Fünfter Gesang

[323] Im Menschen ist das Ziel des Menschen, der Grund seiner höheren Hoffnungen aufzusuchen. In ihm finden wir, wir mögen ihn in seiner Erhebung oder in seinem Falle beobachten, eine gewisse Kraft, die auf das Bestimmtwerden seines Strebens einen bedeutenden Einfluß äußert. Zugleich wirken auf sein Gemüt Triebe, die auf sinnlichen Genuß sich beziehen. Aus dieser Verknüpfung zweier, einander widerstreitender, Naturen tritt eine rätselhafte Erscheinung, aus ihrer friedlichen Vereinigung aber hohe, idealische Vollkommenheit des Individuums hervor. Jene Kraft, im höheren Grade ihrer Beharrlichkeit, giebt der Wirksamkeit des Menschen einen Schwung, der selbst in seiner verderblichsten Richtung den Beobachter zum Erstaunen fortreißt; das Große darin hält ihn fest. Diese Kraft nun, von einer edleren, wohlthätigen Zweckmäßigkeit geleitet, stellt eine Hoheit auf, die wir mit Entzücken bewundern: sie führt das hohe Bild der Tugend vor die Seele. Da erst, als die Menschheit das Zeitalter der kindlichen Einfalt und Unschuld überlebt hatte, begann das Bedürfnis der Tugend und ihrer tröstenden Hoffnung dringender zu werden.

Das Urbild ihrer höchsten Vollendung steht nun dem engen Zeitinhalt unsers Erdenlebens gegenüber, welches die Möglichkeit ausschließt, jenes zu erreichen; die Vernunft ist also genötigt, eine Fortsetzung unsers Daseins anzunehmen. Der Glaube an dies Fortschreiten des Lebens dringt sich uns unwiderstehlich auf, wenn wir die Unschuld leiden sehen. Die Stimme eines innern Gerichts fordert Gerechtigkeit für sie. Diese innere Stimme, die den Frevel verdammt, und die Unschuld in Schutz nimmt, legt eben dadurch ein Glaubensbekenntnis für ein höheres Leben ab, und das Entzücken, welches eine Edelthat in das beobachtende Gemüt zurückwirft, ist ein Vorgenuß jenes höheren Daseins: oder der Mensch ist zur Lüge geboren, zum Widerspruche mit sich selbst. Unendlich erhaben ist die Bestimmung des Menschen. Ein inneres Gesetz, ein Beruf von Hoheit und Würde ist die Jüngerweihe für ein höheres Sein, das Unterpfand eines Himmels, der Erhebung gebietet. Brutus schmähet die Tugend, weil sie Rom ihm nicht erretten half; allein ihr Reich, ihr Friede[324] ist nicht von dieser Welt. Der Gang der Natur schreitet in den Grenzen der Notwendigkeit fort. Es ist die Aufgabe der höheren Natur des Menschen, im Kampfe mit der sinnlichen, ihre Vollendung mehr zu entwickeln, und in sich und durch sich selbst zu sein. Aus diesem Kampfe geht die geübtere Kraft des bessern Willens glorreich hervor. Der edle Garve verdiente hier wohl, zum Beispiele zu dienen. Während der schmerzvollsten Krankheit, die seinen Tod herbeiführte, und unter Geduld erschöpfenden Qualen schrieb er die schöne Abhandlung über die Geduld, mit einer Kraft, die den edlen Mann so hoch über physische Gewalten erhebt.

In eben dem Maße, wie die Kraft eines würdigen Strebens den Edeln erhebt, wirkt diese Kraft niederschlagend auf das Gemüt des Sünders. Wenn längst aus einem Leben die Tugend entfloh: sie läßt darin eine strahlende Erinnerung zurück; sie ist zu sehr Bedingung des innern Daseins, daß beide: die Heuchelei und die Reue, sich gedrungen fühlen, ihr Huldigungen darzubringen.

Die seltsamen Erscheinungen der Furcht eines strafenden Bewußtseins, sind der Tugend heilige Ahnungen, die im edlern Gemüte zu Himmelsgeistern werden, im Blick der Unschuld uns anleuchten, und Licht und Frieden um gute Menschen verbreiten. Dies Morgenrot eines höheren Lebens strahlte heller an Hehras schöner Seele hervor, im Gegensatze mit einem Gemüte, welches den hohen Ernst des Lebens unter reizenden Täuschungen verliert; aber die Stimme des Bewußtseins schweigt nicht, bestimmt ist sie, als eine warnende und strafende Nemesis unsere Führerin zu sein durch das Leben. Oft läßt sie sich in einem großen Beispiele der siegenden Kraft vernehmen. Christus stellt in der furchtbaren Erhabenheit seines Lebens ein solches Beispiel auf.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 135, Stuttgart [o.J.], S. 323-325.
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