10. Rosa an William Lovell

[488] Tivoli.


Manche Ihrer Gedanken über Andrea sind mir aus der Seele geschrieben, in seiner Gegenwart fühle ich mich immer wie in der Nähe eines Überirdischen. Auch manches ist mir begegnet, was ich mir auf keine Art zu erklären weiß. Als ich neulich mit ihm hier in Tivoli war, waren wir fast täglich zusammen und unser Gespräch fiel vorzüglich auf den Aberglauben und die wunderbare Welt, vor der unser Geist so oft steht, und dringend Einlaß begehrt. Meine Phantasie ward mit jedem Tage mehr erhitzt, alle meine bisherigen Zweifel verloren immer mehr von ihrem Gewicht; Sie können sich vorstellen, welchen seltsamen Eindruck Ihre Briefe damals auf mich machen mußten, in denen Sie immer mit so vielem Eifer von Rosalinen sprachen. An einem schönen Abende schweiften wir vor den Toren umher, unsre Gespräche wurden immer ernsthafter und ich vergaß es darüber ganz, zur engen unangenehmen Stadt zurückzukehren. Es war indes dunkle Nacht geworden und wir trennten uns. Alle meine Begriffe waren verwirrt, die Finsternis ward noch dichter und ich näherte mich, wie es schien, immer noch nicht der Stadt. Ich versuchte einen neuen Weg, weil ich glaubte, ich habe mich verirrt, und so ward ich immer ungewisser. Die Einsamkeit und die Totenstille umher erregte mir eine gewisse Bangigkeit; ich strengte mein Auge noch mehr an, um ein Licht von der Stadt[488] her zu entdecken, aber vergebens. Endlich bemerkt ich, daß ich einen Hügel hinanstiege und nach einiger Zeit befand ich mich oben, neben der Kirche des heiligen Georgs. Der Wind zitterte in den Fenstern und pfiff durch die gegenüberliegenden Ruinen, ich glaubte in der Kirche gehn zu hören und ich irrte mich nicht; mit hallenden Tritten kamen zwei unbekannte Männer aus dem Gewölbe und fragten mich, was ich suche. Ihre unbekannte Gestalt, der feierliche Ton ihrer Stimme und eine kleine Blendlaterne, die nur mich und den einen von ihnen beleuchtete, machte mich schaudern. Ich fragte furchtsam nach dem Wege zur Stadt, und der eine von ihnen erbot sich, mich bis an das Tor zu bringen, der andere versprach so lange bei der Kirche zu warten.

Die kleine Laterne erhellte sparsam unsern Weg und Bäume und Stauden glitten uns, mit einem durchsichtigen Grün bekleidet, vorüber, mein Begleiter war stumm und ich ging wie im Traume hinter ihm. Jetzt waren wir nahe am Tore und der Mann mit der Laterne stand still; wir nahmen mit wenigen Worten Abschied und ein breiter Schimmer fiel auf sein Gesicht. Ich fuhr zusammen, denn es war ganz das bleiche Antlitz einer Leiche, die Augen waren wie weit hervorgetrieben, die Lippen blaß und wie in einem Totenkrampfe verzerrt: ich glaubte ein Gespenst zu sehn, und erschrak nur noch inniger, als ich nach einigen Augenblicken die Züge Andreas erkannte. Jetzt wandte er sich um, und ging zurück, ich stand noch wie versteinert, und rief endlich laut und halb wahnsinnig: »Andrea!« – In demselben Augenblicke verschwand die Gestalt und das Licht, und betäubt und zitternd ging ich in die Stadt.

Aber wie fuhr ich zusammen, als mir Andrea vor meiner Wohnung entgegentrat und mich fragte, wo ich so lange geblieben sei. Ich konnte ihm nur wenige Worte sagen und die ganze Nacht hindurch lag ich in einem abwechselnden Fieber.

Und war es nicht eben die Gestalt unsers Andrea, mit Schrecken denke ich daran, die der unglückliche Balder so oft in den Exaltationen seiner Phantasie beschrieb? – Und doch hatte er ihn niemals gesehen. – Wer weiß, ob er mich nicht jetzt umgibt, indem ich diesen Brief schrieb, und jeden Gedanken kennt, den ich denke! –[489]

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 488-490.
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