen Sie es Einfalt nennen oder wie Sie wollen, ich habe jetzt vor ihm und seinen Meinungen eine gewisse Scheu; ich möchte mein Herz und meinen Verstand beruhigen, und er würde alles anwenden, um beides zu zerstören. Ich könnte leicht durch neue Wendungen zu einer vielleicht noch schlimmern Verehrung hingerissen werden, wer weiß, welche Schwächen er noch in mir entdeckte, die er zu seinem Vorteile nützen könnte! – Freilich ist es etwas Törichtes, sich vor sich selber und vor etwas, das man noch nicht kennt, zu fürchten, aber vieles Törichte ist sehr menschlich, das fühl ich und vielleicht eben darum gut, und deswegen will ich nach diesem Gefühle handeln. Ich bin nicht leichtsinnig genug, um ein Rosa, und nicht Enthusiast genug, um ein Lovell zu werden, und beide sind vielleicht schon sehr unglücklich.

Sagen Sie mir über meinen Brief Ihre aufrichtige Meinung.

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 591-594.
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