Sechster Gesang

[342] Es waltet demnach eine zweifache Natur im Menschen; und in dieser Beziehung lebt er für zwei Welten: für die Sinnenwelt und für die Geisterwelt. In jener entwickelt er sich als Naturwesen; in dieser reift er durch sittliche Freiheit zur sittlichen Freiheit. In jener ist er leidend; in dieser gilt seine That.

Daß er mit einer Kraft zu freierer That ausgerüstet sei, beweiset im allgemeinen seine Fähigkeit, dem Zusammenleben und den Wechselverhältnissen seiner Gattung eine Verfassung zu geben. Roms Freiheit ging aus der Freiheit des Römers, nicht diese aus jener, hervor; und mit dieser sank jene darnieder. Die neuesten Erscheinungen einer blutigen Anstrengung menschlicher Kräfte deuten mächtig den innern Freiheitssinn an; sie offenbaren aber auch zugleich den Mißbrauch seiner Kraft, die sich von Leidenschaften fortreißen läßt. Der Abfall in die Gewalt der Leidenschaft setzet die Freiheit voraus. Wie weit wir in der Geschichte umherschauen mögen: wir finden uns überall in einem Gedränge schaudervoller, von niedern Antrieben herbeigestürmter, Begebenheiten. Und dennoch empört uns das Gewöhnliche; und doch träumen wir von dem, was unerreichbar ist. Aber hierin vernehmen wir die Stimme der gebietenden Vernunft, die uns zur sittlichen Freiheit beruft, und im innersten Bewußtsein uns auffordert: das unverbrüchlich zu thun, was recht ist. Der römische Augustus, und Philipp von Spanien, der sehr lebhaft an den Tyrannen der neuesten Zeit erinnert, waren beide mehr oder minder glückliche Völkerunterdrücker, beide aber auch zugleich verbrecherische Sklaven ihrer Herrschbegierde. Arm und niedrig, ob sie auch einen Thron erränge, ist die List: erhaben und reich die Weisheit, oder das, dem Drange niedriger Antriebe widerstehende, freie Gemüt. Nur dieser Freiheitssinn ist vervollkommnungsfähig. Besonders im Kampfe mit den Widerwärtigkeiten des Lebens, wo Versuchungen reizen, und rauhe Begegnisse schrecken, bewährt sich diese Freiheit. Man denke sie sich aus dem Wesen des Menschen hinweg: so erscheinet in ihm ein Geschöpf, welches nicht ein Rätsel, sondern ein Widerspruch ist mit sich selbst. Von den Forderungen[343] der Tugend darf keine Rede mehr sein, und der Mensch tritt in dieser Vorstellung auf eine Tierstufe herab, wo der Instinkt ihm entzogen ist, der doch dem Tiere zugute kommt. Das Tier irrt nie, gleich dem Menschen, der, von Außendingen und innern Anregungen gedrängt, hin und her schwanket: ein Schwanken, welches sich in seinen bessern Entschlüssen, wie in seinen Mißwahlen, offenbaret.

Sein Dasein ist ihm in seine Hände gegeben: er kann es von sich werfen – ob er es solle: ist eine andere Frage, deren Erörterung nicht hierher gehört – er kann es, weil er Mensch, weil er frei ist. Eine Thatsache der höhern Freiheit ist der Sieg, der für die Sache des Rechtes über die stärksten Naturgefühle, und selbst über den mächtigen Lebenstrieb errungen wird. Die mit der Vernunft in Einstimmung gebrachten sinnlichen Neigungen sind eine liebliche Begleitung unsers Wandels: aus dieser Eintracht allein tritt das wahre Leben, das Leben der Freiheit hervor, welches nicht gänzlich untergehen kann; seines Daseins Spuren mögen im Gemüte unterdrückt, aber nie vertilgt werden: sie kommen in den Augenblicken der zurückgewonnenen Ruhe wieder zum Vorschein. Von der Höhe der Geistesfreiheit herab, wie klein, wie nichtig erscheint aller Prunk der Zufälligkeiten des Lebens! Diese Freiheit ist es, die den Menschen, wenn er, den erhabensten Auftritten der Natur gegenüber, wie in ein Nichts sich verliert, kräftig erhebt. Erhebung ist das Wesen der Vernunft; und so wirft sie einen Siegerblick auf das sinkende Dasein zurück, und umfaßt ihren Glauben, der die Tugend zum höheren, freieren Dasein hinübergeleitet.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 135, Stuttgart [o.J.], S. 342-344.
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