9. William Lovell an Rosa

[487] Rom.


Wenn ich Andrea oft betrachte und mich stumm in Gedanken verliere, so möcht ich ihn in manchen Stunden für ein fremdes, übermenschliches Wesen halten; ich habe mir im stillen manche wunderbare Träume ausgesponnen, die ich mich schämen würde, Ihnen mit so kaltem Blute niederzuschreiben, sosehr sie auch meine Phantasie gefangenhalten. Er begegnet oft auf eine unbegreifliche Weise meinen Schwärmereien mit einem einzigen Worte, das sie mir deutlicher macht, und in ein helleres Licht stellt.

Neulich war ich durch seine Reden in eine ungewöhnlich feierliche Stimmung versetzt, er sprach von meinem gestorbenen Vater und schilderte ihn genau nach seiner Gesichtsbildung und Sprache. Ich war gerührt und er fuhr fort, ja er sprach endlich ganz mit seinem Tone und sagte einige Worte, die sich mein Vater angewöhnt hatte, und die ich unendlich oft von ihm gehört habe. Ich fuhr auf, weil ich dachte, mein Vater sei wirklich zugegen, ich fragte ihn, ob er ihn gekannt habe und er beteuerte das Gegenteil; ich war in die Jahre meiner Kindheit entrückt und sah starr auf die Wand, um nicht in meiner Täuschung gestört zu werden. Plötzlich fuhr wie ein Blitz ein Schatten über die Wand hinweg, der ganz die Bildung meines Vaters hatte, ich erkannte ihn und er war verschwunden; seltsame Töne, wie ich sie nie gehört habe, klangen ihm nach, das ganze Gemach ward finster und der alte Andrea saß gleichgültig neben mir, als wenn er nichts bemerkt hätte.

Ein gewaltiger Schauder zog meine Seele heftig zusammen, alle meine Nerven zuckten mächtig, und mein ganzes Wesen krümmte sich erschrocken, als wenn ich unvorsichtig an die Tore einer fremden Welt geklopft hätte, und sich zu meiner Vernichtung die Flügel öffneten und tausend Gefühle auf mich einstürzten, die der gewöhnliche Mensch zu tragen zu schwach ist. – Andrea erscheint mir jetzt als ein Türhüter zu jenem unbekannten Hause, als ein Übergang alles Begreiflichen zum Unbegreiflichen. Vielleicht löst ein Aufschluß alle Rätsel in und außer uns, unser Gefühl und unsre Phantasie reichen vielleicht mit unendlichen Hebeln da hinein, wo unsre Vernunft scheu zurückzittert; am Ende verschwindet alle Täuschung, wenn wir auf einen Gipfel[487] gelangen, der der übrigen Welt die höchste und unsinnigste Täuschung scheint. Balder kömmt mit seinen Erscheinungen in meine Seele zurück – o Rosa, was ist Unsinn und was Vernunft? Alles Sichtbare hängt wie Teppiche mit gaukelnden Farben und nachgeahmten Figuren um uns her; was dahinter liegt, wissen wir nicht, und wir nennen den Raum, den wir für leer halten, das Gebiet der Träume und der Schwärmerei, keiner wagt den dreisten Schritt näher, um die Tapeten wegzuheben, hinter die Kulissen zu blicken und das Kunstwerk der äußern Sinne so zu zerstören – aber wenn – o Rosa, nein ich schwindele, es ist mir innerlich alles so deutlich und ich kann keine Worte finden; aber ich mag sie auch nicht suchen. Sie werden ebenfalls diese Gefühle kennen und mir alles übrige erlassen.

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 487-488.
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